Mila streckte sich und genoss die Wärme auf ihrer Haut, während sie ein wenig durch die Stadt lief, die sie nun ihr Zuhause nannte. Zumindest noch.
Es war viel ruhiger, als in New York und eigentlich gefiel ihr das gut. Leider war ihre Mutter auch heute wieder unterwegs, obwohl es bereits Freitag war. Aber das hatte auch etwas Gutes, denn so konnte sie in Ruhe die Stadt erkunden, ohne sich erklären zu müssen. Sie hatte ihrer Mutter zwar gemeldet, dass sie das Haus verließ, aber nicht sehr viel mehr.
Ihr Weg führte sie zum See, an dem sie schon einmal baden war und ihr Blick glitt über die Familien, die sich hier versammelt hatten. Viele der Kinder schwammen aufgeregt mit den Eltern im Wasser oder spielten.
Mila fragte sich, warum andere Kinder darin spielen durften, wenn es doch so gefährlich war, wie ihre Mutter sagte. Waren die Eltern so verantwortungslos, dass sie es ignorierten?
Mila konnte lediglich den Kopf leicht schütteln und machte sich daran auf einen kleinen Felsvorsprung zu klettern, auf welchem sie sich niederlassen konnte. Das Wasser glitzerte und schlug ab und an kleine Wellen durch das Planschen der Kinder. Es war heute überraschend warm geworden. Die Stadt schien ein sehr instabiles Klima zu haben, dafür, dass es bereits Anfang Herbst war. Doch womöglich kam der Winter einfach sehr spät.
Woran auch immer es lag, sie würde einfach das Wetter genießen.
Ihr Blick war auf den See gerichtet und die kühle Priese ließ sie seufzen. Sie wollte ins Wasser und schwimmen, tauchen und einfach nur entspannen. Es fehlte ihr so sehr, dass jeder Spaziergang, den sie machte, sie hierherführte.
Sie hatte sogar mit dem Gedanken gespielt ins Freibad zu gehen, doch dort war es vermutlich jetzt, nach Schulschluss, voll bis zum Rand. Etwas was sie nicht so gerne mochte. Sie wollte es lieber vermeiden, momentanen Schulkameraden zu begegnen und wieder umzingelt zu werden.
Noch dazu war diese natürliche Lage hier viel schöner. Ein kleines, idyllisches Plätzchen, was sie von all ihren Problemen abschirmte. Allein der Gedanke nicht auf ihr Traum-College kommen zu können, nur wegen dieser Schule und all den Stoff, den sie nachholen musste, bereitete ihr Bauchschmerzen.
Hier konnte sie sich so viel Mühe geben, wie sie wollte. Es würde am Ende nichts bringen, selbst wenn sie überall eine Eins stehen hatte. Die Aufnahmeprüfung auf das College würde sie wohl dennoch nicht schaffen.
Mila seufzte erneut und zog die Beine an sich, ehe sie ihren Kopf auf die Knie legte und ein wenig die Augen schloss. Das Lachen und Reden der Seebesucher waren wunderbar angenehm.
Sie hoffte wirklich sehr, dass ihr Vater morgen über diesen Ort nicht auch so negativ gestimmt sein würde, wie ihre Mutter. Immerhin würde er nicht lange bleiben und Mila wollte jede Sekunde mit ihrem Vater genießen. Und nicht das Gesicht eines unzufriedenen Hundes vorfinden, dem man Hundefutter versprochen hatte und dann Gemüse vorsetzte.
Doch plötzlich wandelte sich das Lachen in Rufe um, welche die Kinder aus dem Wasser beorderten. Irritiert blickte Mila auf und sah wie die Mütter ihren Kindern Handtücher umwarfen und sich zu den nahegelegenen Parkplätzen aufmachten.
Irritiert und auch ein wenig verpeilt sah sie sich weiter um, als ein Grollen über die Gegend zog. Mila erstarrte und Adrenalin rann durch ihren Körper, als Panik sie ergriff.
Der Himmel verdunkelte sich schnell und die ersten Tropfen fielen zu Boden. Doch das war es nicht, was Mila Panik bescherte. Es grollte erneut und ihr Körper zitterte vor Angst. Ein Gewitter! Das war doch überhaupt nicht angekündigt! Hätte sie das gewusst, wäre sie zuhause geblieben. Sie hatte doch panische Angst vor Gewittern.
Langsam und mit zitternden Knien, rutschte Mila wieder von dem Felsen runter und hielt sich in einer gebückten Haltung nahe am Boden. Auch der See verdunkelte sich, durch das fehlende Sonnenlicht und schien nun so bedrohlich, als wäre er einem originalen Märchen entsprungen.
Ihre Angst sorgte dafür, dass sie kaum wusste, was sie tun sollte. Es gab einige kleine Hütten, wo man Eis, oder andere Snacks kaufen konnte. Doch war sie dort sicher? War es sinnvoll dorthin zu gehen oder sollte sie hier warten, bis das Gewitter vorbei war?
Der Wind nahm zu und löste mehrere dicke Strähnen aus ihrem Zopf, den sie sich geflochten hatte. Er schlug ihr die Strähnen immer wieder ins Gesicht und hinterließ ein solches Ziehen in ihrem Gesicht, dass es sie nicht wundern würde, wenn sie rote Striemen davontragen würde.
„Mila?", hörte sie plötzlich ihren Namen rufen und zuckte zusammen.
Es donnerte erneut. Dieses Mal so laut, dass Mila den erschrockenen Schrei nicht unterdrücken konnte. Sie hob die Arme über den Kopf, um sich zu schützen, auch wenn sie wusste, dass es nichts bringen würde. Wenn ein Blitz sie traf, waren ihre Arme nicht einmal im Weg.
„Mila", hörte sie die Stimme leiser, doch sie schien näher zu kommen. Das Nieseln hatte sich in einen festen Schauer verwandelt, was eine laute Geräuschkulisse verursachte, die alle Geräusche überschallten. Sie spürte einen festen Griff um ihren Oberarm, welcher sie aufschrecken ließ, als sie Elon vorfand. Selbst bei dem Wetter trug er seine Mütze, welche nun vollkommen durchnässt und dunkelgrau auf seinem Kopf lag. „Komm schnell", rief er über das Rauschen des Regens hinweg und versuchte sie auf ihre Beine zu ziehen.
Mila gab sich Mühe seiner Aufforderung zu folgen, doch sie stolperte mehr schlecht als recht, weil ihre Beine heftig zitterten.
Als es erneut donnerte, krallte sie sich mit einem Schrei an Elon fest, in der Hoffnung bei ihm Hilfe zu finden. Ihr Herz klopfte heftig und die Angst wuchs mit jedem Moment. Auch wenn Elon sie scheinbar aus der Gefahrenzone brachte.
Doch auch wenn sie immer wieder über Äste, Gestrüpp und unebenen Boden stolperte, zog Elon sie immer weiter durch den Wald hindurch. Auch wenn sie nicht verstand wo er hinwollte, wusste sie doch, dass sie sich nicht auf dem Waldweg befanden, welcher zu ihrer Straße führte.
Stattdessen kamen sie wenig später an einer kleinen Holzhütte an, welche Mila allerdings nicht genau sehen konnte, da sie zusätzlich zum Regen und dem Haar in ihrem Gesicht, die Augen zu kniff. Elon stieß die Tür zur Seite und zog Mila ins Trockene rein, um hinter ihr wieder die Tür zuzuschlagen.
Er seufzte erleichtert auf und knipste einige lose Glühbirnen an.
„Hier", meinte er unberührt und warf Mila ein Handtuch ins Gesicht, während er sich die Mütze vom Kopf zog, um diese auszuwringen.
Mila, die noch immer völlig irritiert war, hielt das Handtuch zwar, wusste aber nicht genau, was Elon eigentlich von ihr wollte, noch wo sie waren.
Es donnerte erneut und mit einem Schrei hielt sich die Rothaarige die Ohren zu und kniff die Augen fest zusammen. Selbst hier drin hatte sie noch immer Panik.
Elon zuckte zusammen und blickte Mila fragend an.
„Was ist los?", fragte er irritiert und strich sich die nassen Strähnen aus dem Gesicht. Der Regen war wirklich zu dicht, um nicht nass zu werden.
Und es wurde auch kühler, wenn sich die Rothaarige also nicht abtrockente, würde sie eine Erkältung bekommen. Das war auch der Grund, warum Elon das zweite Handtuch nutzte, um sich selbst so gut es ging zu trocknen.
„Ich hasse Gewitter", brachte Mila wimmend hervor und zuckte heftig, als der Blitz die gesamte Waldhütte erhellte und selbst durch ihre geschlossenen Augen drang.
„Gibt es in New York etwa kein Gewitter?", schnaubte Elon ironisch und legte sich das Handtuch auf den Kopf, um sein Haar mit wilden Bewegungen trocken zu rubbeln.
Mila antwortete nicht, stattdessen saß sie weiterhin da und zitterte, während das Gewitter draußen tobte. Ein weiterer, sehr lauter Donnerschlag ließ sie erneut aufschreien und ihr begannen die Tränen über die Wangen zu laufen. Natürlich gab es in New York auch Gewitter, doch wenn diese angekündigt waren, hatte sie immer Ohrstöpsel dabei, um das Donnern nicht so laut zu hören. Außerdem hatte sie ihre Beruhigungstabletten zuhause vergessen! Sie hatte ja nicht geahnt, dass es hier so plötzlich beginnen konnte zu gewittern!
Elon riss die Augen auf und musterte Mila erschrocken.
„Nein... du fängst jetzt nicht an zu weinen, verstanden? Ich hab doch gar nichts gemacht!", versuchte er sich unbeholfen zu rechtfertigen und wusste nicht wirklich was er mit Mila anfangen sollte. Er wirkte überfordert, mit der Situation. Wieso weinte Mila denn jetzt auch? Es war doch nur ein Scherz gewesen!
Das Gewitter draußen wurde immer schlimmer und der Wind tobte richtig, während der Regen immer stärker gegen das Dach der kleinen Holzhütte hämmerte.
Bei jedem Donnerschlag oder Blitz, der über den Himmel zog, versuchte sich Mila noch weiter zusammenzurollen und manchmal schrie sie vor Angst regelrecht auf.
Sie wollte doch nur, dass es aufhörte!
„Willst du... etwas essen? Oder trinken? Eine Valium vielleicht?", fragte Elon hilflos und deutete auf verschiedene Ecken der Hütte. Was sollte er denn mit einem solchen Häufchen Elend anfangen? Sie sprach ja nicht einmal mit ihm! Dabei wollte er nur nett sein und sie nicht im Regen stehen lassen, nachdem er sie am See vom Fenster aus gesehen hatte.
„Mach dass es aufhört", brachte sie ganz leise und unter Schluchzen hervor. Wenn sie Gewittern ausgesetzt war, wurde sie immer von einer Panikattacke überrollt, die sie daran hinderte klar zu denken und sie wollte sich nur noch verstecken. Erst, wenn das Gewitter nachließ, würde sie wirklich ansprechbar sein, doch das wusste Elon nicht.
Elon rollte die Augen. „Sonst noch wünsche? Sehe ich für dich aus, als wäre ich Houdini oder so ähnlich?", fragte Elon sarkastisch, zückte allerdings gleichzeitig sein Handy, um eine Nummer zu wählen. Mila bekam nicht so recht mit, mit wem er über was sprach. Zu sehr war ihr Verstand auf das Gewitter und den Regen fokussiert. Wenig später legte er das Gerät wieder zur Seite und machte sich an einem kleinen Kühlschrank zu schaffen. „Und dabei tust du immer so, als wärst du so zäh und schlagfertig. Wie schnell sich die Dinge ändern können", murmelte er in sich hinein, als das Gewitter sich plötzlich lichtete. Überrasch blickte Mila nach draußen und konnte dicke Schneeflocken entdecken, die friedlich vom Himmel segelten und den Waldboden bedeckten. Zumindest die, die durch das dichte Blätterdach hindurch kamen.
Es dauerte einige Zeit, bis sie sich wieder gefangen hatte, da kein weiterer Donner mehr hallte und auch keine Blitze mehr für Licht sorgten. Stattdessen schien es ganz plötzlich ruhig geworden zu sein. Aber Schnee hatte sie nun wirklich nicht erwartet.
Ihr Atem ging noch immer schnell und unruhig, doch so langsam löste sie sich aus ihrer kauernden Position und sah sich das erste Mal vorsichtig um.
Als sie Elon entdeckte senkte sie den Blick ein wenig und wurde rot. „Danke, dass du mich ins Trockene gebracht hast", brachte sie heiser hervor. Es würde noch ein wenig dauern, bis sie sich von dem Schock erholt hatte.
Elon rollte lediglich die Augen und stellte zwei Tassen in die Mikrowelle, um diese einzuschalten. „Bedank dich nicht bei mir", erwiderte er und drehte sich zu Mila um, um sich mit der Hüfte an den Tisch hinter sich zu lehnen.
Erst jetzt entdeckte Mila die kleine, höhlenähnliche Hütte, in derer Mitte sogar ein ausgefranster Billardtisch stand, der sicher schon bessere Tage gesehen hatte.
Alles in allem wirkte es zwar ein wenig heruntergekommen, aber gemütlich.
„Es tut mir leid, dass du meine Panikattacke mit ansehen musstest", murmelte sie und es war ihr peinlich. Also versuchte sie sich abzulenken und nutzte das Handtuch, um sich endlich ein wenig zu trocknen. Auch wenn das nicht mehr ganz so viel brachte.
Draußen schneite es derweil weiter und Mila spürte, wie das Adrenalin nachließ und ihr langsam kalt wurde.
„Das sollte es auch", bemerkte Elon als das Piepen der Mikrowelle erklang, was ihn sich wieder umdrehen ließ. „Du hast geweint... kannst du dir vorstellen, wie überfordert ich war?", fragte er und ging zu Mila, um ihr eine Tasse Kakao auf den Tisch zu stellen. „Du bist mir was schuldig."
Ein wenig irritiert blickte sie zu Elon auf. Hätte diese Panikattacke sie nicht so fertig gemacht, hätte sie ihm was erzählt. Von wegen er war überfordert. Sie hatte höllische Angst gehabt! Als konnte sie dafür etwas.
Doch da die Panikattacke ihren Körper noch immer nicht ganz losließ, konzentrierte sie sich nur auf den letzten Teil. „Was schuldig?", fragte sie reichlich verwirrt und ihr stieg der Duft von Kakao in die Nase. Trotzdem blieb sie am Boden sitzen, denn sie traute ihren Beinen noch nicht ganz.
Elon ließ sich entspannt auf die Couch fallen und legte die Füße hoch auf den Tisch. „Ja, was schuldig", wiederholte er lediglich und trank genüsslich einen Schluck aus der Tasse.
„Wieso?", wollte Mila irritiert wissen. Diese ganze Situation war unglaublich surreal. An was für Leute war sie hier nur geraten. Versuchte er sie etwa zu erpressen?
Die Rothaarige sah sich noch einmal um. Vielleicht hatte er sie hierhergebracht, um sie gefangen zu halten, doch würde er dann so freundlich sein? Sie wusste es nicht.
„Ich hab dich aus dem Regen geholt, dir ein Handtuch gegeben, deine Panikattacke überstanden und nicht zu vergessen dir einen Kakao gemacht", zählte Elon anklagend auf und deutete demonstrativ auf Milas Tasse. Diese stand in seiner Nähe auf dem Tisch und dampfte vor sich hin.
„Und ich dachte, du machst das, weil du ein netter Junge bist. So kann man sich irren. Aber wenn ich schon dafür bezahle, sollte ich den Kakao wohl auch trinken", murmelte die Rothaarige und versuchte sich zu erheben. Was nicht so einfach war, da ihre Beine noch immer zitterten. Doch irgendwie schaffte sie es zu dem Tisch und dem Becher Kakao, der noch immer wunderbar duftete. Aber nicht so, wie sie Kakao gewöhnt war. Trotzdem nahm sie einen Schluck. Er war viel süßer als das, was sie trank und auch nicht ganz so schokoladig. Dennoch konnte man ihn trinken.
„Wer spricht denn hier von Geld?", lachte Elon mit einem lauernden Unterton amüsiert. „Hier ist das nicht wie bei euch in der Stadt, hier verhandeln wir mit Tausch-Geschäften", erklärte er selbstgefällig und nahm einen weiteren Schluck.
Mila zuckte die Schultern. „Bezahlen muss man ja nicht immer mit Geld", meinte sie und blickte ihn nun aus ihren hellbraunen Augen abwartend an. „Also? Was willst du von mir?"