Kiirion wälzte sich schreiend auf dem Boden.
„Was passiert hier?“ Yodda war versucht, an Kiirions Seite zu rennen und ihm im Kampf gegen was auch immer zur Seite zu stehen. Ihr Herz schlug immer noch höher, wenn sie ihn sah, auch nach den ganzen Jahren.
Dann brach der Schrei ab. Kiirion kauerte da, die Knie und Ellbogen auf dem Boden. Langsam richtete er den Oberkörper auf, schwer atmend, doch mit einem Grinsen im Gesicht. Im nächsten Moment warf er den Oberkörper zurück, breitete die Arme aus und schrie wieder, die Freunde konnten eindrucksvoll beobachten, wie sich seine Rippen unter dem Hemd bewegten, wie seine Knochen ihre Form änderten. Kiirion wuchs an, Fell spross auf seinem Körper, die Kleidung zerriss. Der große Werwolf, der sich nun erhob, hatte einen Pelz in der blaugrünen Farbe von Kiirions Haar.
„Er wurde gebissen?“, stammelte Kat. Ihre Schwertspitze zitterte.
Der Werwolf richtete sich auf die krummen Hinterbeine auf und öffnete die Augen, das eine blind, das andere lindgrün. Noch immer lindgrün. Yodda tastete nach der Flöte um ihren Hals und umklammerte das Amulett. Es konnte sie vor magischen Angriffen schützen, doch nicht vor einem rasenden Werwolf.
Kiirion jedoch war nicht rasend. Er sah sie an und begann dann, mit kehliger Stimme zu sprechen. „Nylian – das ist deine letzte Gelegenheit. Schließ' dich mir an. Hilf mir. Lass uns gemeinsam herrschen, Bruder!“
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Es war unverkennbar Kiirions Stimme, diese Stimme, die er drei Jahre lang vermisst hatte. Doch Kiirion sprach undeutlich durch die großen Wolfszähne. Nylian sah auf das Amulett um seinen Hals, Kiirions Amulett.
Es war ein Augapfel, versteinert, doch unverkennbar von Kiirons lindgrüner Farbe. Übelkeit überkam ihn.
„Gib mir mein Amulett. Bitte.“ Kiirion sah ihn traurig an. „Ich will dich nicht töten müssen.“
„Dann gib auf!“, antwortete Nylian. Der Gedanke, gegen seinen Bruder zu kämpfen, war entsetzlich.
„Ich kann nicht aufgeben! Zu viele verlassen sich auf mich! Colum verlässt sich auf mich.“
„Colum ist tot!“, sagte Yodda.
Kiirion erstarrte. „Und die Truhe?!“
„Ist in Sicherheit“, sagte Nylian. „Es ist vorbei, Kiirion. Hör auf mit dem Wahnsinn. Komm nach Hause!“
„Das ist kein Wahnsinn.“ Kiirions Stimme wurde zu einem dumpfen Grollen. „Wieso wollt ihr das nicht sehen? Ich will helfen!“
Er machte einige Schritte auf sie zu. Kaithryn und Yodda rückten von beiden Seiten dicht an Nylian heran.
„Du hilfst niemandem damit, dass du unzählige Unschuldige tötest!“, beschwor Nylian seinen Bruder. „Wenn überhaupt, wird es den Hass auf Tiermenschen und Monster doch nur verstärken!“
Kiirion knurrte wütend. „Es sind keine Monster! Sie sind Nachtwesen. Sie haben ein Recht auf ihre Freiheit.“
„Aber kein Recht, uns dafür unser Leben zu nehmen!“, widersprach Nylian.
Kiirion richtete sich auf und schnaubte laut. „Das ist also deine Entscheidung?“ Seine Stimme war ruhig geworden. In seinen Augen lag nur noch Kälte. „Ich bin nicht so weit gegangen, um jetzt aufzugeben.“
Statt direkt anzugreifen, wandte sich Kiirion jedoch an die Dämonen, die sie umringten. „Ich werde einen anderen Weg finden, die Truhe zu öffnen und eure Familien zu befreien! Und dann werde ich Dunkelheit über Lirhajn legen, damit die Nachtwesen fortan Frieden haben können!“
Zustimmendes Geheul erhob sich: Von den Dämonen und auch von zahlreichen Werwölfen und Vampiren, die sich noch im Turm verbargen. Offenbar hatten sie die Verwirrung überwunden und ihrem Kampf beigelegt.
„Was sollen wir nur tun?“, flüsterte Yodda ängstlich.
„Fliehen, das wäre jedenfalls mein Rat“, antwortet Izcun, der hinter ihnen stand.
„Das können wir nicht tun!“, sagte Nylian entschlossen.
Kat sah ihn an. „Nimm meine Hand!“
Nylian, Yodda und Kat verschränkten ihre Finger ineinander. Nylian spürte eine seltsame Wärme, die von Kats Hand ausging, seinen Arm hinaufkroch und ihn dann wie mit Honig überzog. Eine seltsame Euphorie erfüllte ihn.
Dann spürte er plötzlich einen Herzschlag, der nicht sein eigener war, aber im gleichen Rhythmus pochte.
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Kat weitete den Schutz von Cirdrims Amulett auf Nylian und Yodda aus. Bald konnte sie den Herzschlag ihrer Freunde spüren, drei Rhythmen, die sich einander anpassten und zu einem wurden. Die unsichtbaren Schutzwände pulsierten vor Macht. Langsam wurde eine Blase aus hellem Licht um sie herum sichtbar.
Das Licht spiegelte sich auch in Kiirions Auge. Mit gebleckten Lefzen kam das Mischwesen auf sie zu: Ein Elf, Werwolf und Vampir, mit der magischen Kraft, die ihm Dämonen im Austausch für sein Auge verliehen hatten. Der Schutzzauber verdichtete sich zu gleißendem Licht.
„Keinen Schritt näher“, sagte Kat mit ruhiger Stimme.
Kiirion jedoch beherrschte eigene Magie, auch ohne sein Amulett war er mächtig. Schwarze Schatten zogen sich um seine Gestalt zusammen, dunkel und brodelnd. Sie zogen lange Schlieren, die sich wie Stacheln in alle Richtungen ausbreiteten und knisternd Funken sprühten, wenn sie auf die Oberfläche der goldenen Blase trafen.
Kat verstärkte den Griff ihrer Hand um Nylians. Sie spürte kleine Hände, die sich hinten an ihr Hemd klammerten – Aoi, die sich wieder in ein Mädchen verwandelt hatte.
Kiirion öffnete das Maul und brüllte. Nylian erwiderte den Lärm mit einem Schrei, Kat und Yodda fielen mit ein. Dann sprengte der Werwolf vorwärts, mit der Geschwindigkeit eines Vampirs. Eine Wolke von Dämonen folgte ihm.
Sie wichen nicht zurück. Kat, Nylian und Yodda blieben stehen, dann prallte Kiirion gegen sie.
Die Explosion riss Kat von den Füßen. Sie verlor den Halt zu Nylians Hand und schlug hart auf dem Boden auf. Hitze wallte ihr entgegen. Instinktiv rollte sie sich zusammen und umklammerte das Amulett, Yrsa Cirdrims Amulett, mit beiden Händen.
Als der Rauch sich lichtete, öffnete sie hustend und würgend die Augen. Die Turmspitze erschien leer. Die Dämonen waren verschwunden.
Kat sprang auf, schwankte und musste sich an den Zinnen abstützen.
„Nylian! Yodda!“, rief sie. „Aoi!“
Doch von ihren Freunden war keine Spur zu sehen, der Wind wehte dichte Schwaden von Asche über den Boden. „Izcun! Azmaek!“
Ein dunkler Berg erhob sich, kräftig wie ein Bär und groß wie ein Pferd. Er schüttelte das zottige Fell. Asche rieselte zu Boden. Das Fell darunter war hellgrün.
Kiirion drehte den Kopf langsam zu Kaithryn um. Das Fell im Gesicht war verbrannt, blutiges Fleisch war darunter zum Vorschein gekommen. Er zog die Lippen zurück und entblößte die Zähne, die hell und weiß schimmerten.
Ein Stöhnen neben Kat. Sie sah zur Seite und entdeckte Nylian, dessen Gestalt sich aus der Asche schälte. Neben ihm lag Yodda, Izcun hatte sie in seine Arme genommen, um sie vor der Explosion zu schützen.
Kiirion kam näher.
„Steht auf, schnell!“, keuchte Kat. Sie wollte einen Schritt machen, aber ihre Beine gaben nach, kaum, dass sie sich nicht mehr an die Mauer lehnte. Das Schwert fiel ihr aus den Fingern. Kiirion grinste breit.
„Ihr könnt mich nicht besiegen“, drohte Kiirion. Mit einer Pranke wischte er das Schwert zur Seite. Er ragte über ihnen auf. Kat sah ihm keuchend in das wilde Gesicht.
Kiirion richtete sich auf die Hinterbeine auf und hob die Pranken zum finalen Schlag. Da huschte ein heller Schatten vor Kat.
„Lass meine Freunde in Ruhe!“, piepste eine helle Stimme.
Kiirion ließ sich nach unten fallen und Kat warf sich über Nylian. Sie schloss die Augen, doch der erwartete Schmerz blieb aus. Stattdessen hörte sie ein Röcheln.
Vorsichtig hob sie den Blick, Nylian und Yodda ebenfalls. Kiirion kauerte vor ihnen, einen seltsamen Ausdruck im beharrten Gesicht. Überraschung, Schmerz und Trauer mischten sich ineinander, während die Wolfsfratze dem elfischen Gesicht von Nylians kleinem Bruder wich. Er kniete, nur mit Fetzen bekleidet, vor ihnen und hob eine Hand zur Brust. Blut sprudelte aus einer tiefen Wunde.
„Das … hatte ich nicht erwartet“, murmelte er verwundert.
Er sah hilflos zu ihnen auf, streckte wie bittend eine Hand aus. Es schien, dass er etwas sagen wollte, vielleicht rang er auch nur nach Luft. Dann fiel er nach hinten und rührte sich nicht mehr.
Vor Kat, Nylian, Yodda und Izcun kauerte ein zitterndes kleines Bündel in grauen Lumpen. Aoi drehte den Kopf und kroch zu Kat, um sich an sie zu pressen. In den Händen hielt sie Kats blutiges Schwert.
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Die Freunde saßen nebeneinander, die Rücken an die kalte Steinmauer der Zinnen gelehnt. Nylian saß in der Mitte, Kat hatte den Kopf auf seine Schulter gelegt. Auf ihrem Schoß, zugedeckt mit Kats Ärmel, lag Aoi in Gestalt einer Katze. Auf Nylians anderer Seite saßen Yodda und Izcun, er einen Arm um ihre Schulter gelegt. Kats Schutzzauber wurde bereits schwächer und ließ einzelne Tropfen durch, die auf der Haut der Vampire zischten.
Sie sprachen kein Wort. Sie rührten sich auch kaum, blinzelten nur in den stetig fallenden Regen und sahen auf Kiirions Leichnam, der ausgemergelt und dürr aussah.
Irgendwann regte sich etwas, jemand kam mit schweren Schritten auf die Mitte des Turms. Die fünf reagierten nicht.
„Die Sonne geht bald auf“, sagte Azmaek. „Der Turm ist wieder verlassen, also geht nach unten. In den Speisesaal.“
Sie gehorchten langsam, ohne ein Wort zu sagen, und trotteten die gewundene Treppe nach unten. Eine Treppe, die nicht zu enden schien, immer tiefer und tiefer hinunter.