Bereits beim Aufstehen regte sich Aufregung in Milas Bauch. Jedenfalls hoffte sie, dass es Aufregung war und sie sich nichts eingefangen hatte. In präzisen Bewegungen band sie ihre Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen und hoffte, dass sich der Tag nicht so ziehen würde. Es war schon lange her, dass sie in einer vollkommen neuen Umgebung einsteigen musste. Sonst hatte sie immer den Vorteil gehabt, ihre bisherigen Freunde auf neue Schulen mitnehmen zu können. Doch hier hatte sie nichts.
Allerdings musste sie auch gestehen, dass es nicht wirklich ein Verlust war. Im Gegenteil. Sie war sogar recht froh manche Gesichter nicht wieder sehen zu müssen. Zumindest in den nächsten Jahren.
Einige Leute würde sie schon vermissen, doch meistens die, mit denen sie eigentlich nicht so viel Kontakt gehabt hatte.
Mit schnellen Handgriffen suchte sie sich ein Kleid heraus und war froh darüber, dass es keine Schuluniform gab. Sie trug sehr gerne Kleider und Röcke, doch die Blusen, die es zu den meisten Uniformen dazu gab, fand sie nicht sonderlich bequem und meist zu warm.
Zufrieden mit dem schwarzen Kleid stellte sie sich vor den Spiegel, um sich dezent zu schminken. Sie wollte immerhin auch nicht zu sehr auffallen.
Ein Griff zu ihren Lieblingsohrringen und einer Halskette mit einem kleinen, aber echten Diamanten und sie war fertig für die Schule. Die Kette sollte als Symbol ihrer Abstammung dienen und ein leichter Hinweis auf ihre Stellung sein. Etwas, was ihre Mutter ihr gezeigt hatte. Dezent und doch wirksam.
Der Hinweis lag im Detail und auch wenn wohl einige nicht darauf reagieren würden, wäre es dennoch etwas was auffallen würde. Ein letztes Mal schürzte Mila die Lippen und legte den rosa Lippenstift, den sie gestern noch getragen hatte in ihre Schublade, damit sie ihn nicht wieder so schnell verwendete. Der erste Eindruck war am wichtigsten. Dafür gab es keinen zweiten Versuch.
Aufgeregt griff Mila nach ihrer Handtasche, in welcher auch ihre Bücher verstaut waren und machte sich auf den Weg ins Erdgeschoss. Die Haushälterin war bereits dabei das Frühstück auf dem Tisch anzurichten, an welchem ihre Mutter mit seidenem Morgenmantel und einer Zeitung vor dem Gesicht saß.
„Guten Morgen, Mutter", grüßte sie und ließ sich am Tisch nieder. Die Tasche hängte sie an den Stuhl und betrachtete das Frühstück. Es gab Rührei und dazu einen gemischten Salat. Zusätzlich frisch gepressten Orangensaft und Parmaschinken.
Das frische Obst, das bei ihnen nie fehlen durfte, wurde gerade von der Haushälterin auf den Tisch gestellt. „Guten Morgen", wurde diese auch von Mila gegrüßt.
„Guten Morgen, Miss Nadasdy", erwiderte die Haushälterin leise und stellte nun auch die Schale für Clarice ab und begab sich zurück in die Küche.
„Guten Morgen, Mila. Hast du schon alles ausgepackt?", fragte diese und deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Wange, als Zeichen an Mila, ohne von der Zeitung aufzublicken.
Mila wurde ein wenig rot. Sie war so aufgeregt, dass sie doch tatsächlich vergessen hatte, ihre Mutter anständig zu grüßen. Schnell erhob sie sich und gab ihre einen Kuss auf die Wange, ehe sie sich wieder setzte.
„Ich habe alles ausgepackt und bin auch gestern alle Fächer noch einmal durchgegangen. Ich war sehr zeitig wach und hatte daher noch Zeit und war mir den See anschauen. Er ist nicht viel besucht und würde sich sehr gut eignen, um einige Stunden zu schwimmen", erklärte Mila immer noch aufgeregt.
Ihre Mutter stieß ein Seufzen aus und faltete sorgfältig die Zeitung, um sie neben sich auf den Tisch zu legen, bevor sie zur Gabel griff und ein Melonenstück aufspießte. „Ich sagte doch ein See ist viel zu dreckig, als dass du darin rumplanschen solltest, Häschen", erwiderte sie lediglich und blickte Mila nüchtern an.
Diese kaute sorgfältig, schluckte und nahm einen Schluck Orangensaft, ehe sie antwortete. „Ich habe ihn mir angesehen. Er hat sehr klares Wasser und im Gegensatz zu den meisten Schwimmbädern ist dort kein Chlor enthalten. Bitte, Mutter. Du weißt, wie viel mir das Schwimmen bedeutet. Ich möchte es wirklich nicht missen müssen, nur weil dieser Ort hier..." Mila machte eine kleine, nachdenkliche Pause und eine Handbewegung, welche den Ort symbolisieren sollte. „... so klein ist", sagte sie schließlich, denn ihre Mutter hatte sie gelehrt auch in diesen Dingen höflich zu bleiben.
Diese blickte sie noch immer kalt an und schien keinen Muskel in ihrer Mimik zu regen. „Mila, ich sagte nein", erwiderte sie mit ernster Stimme langsam, als wäre es eine Warnung, dass sie sich nicht nochmal wiederholen wollte. „Also. Wie viele Stunden hast du heute? Ich dachte wir gehen womöglich aus und sehen uns die Stadt ein wenig an", wechselte ihre Mutter das Thema und lächelte ihr künstlichstes Lächeln, was sie zu bieten hatte.
„Heute ist einer der langen Tage. Ich habe bis 16 Uhr Unterricht", erklärte sie und ließ sich nicht anmerken wie sehr ihr das Verbot ihrer Mutter zu schaffen machte. Sie hatte wirklich nicht erwartet, dass dieser Umzug ihr etwas so wichtiges nehmen würde. Sie brauchte das Schwimmen doch. Und die Lust mit ihrer Mutter in die Stadt zu gehen, war auch nicht vorhanden. Doch sie wusste, dass sie nicht nein sagen konnte. Also sagte sie gar nichts dazu.
„Oh", machte ihre Mutter und sog entschuldigend die Luft ein. „Ich muss um halb los und treffe mich mit einigen der neuen Kollegen. Wir verschieben das, in Ordnung?", erwiderte sie und nahm einen tiefen Schluck Kaffee. „Soll ich dich zur Schule fahren? Ich würde das auch selbst machen, ausnahmsweise. Als Entschuldigung", bot ihre Mutter ihr mit einem dezenten Lächeln an, nahm noch einen Schluck und las etwas von der Zeitung, die sie auf den Tisch gelegt hatte.
Mila wusste nicht genau, was sie davon halten sollte. Als Entschuldigung? Für was entschuldigte sie sich? Dass ein Treffen, das sie sowieso nicht wollte, ausfiel? Das war zumindest wahrscheinlicher, als dass sie verstand, dass sie ihrer Tochter etwas sehr wichtiges genommen hatte.
„Vielen Dank, Mutter, aber du musst dir diese Mühe nicht machen. Es reicht wenn Charles mich hinfährt. Ich bin mir sicher, dass du noch sehr viel zu tun hast. Ich möchte dich nur ungern von deiner Arbeit abhalten."
Clarice nickte beiläufig und nahm einen Bissen Toast. „Gut, wie du willst, Häschen. Ruf deinen Vater an, wenn du zu Hause bist und schick mir eine Nachricht, damit ich weiß, du bist gut nach Hause gekommen", erklärte sie und nahm das klingelnde Telefon vom Tisch um mit „Nadasdy" ranzugehen. Milas Zeichen, dass sie ab sofort nicht mehr ansprechbar sein würde.
Etwas, was sie nur zu gut kannte. Selbst wenn sie zusammen in die Stadt gegangen wären, hätte ihre Mutter wahrscheinlich die ganze Zeit nur am Handy verbracht.
„Werde ich, Mutter", versicherte Mila und erhob sich. Es wurde Zeit, dass sie sich auf den Weg zur Schule machte. Auch wenn Charles sie fuhr, war es doch besser Zeit einzuplanen, in der sie das Gelände besichtigen konnte. „Mach's gut", damit drückte sie ihrer Mutter einen Kuss auf die freie Wange und schulterte ihre Tasche, um dann nach draußen zugehen.
Am liebsten wäre sie gleich wieder rein gegangen, als sie Elon entdeckte, der wohl gerade in ihren Vorgarten treten wollte. Als er sie allerdings bemerkte blieb er stehen und wank ihr mit einem übertriebenen Lächeln zu, das nicht ironischer hätte sein können.
Mila streckte die Brust raus und lief auf das Tor zu. „Guten Morgen, Nachbar", grüßte sie übertrieben freundlich, würde aber nicht viel Zeit mit ihm verbringen, denn Charles hatte den Wagen bereits vorgefahren und stieg nun aus, um ihr die Schultasche abzunehmen und die Tür zu öffnen. „Guten Morgen, Miss Nadasdy", grüßte er sie höflich und Mila lächelte ihn dankend an.
„Ich soll mich bei dir entschuldigen, wegen gestern. Deswegen wollte ich dir anbieten, dich zur Schule zu fahren", erklärte Elon und lehnte sich an das schwarze Fahrzeug von Charles. „Wenn du nicht gerade mit dieser Miniaturlimousine zur Schule willst", fügte er noch hinzu und deutete mit einem Kopfnicken auf das Auto.
„Das ist ein sehr nettes Angebot, aber leider muss ich passen. Charles ist extra für mich zeitig aufgestanden, da werde ich ihn jetzt nicht wieder zurückschicken", erwiderte Mila mit einem aufgesetzten Lächeln. Ihr fiel es nicht schwer, mit Charles zu fahren. Sie mochte ihn und er war bei weitem eine angenehmere Gesellschaft, als Elon. „Wenn du mich also entschuldigen würdest", fügte sie hinzu und stieg ein.
Mit einem übertriebenen Augenrollen stieß sich Elon von dem Wagen ab und schleppte sich hinüber zu seiner Einfahrt. Bereits als er zum Fenster blickte, konnte er seinen Vater sehen, der ihm ein fragendes Handzeichen gab. Elon ignorierte es lediglich und stieg in das Fahrzeug, um ebenso wie Mila zur Schule zu fahren.
Auf dem Weg bemerkte er, wie der Wagen von Mila, der bis gerade eben noch vor ihm gefahren war, in eine andere Straße einbog und vor einem Café hielt. Der Fahrer stieg aus, doch was er tat, konnte Elon nicht mehr sehen, denn dann war er schon vorbei. Wahrscheinlich würde sie noch einen Kaffee trinken, oder ähnliches. Er wusste es nicht. Allerdings wusste er, dass er wohl vor ihr an der Schule sein würde.
Also machte er sich auf den Weg, noch einen kleinen Abstecher zu machen. Wenig später hielt er auch schon in der Einfahrt und hupte zweimal, als Zeichen, dass er da war. Kurz darauf kam ein Junge mit schwarzem Haar auf ihn zugelaufen und stieg zu ihm auf den Beifahrersitz.
„Guten Morgen, Elon", grüßte er mit einem Grinsen und klopfte seinem Freund auf die Schulter.
„Morgen Chris", grummelte Elon als Begrüßung und der junge Mann mit den schwarzen Haaren blickte ihn fragend an.
„Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?"
Anstatt zu antworten, legte Elon den Gang ein und fuhr los, in Richtung Schule.
„Verschon mich mit deinen Sprüchen, die du noch von deiner Großmutter hast. Mir geht's gut", murmelte er zuletzt und hoffte sehr darauf, dass Chris ihn nicht ausfragen würde.
Chris seufzte. „Hast du schon gehört? Es soll eine neue Schülerin geben", wechselte er das Thema, um Elon ein wenig abzulenken.
Er konnte ja nicht wissen, dass er es soeben eher vertieft, als gewechselt hatte.
„Sag bloß", murmelte Elon nüchtern und rollte beiläufig die Augen. Gute Nachrichten sprachen sich schnell rum, dass wusste er. Doch so wie diese Mila sich aufführte, würde ihr zu viel Aufmerksamkeit nicht guttun.
„Sie soll ein sehr schönes, junges Fräulein aus einer guten, aber strengen Familie sein", erklärte Chris und schwärmte regelrecht vor sich hin.
„Fräulein?", wiederholte Elon schnaubend und blickte Chris kurz irritiert an. „Was soll das? Hat dich deine Mutter wieder gezwungen Stolz und Vorurteil mit ihr zu gucken?", fragte der Blonde ironisch und bog auf das Schulgelände ein.
Chris lachte. „Nein, das hat der Kontakt so gesagt, von dem ich meine Infos bezogen habe", erklärte der Schwarzhaarige gut gelaunt. „Sie kommt wohl aus anderen Kreisen, als wir", versuchte sich Chris zu erklären.
„Wenn es Kreise im Fegefeuer gibt, dann hast du recht", stimmte Elon seinem Freund zu und parkte den Wagen auf dem Parkplatz. „Sie ist ein nerviger Rotschopf, der die Nase höher trägt, als ihm guttut. Sie weiß nicht mal wieso sie hier ist", erklärte Elon, während er ausstieg und die Tür schloss.
Chris stieg ebenfalls aus, wirkte aber ein wenig irritiert. „In wie fern meinst du das? Kennst du sie denn?", wollte er wissen. Er wurde aus Elon definitiv nicht schlau.
„Zum Glück nicht und wag nicht sowas nochmal zu behaupten", warnte Elon ihn mit anklagendem Finger. „Erinnerst du dich an das seit Jahren leerstehende Haus?", fragte Elon und warf seinem Freund einen vielsagenden Blick zu, während er seine Schultasche schulterte.
„Nicht dein Ernst", sagte er überrascht und mit offenem Mund. „Sie haben das Herrenhaus gekauft? Aber... Das ist doch so teuer und das Grundstück riesig", brachte er hervor und konnte es kaum glauben. „Moment. Sie ist deine Nachbarin?", platzte es aus ihm heraus und er konnte nicht anders, als Elon anzustarren.
Dieser rollte lediglich die Augen und machte sich auf den Weg in Richtung Eingang. Doch das genügte schon als Bestätigung für den langjährigen Kindheitsfreund. „Es ist kein Herrenhaus", war alles was Elon dazu zu sagen hatte, während er seinen Kumpanen ignorierte.
„Wenn sie neben dir wohnt, dann hast du sie schon gesehen, oder? Wie sieht sie aus?", fragte er aufgeregt und hörte mehrere Stimmen, die erstaunt aufriefen und Chris drehte sich um. Eine kleine Limousine fuhr vor und Chris griff nach Elons Arm. „Ist sie das?"
Elon folgte seinem Blick und wäre am liebsten weitergelaufen, doch Chris hielt ihn noch immer am Ärmel fest. „Sie sieht böse aus. Komm jetzt", meinte Elon und zerrte den Schwarzhaarigen mit sich in die Schule.