Mila war ein wenig eingenickt, als Geräusche von unten sie wieder munter machten.
Mittlerweile war es recht dunkel draußen geworden und Elon schien ebenfalls eingeschlafen zu sein. Zumindest lag er im Stuhl und hatte die Augen geschlossen.
Die Rothaarige blickte auf die Uhr und gähnte. Es war spät genug, dass ihre Mutter wieder zuhause war. War das gut? Sie wusste es nicht. Wahrscheinlich würde sie Ärger machen, weil Elon hier war.
Auch wenn es Mila etwas besser ging, wollte sie doch noch keine Diskussion mit ihrer Mutter. Dazu hatte sie einfach nicht die Kraft.
Sie wusste, dass sich ihre Mutter übers Wochenende, während des Aufenthalts ihres Vaters, mit Elons Präsenz irgendwie abgefunden hatte, doch für Besuche außerhalb ihrer Anwesenheit war es wohl dennoch zu früh. Eigentlich wollte Mila gar nicht erst herausfinden, wie ihre Mutter reagieren würde, wenn sie Elon in Milas Zimmer allein mit ihr vorfand, doch nach den Schritten, die sich ihrem Zimmer näherten, würde sie es wohl bald rausfinden.
Mila sprang auf und rüttelte leicht an Elons Schulter, damit dieser wach wurde. Und zu ihrem Glück liefen die Schritte an ihrem Zimmer vorbei ins Bad.
Erleichtert seufzte Mila auf und rüttelte noch ein wenig an ihm. „Elon", zischte sie leise. „Wach auf."
Dieser gab ein unwilliges Grummeln von sich und versuchte einige Male Mila von sich zu lösen. Erfolglos.
„Was? Was? Was? Ich hoffe es ist verdammt dringend oder du bist Suizidgefährdet", murmelte er undeutlich, noch immer im Halbschlaf und setzte sich mit verzerrtem Gesicht auf. Es war wohl nicht die beste Idee gewesen, in einem Stuhl einzuschlafen.
„Meine Mutter ist heimgekommen. Sie flippt aus, wenn sie dich hier findet", erklärte Mila leise, aber eindringlich. Zum Glück konnte sie die Dusche hören. „Du musst sofort verschwinden."
Elon blickte sie verständnislos an, als hätte sie ihm soeben erzählt, sie würden sich auf dem Mars befinden. Was war denn nur ihr Problem? Erst wollte sie, dass er blieb, damit er sie bedienen konnte und nun schmiss sie ihn raus? Seufzend ließ er sich von Mila an den Balkon schieben, an dem er sich kurz abstütze. „Was soll das? Bekomm ich nicht einmal Frühstück?", fragte er ironisch und schwang müde ein Bein über den Zaun.
„Es tut mir leid, aber Mutter würde ausflippen, wenn sie wüsste, dass du hier warst", erklärte Mila schnell und hoffte ihre Mutter würde nichts mitbekommen. Die Pizzakartons musste sie auch noch irgendwie loswerden. Am besten gab sie diese gleich Elon mit.
„Du musst dringend einige Prioritäten in deinem Leben setzen", flüsterte Elon fassungslos zurück. Sie war wie ausgewechselt! Vorher war sie wenigstens noch erträglich gewesen. Er zog das andere Bein ebenfalls hinterher, und setzte sich auf den Balkon... er hatte es nicht so hoch eingeschätzt wie er gestehen musste. „Dir ist doch hoffentlich klar, dass du mich gerade dazu zwingst Selbstmord zu begehen oder?", fragte Elon nüchtern und konnte den Blick nicht von dem gepflegten Grasboden abwenden, der nun vollkommen vom Schnee befreit war. Das waren mindestens zehn Meter!... zumindest für seine Augen.
„Sei keine Flasche, ich bin da auch schon runtergesprungen und habe es überlebt", zischte sie und überlegte sogar, ob sie ihn schupsen sollte, doch sie ließ es. Sonst würde er sich noch wehtun.
„Nur weil du bionische Knie hast, gilt das noch lange nicht für uns Normalsterbliche, Miss Perfekt!", flüsterte er eindringlich zurück ohne den Blick vom Gras zu nehmen. „Habt ihr höhere Stockwerke als wir? Das sieht komplett unnatürlich aus", gestand er und spürte wie sein Herzschlag immer schneller wurde. Am liebsten wäre er zurück geklettert, doch nicht mal das ließ sein Körper zu. Er war wie versteinert.
„Komm schon, sei kein Weichei. Das geht schon. Oder willst du lieber meiner Mutter erklären, was du hier zu suchen hast?", fragte Mila eindringlich. Dabei machte sie sich schon auf den Weg zu den Pizzakartons und gab Elon so ein wenig Freiraum, damit er sich entscheiden konnte.
„Fordere mich nicht heraus die Antwort wird dir nicht gefallen", erwiderte er mit einem fast schon verrückten, aber auch verzweifeltem Lachen.
Mila verdrehte die Augen und als sie zurückkam, gab sie ihm einen leichten Stoß. Nur genug, um ihn in die richtige Richtung zu lenken, aber nicht so, dass er sich verletzten würde. Hoffte sie.
Sie konnte spüren, wie sich sein Körper zwar versteifte, doch der Stoß schien wohl so unerwartet gekommen zu sein, dass er das Geländer losließ und mit einem dumpfen Geräusch, gefolgt von schmerzvollem Stöhnen, auf dem Grasboden aufkam. Er hatte ihr keine andere Wahl gelassen! Und noch dazu war es unmöglich, dass er sich verletzt hatte, bei einem Sturz aus dem ersten Stock auf weichem Gras.
„Häschen?", hörte sie die dumpfe Stimme ihrer Mutter, wie sie an der Zimmertür rumrüttelte. Sie war es nicht gewohnt, dass Mila abschloss, doch hätte sie es nicht getan, wäre Clarice einfach reingekommen.
Mila schloss die Türen vom Balkon leise und trat dann auf die Tür zu, um diese zu öffnen.
„Tut mir leid, Mutter", erklärte sie und ließ ihre Mutter eintreten. „Aber ich habe geschlafen und weil niemand da war, habe ich sicherheitshalber abgeschlossen", erklärte sie sofort und hoffte es gab keine Fragen dazu.
Ihre Mutter trat in das Zimmer und seufzte erschöpft, während sie sich ausgiebig umsah.
„Mein Akku am Handy war leer, weswegen mich die Schule nicht erreichen konnte und diese idiotische Praktikantin, hat die Nachricht im Büro abgefangen und nicht an mich weitergeleitet. Ich hoffe sie wird gefeuert", murmelte Clarice gestresst hinterher, in einem solchen Tempo, dass Mila bereits befürchtete, ihre Mutter würde ersticken. „Sie meinten, dir ginge es nicht gut, aber ich müsse mir keine Sorgen machen, weil 'Elon' dich nach Hause gefahren hat", schloss sie ihren regelrechten Monolog ab und blickte Mila nun erwartungsvoll an, als würde sie auf eine Erklärung warten.
„Ja. Du hattest recht gehabt. Ich hätte zuhause bleiben sollen", murmelte Mila und senkte etwas den Kopf. „Ich hatte Fieber und da Elon Auto fahren konnte, hat er sich angeboten mich nachhause zu bringen. Ich habe mich dann ins Bett gelegt, etwas gegessen und geschlafen", erklärte sie und ließ aus, dass Elon bei ihr im Zimmer gewesen war.
„Mila, ich weiß, dass dein Vater diesen Jungen eingeladen hatte, doch das heißt nicht, dass ich meine Meinung über ihn geändert habe. Du hast doch selbst gehört, dass sein Vater alleinerziehend ist und was habe ich dir immer über alleinerziehende Eltern gesagt?", fragte sie ausdrücklich verärgert, als würde sie Mila einen Vokabeltest abfragen.
„Das sind Leute, die weder ihre Kinder noch ihr Leben im Griff haben", führte Mila gemäß den Satz ihrer Mutter fort.
Was sollte sie auch anderes sagen? Sie wusste ja, dass ihre Mutter das nicht gewollt hatte, doch hätte Mila bis jetzt, wo ihre Mutter endlich gekommen war, in der Schule im Krankenzimmer verbringen sollen? Oder hätte sie einen Krankenwagen holen lassen sollen? Sie hatte Glück gehabt, dass Elon dagewesen war und ein Auto besaß, sonst hätte sie ihre Zeit in der Schule todschlagen müssen und dann wäre sie noch nicht wieder so erholt.
Das sollte sie allerdings auf keinen Fall vor Elon erwähnen. Am Ende würde er ihr noch mehr Gefälligkeiten in Rechnung stellen, als ohnehin schon.
„Ganz genau. Also halt dich von solchen Leuten fern, sie sind nämlich ansteckend", pikierte sich ihre Mutter und verzog das Gesicht, während sie begann in ihrem Zimmer zu schnuppern, als würde sie etwas riechen.
„Natürlich, Mutter", sagte Mila ergeben und spürte das Bedürfnis in sich aufkommen, ihrer Mutter zu widersprechen. Und die heftigen Kopfschmerzen, die langsam zurückkamen. Sie wusste, dass sie diese Diskussion hätte meiden sollen.
Mila griff sich an den Kopf und versuchte ruhig und gegen die Schmerzen zu atmen. „Ich würde mich jetzt gern wieder hinlegen", erklärte sie und wankte ein wenig auf ihr Bett zu.
Clarice rümpfte kurz nachdenklich die Nase, bevor sie ein kurzes, zustimmendes Nicken von sich gab und Mila einen spitzen Kuss auf die Wange andeutete. „Ist gut Liebling. Ich sage Anna sie soll morgen zu Hause bleiben, damit sie sich um dich kümmert. Schreib mir eine Nachricht, wenn du etwas brauchst", rief sie ihrer Tochter nach, während sie bereits wieder im Flur verschwand.
Mila seufzte erschöpft und kuschelte sich dann wieder unter ihre Bettdecke. Der Tag war anstrengender verlaufen, als sie erwartet hatte, aber zumindest würde sie sich morgen ein wenig ausruhen können. Sie hoffte nur, dass diese Kopfschmerzen endlich nachließen.
Gerade als sie es sich bequem gemacht hatte, merkte sie wie außerhalb vor ihrem Balkonfenster ein Licht anging. Merkwürdig. Sie hatten keine Außenbeleuchtung und auch in vorigen Nächten, war Mila nichts davon aufgefallen. Doch es war zu hell, als dass sie schlafen konnte und die Vorhänge hatte sie natürlich nicht zugezogen.
Unzufrieden erhob sie sich wieder aus dem Bett, um auf die Balkontür zuzugehen und sie zu öffnen. Dann trat sie auf den Balkon hinaus und bemerkte, dass das Licht vom anderen Haus herkam.
Wahrscheinlich war es ihr bisher nicht aufgefallen, weil sie und auch ihr Nachbar die Vorhänge zugezogen hatten. Doch jetzt sah sie Elon, der vor seinem Zimmerfenster stand. Es lag genau ihrem gegenüber.
Elon schien sie nicht bemerkt zu haben, auch wenn mitten auf dem Balkon zu stehen nicht wirklich die beste Tarnung war, die man sich vorstellen konnte. Doch womöglich war er nicht allzu positiv gestimmt, da sie ihn vom Balkon geschubst hatte. Er schien noch immer erschöpft und auch nachdem er sich die graue Wollmütze vom Kopf gezogen hatte und in eine Ecke geworfen hatte, waren noch immer einige Grasreste in seinen blonden Haaren verflochten.
Dafür würde sie sich morgen bei ihm wohl entschuldigen müssen. Aber besser, als wenn er mit ihrer Mutter zusammengestoßen wäre.
Trotzdem hoffte sie, dass sie nicht noch mehr Gefallen bei ihm dafür offen hatte.
Sie beobachtete ihn noch eine Weile, wie er sich halbherzig das grasbefleckte Shirt über den Kopf zog, doch anscheinend die Kraft verlor und sich einfach so auf sein Bett fallen ließ.
Ein wirklich sehr, sehr seltsamer Kerl. Aber sie würde sich später Gedanken um ihn machen. Jetzt würde sie sich wieder zurück ins Bett legen.
Zuletzt sah sie noch wie ein etwas älterer Mann mit schwarzem Haar sein Zimmer betrat, wohl einige Worte sprach und dann das Licht erlöschen ließ. Dabei ließ er auch Mila in der Dunkelheit zurück, in der sie nichts mehr sehen konnte. Wohl sein Vater? Er sah noch überraschend jung aus, doch das konnten auch gute Gene oder junge Schwangerschaften sein... letzteres würde ihre Mutter wohl dazu veranlassen eine Zwangsversteigerung des Hauses zu veranlassen.