„Räumen Sie das Sofa in das große Zimmer und den Sessel ins Arbeitszimmer im zweiten Stock. Häschen, sei so gut und nimm den Schmuck deiner Großmutter und versperr ihn wieder in meiner Kommode", flüsterte die Frau mittleren Alters ihrer Tochter den letzten Satz zu und deutete auf eine Schatulle, gehüllt in rotem Samt, welche Mila mit ins Haus nehmen sollte. Sie hatte ihre Mutter mehrere Male gehört, dass sie vermeiden wollte, dass einige Leihen ihre Wertgegenstände mitgehen lassen würden.
„Natürlich, Mutter", sagte sie leise und nickte ihrer Mutter zu, ehe sie sich zu besagter Schatulle auf den Weg machte.
Sie trug ihre kupferfarbenen Haare zu einem festen Knoten gebunden und ansonsten ein leichteres Sommerkleid. Dennoch wirkte sie viel älter, als sie war. Das war auch der Grund, warum der Mann, der diese Schatulle gerade hineintragen wollte, sie ihr mit einem: „Hier bitte, meine Dame", überreichte. Hätte er gewusst, dass sie gerade einmal sechzehn Jahre alt war, wäre er sicherlich anders mit ihr umgegangen.
„Vielen Dank", bedankte sie sich höflich, um schließlich die Schatulle an ihren angestammten Platz in der Kommode ihrer Mutter zu verstauen. Ihren Schmuck würde sie sich später holen. Er befand sich in einem kleinen Kästchen in der Schatulle ihrer Mutter.
Die Umzugskräfte lichteten sich langsam, bis sich Clarice die Hände aneinander abklopfte, als hätte sie mitgeholfen und trat hinein zu ihrer Tochter.
„Hast du schon mit deinem Vater telefoniert, Häschen?", fragte diese und trat sogleich in die Küche um zu kontrollieren, ob nicht doch ein Glas angebrochen war. Wenn es etwas gab, was diese Frau hasste, dann war es Schlampigkeit.
"Nein, Mutter. Das wollte ich erst tun, wenn alles an seinem Platz steht", erklärte Mila und sah sich um. "Ist alles nach deiner Zufriedenheit aufgestellt?"
Die Frau mit dem blassroten Haar seufzte, während sie die Hände in die Hüften stemmte.
„Nun, es ist ein Anfang, aber ich hab auch nicht Qualitatives erwartet, von daher", wank ihre Mutter ab und fuchtelte kurz mit der Hand. „Ich kann es ohnehin nicht glauben, dass wir aus der Stadt gezogen sind für... das hier", meinte die Frau mit einem Augenrollen und deutete auf ihre Umgebung. „Aber für mein Häschen und ihre Zukunft mach ich das", fügte sie dann noch hinzu, als sie Mila in die Wangen kniff. „Der Lippenstift steht dir nicht Häschen", merkte sie plötzlich unzufrieden an, als sie ihre Tochter genauer musterte.
„Ich bin dir dankbar dafür, Mutter", meinte Mila leise, auch wenn sie sich da selbst noch nicht sicher war. Aber ihre Mutter hatte sehr viel auf sich genommen, damit sie hierher ziehen konnten und sie diese besondere Schule besuchen durfte.
Langsam trat sie an den Spiegel, um sich darin zu mustern. Sie mochte diesen blassrosa Lippenstift eigentlich sehr gern, weil er nicht so aufdringlich wirkte. „Welche Farbe würdest du mir denn empfehlen?", wollte sie wissen und besah sich die kleine Sammlung an Lippenstiften, die für den Notfall im Flur stand. Falls sich am Morgen einer den Lippenstift verwischte, konnte er ihn hier noch einmal erneuern, ohne die Treppen wieder nach oben laufen zu müssen.
Der Vorteil in einem fast Frauenhaushalt. Auch wenn Milas Vater durchaus hier lebte, so war er doch aufgrund seiner Geschäftsreisen eher selten zu Hause.
Clarice trat hinter ihre Tochter und kämmte ihre Haare mit den Fingern sachte durch. „Ein sachtes Orange, dass ins Rot übergeht vielleicht. Das würde gut zu deinen Haaren passen", schlug sie vor, auch wenn Mila wusste, dass es nicht unbedingt ein Vorschlag war. Dabei hob ihre Mutter ihre Haare an und drehte sie hoch an ihren Kopf, damit eine provisorische Hochsteckfrisur entstand.
„Kannst du mir zeigen, wie man das macht?", wollte Mila leise wissen und betrachtete sich im Spiegel. Ihre kupferfarbenen Haare waren seidig glatt und gepflegt, weshalb sie auch nicht lange in dieser Frisur halten würden. Ihre Augen waren nicht ganz Braun, sondern hatten einen ähnlichen Kupferstich, wie ihre Haare. Dadurch, dass sie sich regelmäßig mit Cremes um ihr Gesicht kümmerte, war es auch sehr frei von Pickeln, oder anderen Anzeichen der Pubertät. Und wenn doch etwas auftrat, hatte ihre Mutter immer die perfekten Schminktipps für sie.
„Ein andermal vielleicht. Kümmer dich jetzt erstmal um dein Gesicht", wies ihre Mutter sie an und drückte ein Feuchtigkeitstuch auf Milas Lippen. „Ich muss morgen zu einem Geschäftsessen. Ich möchte, dass du dir den Tag nimmst, um dich für die Schule vorzubereiten. Du willst doch gut dastehen an deinem ersten Tag", erklärte ihre Mutter, während sie Mila bereits verlassen hatte und nun durch das Haus tigerte.
„Ja, Mutter. Dann werde ich mich jetzt darum kümmern, dass meine Schulsachen alle ihren Platz finden, damit ich morgen keine Zeit verschwende", erklärte sie und raffte ihr Kleid ein wenig, ehe sie auf die Treppe zu lief. Dort blieb sie jedoch kurz stehen. „Darf ich fragen, wann wir heute essen? Ich würde mich gerne noch kundig machen, ob es hier eine Schwimmhalle, oder einen See gibt, damit ich weiterhin eine körperliche Betätigung habe", erklärte sie und machte noch einmal einen Schritt von der Treppe zurück, um durch eine Tür zu schauen, durch die ihre Mutter gerade gegangen war.
„Ich werde Bescheid geben, aber da wir nichts da haben wird es wohl etwas dauern. Du willst doch nicht wirklich in einem See schwimmen, oder?", fragte ihre Mutter, wobei sie für den letzten Satz sogar in den Türrahmen trat und angewidert das Gesicht verzog. Dabei klingelte es plötzlich an der Tür, bevor Mila überhaupt antworten konnte. Clarice rollte genervt die Augen. „Jetzt beginnt die Prozedur schon wieder. Häschen sei so gut. Ich suche gerade meine Unterlagen, welche diese Leihen wohl wieder verschlampt haben", rief sie Mila nach, ehe sie wieder im Arbeitszimmer verschwand.
„Natürlich, Mutter", erwiderte sie und war froh darüber, dass ihre Mutter nicht weiter auf die Sache mit dem See eingegangen war.
Schnell zog sie sich den Knoten in ihrem Haar auf und kämmte es mit den Fingern. So sah sie besser aus.
Es klingelte erneut und sie huschte schnell zur Tür, um vorsichtig durch das Türglas zu schauen. Sie wusste immerhin nicht, was sie erwartete.
Sie erblickte blondes, kurzes Haar, doch durch die Verzerrung in der Fischaugenlinse, sah alles verschwommen aus. Der Mann blickte ungeduldig umher und trat sogar einige Schritte zurück, um sich das Haus zu besehen, ehe er erneut an die Tür trat und klopfte.
Mila atmete tief durch. Um ihn genauer zu sehen blieb ihr nichts anderes übrig, als die Tür zu öffnen. Also entfernte sie die Türkette und öffnete das Schloss, ehe sie die Tür einen Spalt aufschob und sie mit ihrem Fuß blockierte.
„Guten Tag", sagte sie vorsichtig und besah sich den jungen Mann nun genauer, während sie sehr vorsichtig durch den kleinen Spalt zwischen Tür und Rahmen sah.
Eine Wollmütze am Hinterkopf verdeckte das meiste Haar, doch sie waren dennoch gut zu erkennen. Sie konnte nicht viel von der Statur ausmachen, denn die Jacke und die verschränkten Arme der Haltung, versteckten eher mehr als sie sehen konnte. Doch sie erkannte, dass er größer war als sie. Keine schwierige Aufgabe, aber dennoch war Vorsicht geboten.
„Hallo ich... ich war etwas zu Essen holen und ich und mein Vater dachten, Sie bräuchten womöglich auch etwas, daher... als Willkommensgeschenk", versuchte er zu vermitteln und trat etwas von der Tür zurück, um eine braune Papiertüte demonstrativ hoch zu halten.
Ganz vorsichtig öffnete Mila die Tür und erzitterte leicht, als die kühle Luft ihre nackte Haut streifte. Sie trug noch immer nur das Sommerkleid, weil es im Haus so warm war.
„Sind Sie unser Nachbar?", fragte sie vorsichtig. Sie schätzte ihn nicht als gefährlich ein, weshalb sie ein kleines Stück aus der Tür trat, um auch den Rest sehen zu können. Falls sein Vater ebenfalls anwesend war.
Doch außer ihn konnte sie niemanden erblicken.
„Ja, ich hab euch auspacken sehen", merkte er an und deutete halbherzig auf das Haus nebenan. Mila konnte nicht ganz deuten, ob er hier war weil er es wollte oder ob er am liebsten zu Hause geblieben wäre, doch irgendwie verhielt er sich komisch, als wäre ihm das unangenehm. Verständlich. Wer klingelte schon gerne bei Fremden zu Hause, obwohl man sie nicht kannte, um ihnen etwas zu essen zu bringen. „Also... hier", seufzte er und hielt Mila die Tüte entgegen.
Diese streckte die Hände danach aus und nahm sie entgegen. „Vielen Dank. Das ist sehr nett von euch", sagte sie mit einem Lächeln. Auch wenn sie wusste, dass ihre Mutter ihr nie erlauben würde das zu essen, was in den Tüten war, war der Geruch doch wunderbar und schürte ihren Hunger. „Mein Name ist Mila. Es freut mich so aufmerksame Nachbarn zu haben." Sie schenkte ihm ein weiteres Lächeln.
„Es ist auch schwer einen Umzugswagen zu übersehen, der einen um sieben Uhr in der Früh weckt", erwiderte der Junge und versenkte seine Hände in den Jackentaschen, als er an Mila vorbei ins Wohnzimmer blickte und vielsagend die Augenbrauen hob.
„Das tut mir leid. Es war leider der einzige Termin, an dem meine Mutter Zeit hatte, mich zu begleiten", erklärte sie entschuldigend. Sie wollte sich gerade wieder verabschieden, um den jungen Mann nicht noch länger aufzuhalten, als ihr die Frage kam, ob er ihr vielleicht helfen könnte. „Darf ich fragen, ob es hier in der Nähe ein Schwimmbad, oder einen See gibt?", wollte sie vorsichtig und schüchtern wissen. Es war ihr unangenehm ihn so lange aufzuhalten.
Er wirkte irritiert als würde er sich fragen was sie damit anfangen wollte bei diesem Wetter. „Ja, es gibt beides. Ein öffentliches Freibad und einen See ein Stück den Wald entlang. Aber es wird ziemlich schnell frisch in dieser Gegend, deswegen macht das Freibad immer sehr früh zu und der See ist nicht wirklich beheizt oder sowas", erklärte er und deutete die Straße runter, welche offenbar zum See führte.
„Das ist schade. Dann werde ich die warmen Tage zum Schwimmen nutzen müssen. Vielen Dank. Darf ich fragen ob es hier noch andere Freizeitaktivitäten gibt? Ich habe gehört es gibt einen Tennisplatz", sagte sie und musste zugeben, dass es sich gut anfühlte mit diesem Mann zu sprechen. Er wirkte so natürlich und überhaupt nicht aufgesetzt.
Auch wenn er im Augenblick mit leicht verzogenem Gesicht langsam den Kopf schüttelte.
„Äh... nein, gibt es nicht. Jetzt hab ich aber eine Frage. Wieso seid ihr hergezogen?", fragte er unverblümt und musterte Mila nun genauer. Ein sehr merkwürdiges und vor allem unhöfliches Verhalten, was Mila so nicht erwartet hatte. Immerhin konnte sowas private Dinge beherbergen, die einen fremden Nachbarn nichts angingen.
Mila lächelte schwach. „Die Schule hier ist sehr gut", erklärte sie und das würde auch alles sein, was sie sagte. Mehr ging diesen jungen Mann, dessen Namen sie nicht einmal kannte, nichts an.
„Gute Schule?", fragte er verwirrt, doch seine Mimik klärte sich kurz darauf auf. „Verstehe. Also... Willkommen", wandte er nun ab und schien nachzudenken, musterte Mila aber noch immer.
Mila kam dieses Verhalten sehr merkwürdig vor und sie wurde unsicher. „Die Schule hier ist doch so gut, oder? Sie wurde meiner Mutter als Elite-Schule verkauft", sagte sie mit Unsicherheit in der Stimme. So wie er sie angesehen hatte, stimmte etwas mit dieser Schule nicht.
„Doch ja. Sehr gute Schule", stimmte er ihr zu, wenn auch nicht wirklich überzeugend, nach dem verzweifeltem Lachen was seine Stimme untermalte. „Wir haben hier vielleicht keinen Tennisplatz oder sowas, aber dafür haben wir einen Sportplatz auf der Schule und gutes Essen", erklärte er etwas zu enthusiastisch und deutete auf die Tüte in Milas Hand. Vermutlich um das Thema zu wechseln.
Milas Lippen verzogen sich zu einem freudlosen Lächeln. „Das wird meiner Mutter nicht gefallen. Trotzdem vielen Dank für das Essen. Ich muss jetzt mein Zimmer einräumen. Ich denke man sieht sich bestimmt noch einmal wieder. Auf Wiedersehen", erklärte sie und schloss die Tür, ohne auf eine Reaktion zu warten. Dann seufzte sie und blickte zu der Tüte in ihrer Hand. Sollte sie diese ihrer Mutter zeigen, oder sie gleich entsorgen? Auch wenn das nicht höflich war. Vielleicht hatte die Familie von nebenan wenig Geld und dennoch gab sie etwas für sie aus, ohne dass sie es aßen. Eventuell war ihre Mutter bereit das Essen für das Hausmädchen stehen zu lassen. Dieses würde immerhin auch in einer guten Stunde hier auftauchen.
„Wer war das?", fragte ihre Mutter plötzlich mit nüchterner Stimme und lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen. Die Stimme die sie immer hatte wenn sie ein Verhör machte.
Mila lächelte kläglich. „Wie es scheint unser neuer Nachbar", erklärte sie und hielt die Tüte hoch. „Er hat uns etwas zu Essen gebracht und ich habe ihn ausgefragt, wie es mit Schwimmbädern und Sportplätzen aussieht. Es gibt keinen Tennisplatz in der Nähe, wie uns versprochen wurde und er klingt, als kenne er die Schule, auf die ich bald gehen werde", erklärte sie ihrer Mutter. „Ich weiß, sie soll sehr gut sein, aber er klang so, als würde auch er dahin gehen. Dieser unhöfliche Mann, der mir nicht einmal seinen Namen verraten hat."
Ihre Mutter zog nicht erfreut und überrascht die Brauen hoch und verzog etwas das Gesicht bei der Tüte, welche sie mit Fingerspitzen aus Milas Hand nahm. „Das Ding trieft ja nur so vor Fett", meinte sie und stellte es auf einem Küchen Tresen ab. „Was soll das heißen die Schule klingt nicht gut?", hakte sie nun nach, während sie ihr Telefon zückte und darauf eintippte.
„Als ich sagte wir wären hergezogen weil es hier eine gute Schule gibt, hat er sehr lange gezögert und er hat nur vom Essen der Schule geschwärmt. Aber vielleicht liegt es weniger an der Schule, als an unserem Nachbarn", versuchte sich Mila zu erklären.
Das Misstrauen schwand weder in den Worten noch im Blick ihrer Mutter, als sie ihr Handy wieder einpackte und die Tüte in den Müll schob. „Ich werde mich kundig machen", erwiderte sie und trat zurück in das Arbeitszimmer. „Am besten du interagierst erstmal nicht mehr als möglich mit diesem Jungen. Ich will vermeiden, dass unserem Ruf mehr geschadet wird als ohnehin schon."
„Natürlich, Mutter. Ich werde sicherlich auf der Schule junge Leute finden, die besser passen. Ich werde mich jetzt in mein Zimmer begeben und den Rest meiner Sachen einräumen. Oder möchtest du, dass ich dir hier noch helfe?", fragte sie leise und beobachtete ihre Mutter. Es war normal, dass diese die meiste Zeit an ihrem Handy war, also ließ sie sich davon nicht stören.
„Nein, geh dich fertig machen. Ich muss sowieso noch einiges erledigen", wank Clarice ab und machte eine wegwerfende Handbewegung.
„In Ordnung. Dann sehen wir uns beim Abendessen. Bis dann, Mutter", damit setzte Mila nun endlich ihren Weg die Treppe nach oben fort, um sich um ihr Zimmer zu kümmern.