Ich bin noch nicht besonders lange unterwegs auf meinem Weg nach Hause, als ich erneut ein Puffen vernehme. Ein schneller Blick nach hinten offenbart mir meinen neuen Freund Clive Hanger, der in einer rosa Wolke über dem kleinen Trampelpfad schwebt.
„Das Wichtigste hab ich natürlich ganz vergessen“, meint er etwas kleinlaut. „Du hast nur ein Jahr Zeit, um mir die Tränen zu bringen. Ähm, das war's jetzt aber wirklich.“
Damit verpufft er wieder. Ich schüttelte seufzend den Kopf. Bis gerade eben habe ich versucht, mich der Illusion hinzugeben, dass das alles nur ein sehr verrückter Traum war. Jetzt kann ich mir da nicht mehr so sicher sein.
„Du weißt schon, dass Wölfe keine Kalender haben?“, belle ich gegen den Himmel, aber ich erhalte natürlich keine Antwort. Egal, ein Jahr ist lang, wenn ich mich nicht täusche – vier Jahreszeiten. Das sollte ausreichend Zeit sein, um zu erfahren, wer das Mondkalb ist und es zum Weinen zu bringen.
Doch obwohl ein Jahr für einen Wolf sehr lang ist (umgerechnet sieben Menschenjahre, ist das zu fassen?!), beschleicht mich ein schlechtes Gefühl. Es ist niemals eine gute Idee, sich auf irgendwelche dahergelaufenen Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten einzulassen, doch genau das habe ich getan. Zugegeben, er hat mir keine große Wahl gelassen, doch auch diese Tatsache gibt mir zu denken. Während ich also zu meinem Bau zurückkehre, schwirren mir unzählige Horrorszenarien durch den Kopf.
„Lyssa“, schimpfe ich mit meiner Fantasie. Die ist nämlich für die Schreckensbilder verantwortlich. „Nicht hilfreich!“
Sie hört allerdings erst auf, als ich mich unvermittelt in der kleinen Höhle wiederfinde, die mir im Moment als Schlafplatz dient. Es wird immer schlimmer mit ihr. Die Visionen waren auch der Grund, warum ich die schicksalshafte Klippe nicht rechtzeitig gesehen hatte.
Die Höhle ist nichts Besonderes, aber für mich reicht sie, und es ist ja auch nur temporär. Es muss mal ein alter Bau von Riesendachsen oder Erdferkeln gewesen sein, doch sie ist inzwischen verlassen. Zurückgeblieben sind einige Gänge und größere Höhlen mit erdigen Wänden, deren Haupteingang gut verborgen zwischen einigen Farnen liegt. Der zweite Ausgang ist sogar noch besser versteckt, denn er führt in eine Höhle hinter einem kleinen Wasserfall. Leider ist der Zugangsweg zum Notausgang dann doch etwas zu schmal und abenteuerlich für einen alternden Wolf wie mich und ich beschränke mich auf den breiteten Zuweg.
Jetzt suche ich mir erst einmal eine bequeme Position auf der Erde in einer Sackgassenhöhle, die nur einen Zugang hat (viele der anderen Höhlen sind in Wahrheit Kreuzungen, richtig zugig ist es da) und platziere den Kopf auf den Pfoten. Ich muss nachdenken.
Das einzige, was ich fertigbringe, ist jedoch, mich langsam in den Wahnsinn zu treiben, während Lyssa mir immer neue Apokalypsenszenarien ausmalt, die ich unabsichtlich auslösen werde, weil ich meine Seele verkauft habe.
Ich muss also nicht nachdenken, ich muss hier raus und brauche kompetente Beratung. Zum Glück kenne ich eine Expertin in Sachen verkaufte Seelen: Eine gute Freundin von mir ist „glücklicherweise“ ein Dämon. Ein eiskalter Feuerdämon, um genau zu sein. Wenn mir jemand sagen kann, wie ich Clive Hanger austricksen kann, dann sie. Ob sie es mir sagen wird, ist eine andere Geschichte. Doch einen Versuch ist es definitiv wert.
Ich verlasse also den ehemaligen Riesendachs-oder-Erdferkel-Bau, ohne einen wehmütigen Blick zurück, und begebe mich auf eine Dämmerweltreise. Die Sonne steht genau richtig, denn ihre Strahlen treffen schräg auf den Wald und malen sich im tanzenden Staub deutlich ab. Wenn man jetzt dreizehneinhalb Herzschläge vorwärtsgeht, dann einen metaphorischen Schritt macht und vielleicht noch ein bisschen Mutters Spucke einsetzt, kann man die Sonnenstrahlpfade betreten und sich aufmachen in die Regenbögenweiten, wo sich schließlich die Sternfelder vor einem erstrecken, unzählige winzige Lichtpunkte in einer Schwärze, die nur von schwach glimmenden Pfaden durchbrochen wird.
Hier gibt es unzählige Wege, so viele wie Sterne am Himmel! Das zählt übrigens die Sterne mit, die Menschen gar nicht sehen können, sondern nur Wölfe.
Sich angesichts dieser Unendlichkeit zu verlaufen, hätte vermutlich tödliche Folgen, denn allzu leicht landet man in einer gruseligen Zwischenwelt. Und dummerweise ist es unmöglich, sich alle Wege in diesem verwirrenden Netz zu merken. Schlimmer noch, sie wechseln manchmal ihre Plätze, tauchen auf und verschwinden, wie sie Lust haben. Zum Glück muss ich mich nicht auf mein Glück verlassen, denn ich hab‘ noch einen gestohlenen Schimmer Plotrelevantaccident (kurz: PRA), der mich mit unnatürlicher Sicherheit zum nächsten POI führt, während der Held, dem der Schimmer mal gehörte, vermutlich gerade durch Red-Herring-Land irrt, ohne den notwendigen Zufall, der ihn auf die richtige Spur bringt. Billige Stilmittel sind eben unzuverlässig, besonders, wenn kleptomanische Grauwölfe herumschleichen, die sowieso nicht viel von Romantikgeschichten halten.
Wie auch immer, das Leuchten führt mich direkt zum richtigen Stern und ehe ich mich versehe, stehe ich im arktischsten aller arktischen Winter und kann vor lauter Schneesturm keine Wolfslänge weit gucken. Der Wind heult wie tausendundeine verlorene Seele, die Kälte beißt sich in meiner Nase und den Pfotenballen fest und der Schnee färbt mich so weiß wie einen Tundrawolf.
Ja, hier bin ich wohl richtig. Die Eiswüsten von Ishmaril, das so ziemlich unwirtlichste Land nach der prävitalen Erde und einem Streichelzoo voller klebriger Menschenwelpen. Ishmaril ist ein Traumort, was so viel bedeutet, dass es nicht an irdische Gesetze gebunden ist, sondern irgendwo in der Schimmerwelt liegt. Und das wiederum bedeutet, dass die Temperaturen hier auch gerne mal unter den tiefstmöglichen Nullpunkt fallen!
Bibbernd kämpfe ich mich einige Schritte vor, gegen den Wind gestemmt, der mich wohl am liebsten zurück auf die Schimmerpfade blasen würde. Die Kälte und der heftige Sturm, der mir direkt ins Gesicht fegt, machen das Atmen schwierig. Auch wittern kann ich nichts als die Kälte. Vermutlich bin ich allein.
Es könnte aber auch sein, dass sich ein Rudel Ishmaril-Wölfe direkt vor mir befindet und nur darauf wartet, mich in Fetzen zu reißen. Und dann gibt es hier noch Eisdrachen, die wie Haie durch den Schnee gleiten – nur, dass sie wie riesige Schlagen aussehen und keine Rückenflossen haben, die ihre Opfer warnen, ehe ihre Kiefer auch schon von unten zuschnappen. Ganz zu schweigen von den Werwölfen, Vampiren und …
„Lyssa, es reicht!“
„Bäh“, macht sie trotzig. Aus dem Augenwinkel kann ich das blaue Leuchten sehen, eine kleine Lichtkugel mit zuckenden Strahlen. Der Wind macht ihr nichts, denn sie existiert auf einer anderen Ebene. Die meisten anderen Wesen können sie nicht sehen, außer, sie entscheidet sich dafür. Und momentan hat sie beschlossen, für diverse Ungeheuer unsichtbar zu sein.
Dabei ist die größte Gefahr viel banaler: Wenn ich nicht bald aus dieser Kälte herauskomme, werde ich mir keine Sorgen mehr über Wölfe, Werwölfe oder Schneeschlangen machen müssen.
Ich suche auf gut Glück nach einer höheren Schneewehe, die mir Schutz vor der Kälte bieten könnte. Mein Fell ist zwar für kalte Temperaturen ausgelegt, aber ich bin kein Eisbär, und selbst die könnten hier Probleme bekommen.
Über das Rauschen des Windes in meinen Ohren höre ich plötzlich ein jämmerliches Quieken. Das Geräusch ist kaum zu verstehen, doch es wird schnell lauter – etwas kommt auf mich zu.
Ich ducke mich an den Boden – brr, ist das kalt am Bauch! – und versuchte mit zusammengekniffenen Augen, etwas vor mir zu erkennen. Schatten verwandeln sich in vielköpfige Drachen und andere Monster.
Doch was dann plötzlich aus dem Treiben hervorbricht, holt mich dann doch von den Pfoten – im übertragenen wie im wirklichen Sinne, denn der riesige Wolf rennt mich einfach über den Haufen und wir kugeln gemeinsam durch den Schnee.
Die Kälte und die Angst lassen mich sofort wieder auf die Füße springen und ich stehe dem großen Monster gegenüber, das ein kleineres, zappelndes Wesen im Maul hält.
Ishmarilwölfe sind nun wirklich nichts, dem man im Dunkeln begegnen möchte. Selbst am hellen Tage möchte ich das eigentlich nicht, aber hier sind wir nun. Sie sind deutlich größer als ein gewöhnlicher Wolf, und auch größer als die Sternwölfe; und da Sternwölfe doppelt so groß wie Kanonikos sind, heißt das einiges.
Während Sternwölfe aber aussehen wie normale Wölfe, haben die Ishmarilwölfe andere Proportionen. Sie haben größere Muskeln und breitere Schnauzen, die ja ihren ganzen zusätzlichen Zähnen Platz bieten müssen, und ihre Pfoten sind ebenfalls größer, mit langen, rötlichen Krallen.
Das Tier, das mir knurrend gegenübersteht, hat glühende Fiebersternaugen und weiße Tupfen im schwarzen Fell. Er starrt mich mit einer Mischung aus Ärger und Irritation an, offenbar hat er nicht damit gerechnet, im Schnee über einen kleineren Artgenossen zu stolpern. Oder er überlegt noch, ob ich ein Welpe bin, den er aus seinem Rudel kennt, oder doch eher eine Zwischenmahlzeit. Den Moment der Verwirrung nutzt jedenfalls das blaue Tierchen, das in seinem Maul gezappelt hat: Es windet sich frei und plumpst in den Schnee. Wieder erklingen die jämmerlichen Fiepslaute, die mich auf den nahenden Gegner aufmerksam gemacht haben. Sie stammen von seiner frettchenartigen Beute, die mit ungelenken Bewegungen über den Schnee hüpft, flatternd unterstützt von zwei kurzen Stummelflügeln auf dem Rücken. Das unheimliche Ding hält direkt auf mich zu und ist, ehe ich mich wehren kann, unter meinem Bauch verschwunden.
Das gefällt dem Ishmarilwolf kein bisschen. Seine glühenden Augen verengen sich und er bleckt die Zähne.
„He, hör mal, ich wollte dir nicht die Jagd versauen“, beginne ich und will zurückweichen, um ihm seinen blauen Zahnstocher zurückzugeben, doch das Mistding hält sich direkt unter mir.
Der riesige Wolf duckt sich zum Sprung.
Dann ist er weg. Und erst ein Blinzeln später hat mein Gehirn rekonstruiert, dass er von einer unsichtbaren Macht nach hinten gerissen wurde, ehe er springen konnte. Knurren und Brüllen ertönt, die Geräusche eines heftigen Kampfes. Dann faucht Feuer über den Schnee und taucht die Wirbel in oranges Licht.
Ich presse mich flach an den Boden und starre nach vorne, wo ein hohes Winseln langsam erstickt.
Das gerettete Mistvieh windet sich zwischen meinen Pfoten und beißt mich plötzlich ins Bein, sodass ich aufspringe. Das längliche Tier wieselt davon – es ist wirklich eine Art blaues Wiesel mit kurzen Flügeln und zwei kleinen, schwarzen Hörnern.
Furchtlos läuft es in die Richtung, aus der die Flammenzungen kamen. Aus dem Schneesturm schält sich ein großer Schatten, der mit mächtigen, schweren Schritten auf mich zu kommt und nur kurz innehält, als das blaue Wesen über eine weiße Pfote nach oben klettert.
Es handelt sich um einen riesigen Tiger mit weißem Bauch und feuerrotem Rückenfell und Mähne, noch etwas größer als ein Ishmarilwolf und mit schrägstehenden, gelb glitzernden Augen. Das blaue Wesen klettert auf die Schulter des Tigers und keckert zufrieden.
Ich erhebe mich und richte erleichtert die Ohren auf. „Ifrit!“
„Marvin! Was machst du denn hier? Du solltest doch überhaupt nicht hier sein.“
„Na ja.“ Ich lege ein Ohr an. „Ich brauche deine Hilfe.“
Der Tiger seufzt. „Was ist? Hast du wieder einen Dorn in der Pfote?“
„Es ist ... etwas schlimmer.“