„Das klingt übel.“ Ifrit nickt anerkennend, nachdem ich ihr die ganze Geschichte erzählt habe.
Inzwischen sitzen wir in einer geräumigen Höhle, deren Eingang mit Schnee verdeckt ist, durch den nur noch sanftes, gedämpftes Licht dringt. In der Mitte der Höhle flackert ein hübsches Feuer, neben das ich mich dankbar gelegt habe. Ifrit liegt in Gestalt eines Tigers im hinteren Teil der Höhle und kaut an den Resten eines erlegten Elchs. Ihr Schmatzen hallt durch die ganze Höhle und lässt mich der Vermutung erliegen, dass sie mein Problem nicht ganz so ernst nimmt, wie ich es mir erhofft hatte.
„Und? Kennst du den Kerl?“, hake ich nach.
„Clive Hanger? Nie gehört. Ich kenne niemanden, der so ein dummes Pseudonym wählen würde“, nuschelt Ifrit mit einem Elchbein zwischen den Kiefern.
„Sagt ausgerechnet 'Samira Hain'“, rufe ich ihr in Erinnerung.
Der Tiger hebt den gelb leuchtenden Blick. Unangenehmes Schweigen füllt die Höhle. Ich betrachte die blutverschmierten Lefzen und Lyssa malt mir vor die Augen, wie viele Wölfe nötig wären, um einen Elch zu töten.
„Tut mir leid.“
Zufrieden beugt sich der Tiger wieder über seine Beute. „Isst du nichts?“
Ich werfe einen Blick auf das Schulterstück, das sie mir großzügigerweise überlassen hat (sie mag die Schultern nicht), und schüttele den Kopf. Elchfleisch ist zäh und schmeckt nicht mal besonders gut. Außerdem habe ich nun wirklich andere Probleme!
Ifrit seufzt und hebt den Kopf. „Wieso gehst du eigentlich davon aus, dass ich alle Dämonen kenne?“
„Weil du immer alle kennst.“
„Überhaupt nicht! Und selbst wenn, du weißt doch am besten, dass wir verschiedene Formen annehmen können. Unmöglich, da den Überblick zu behalten. Himmel, es könnte eine neue Gestalt von Asmodai sein!“
„War es Asmodai?“
„Nee, er hat ein Alibi.“ Ifrit nickt mit dem Kopf zu dem blauen Frettchen, das sich auf einen kleinen Felsvorsprung gehockt hat und an einem Keks knabbert. Der Biss von dem Vieh brennt noch wie die Hölle, aber bisher hat Ifrits fieses Schoßhündchen keine Anstalten gemacht, sich zu entschuldigen. „Er wollte FayTay entführen lassen. Du bist in seinen Boten reingerannt.“
„Eher der Bote in mich.“ Ich werfe Fairytale einen giftigen Blick zu, doch das blaue Frettchen knabbert mit aufreizender Selbstzufriedenheit weiter. „Heißt das nicht, dass du mir einen Gefallen schuldest?“
„Was soll ich tun, Antworten herbeizaubern?“, fragt Ifrit. „Ich bin nicht der tausendäugige Dschinn!“
Ich seufze. „Hilf mir. Sag mir, was ich tun soll!“
„Ich denke, du solltest auf seine Forderung eingehen. Besorg' ihm die Tränen vom Mondhuhn oder was auch immer. Wenn er sich an die Regeln hält, wird er danach deine Seele freigeben.“
„Und wenn nicht?“
„Gibt es keinen Grund, dir überhaupt Forderungen zu stellen.“ Ifrit knabbert an dem Bein weiter. „Nicht alle Dämonen sind so sportlich fair wie ich, aber wir alle sind faul. Wenn er dich direkt hätte töten wollen, hätt' er's gemacht. Unser Clive ist aber offenbar Traditionalist, er fordert dich heraus. Die Aufgabe wird vermutlich unmöglich sein, aber du hast noch eine Chance.“
„Unmöglich?“ Das klingt jetzt nicht ermutigend!
„Na ja, Dämonen gehen selten ein Risiko ein. Wir mögen unsere Seelen gerne eingelegt in Zermürbung und Verzweiflung. Das beste Rezept dafür sind unerfüllbare Aufgaben, aber wir sind hier im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, also könntest du eine gewisse Chance haben, den Mondesel zu finden und seine Tränen zu bekommen.“
„Mondkalb“, verbessere ich abwesend.
„Wie auch immer.“ Ifrit zuckt genervt mit dem gestreiften Schwanz. „Du solltest besser mal herausfinden, wo der Mondfisch lebt und ob er weinen kann.“
„Ich habe doch ein ganzes Jahr Zeit!“
„Und ich könnte wetten, dass das so gerade eben ausreicht“, gibt Ifrit zurück. Sie hat ja auch irgendwo Recht, Dämonen kann man einfach nicht trauen.
„Und du bist sicher, dass du ihn nicht kennst?“
Ifrit verdreht die gelben Augen. „Marvin, wie viele meiner Gestalten kennst du?“
Ich rechne kurz nach: Da ist ihre Tigerform und die eher menschliche Gestalt und die vollends menschliche Gestalt, ihre Form als Samira Hain, die Französin, die Schlange, …
„Genau. Ich merke mir doch nicht, welche Formen die anderen Dämonen alle haben!“ Mein Gesichtsausdruck muss wohl Bände sprechen. „Außerdem kommen ja auch immer mal wieder neue Gestalten dazu. Selbst wenn ich mich dafür interessieren würde, ich könnt's dir nicht sagen. Einen Clive Hanger habe ich noch nie getroffen, aber das heißt nix.“
Geschlagen lasse ich den Kopf hängen. „Also muss ich das Mondkalb suchen.“
„Ich würde auf dem Mond anfangen.“ Ifrit grinst süffisant.
„Ich heiße doch nicht Laika!“, knurre ich gereizt. Wölfe und Hunde im Weltraum sind immer noch ein Thema, über das ich keine Scherze mache. Überhaupt Tierversuche – reicht es den Menschen nicht, sich gegenseitig zu vergiften?
„Dann würde ich sagen, du beginnst mit Recherche“, schlägt Ifrit erstaunlich hilfreich vor. „Die große Wikibibliothekia sollte dir weiterhelfen können.“
„Ich glaube, es heißt Wikiothek“, meine ich müde.
„So dürfen sie nur ihre Freunde nennen.“
„Ich bin ja wohl ein Freund!“, knurre ich. „Ich habe sogar ein Jahresticket.“
„Du bist ja auch ein Nerd.“ Da hat Ifrit nicht ganz Unrecht. „Soll ich dich noch zu den Sternwiesen bringen?“
„Das wäre nett. Hast du denn nichts Anderes zu tun?“
Sie zuckt mit den Schultern. „Wie gesagt, du solltest eigentlich nicht hier sein. Asmodai hat FayTay entführt und wenn alles nach Story gelaufen wäre, wär‘ ich jetzt wohl in seinem Schloss und müsste mir den nächsten schlauen Einfall anhören. Also ja, ich hab‘ Zeit.“
„Oh, tut mir leid. Ich wollte nicht in der Geschichte herumpfuschen.“ Außerdem hätte es Fairytale gutgetan, mal ein paar Tage eine Geisel zu sein! Als würde es meine Gedanken lesen, faucht das geflügelte Frettchen giftig.
Ifrit erhebt sich schwerfällig. „Dazu ist es jetzt eh zu spät. Mein liebster Halbbruder wird warten müssen.“
Ich trotte ihr hinterher und schüttel' mich unwillkürlich, als wir hinaus in den Schneesturm treten. Ifrit trottet unbeirrt voraus und ich folge eilig in ihrem Windschatten. Fairytale rollt sich auf meinem Platz vor dem Feuer zusammen und grinst uns hinterher.
*
Wenig später lässt mich Ifrit auch schon allein und ich befinde mich wieder zwischen unzähligen Lichtpunkten in der Finsternis. Ich ziehe meinen PRA hervor und will den Schimmer aktivieren.
In diesem Moment, aus heiterem Himmel, kommt etwas aus der Dunkelheit herbeigeflogen und im nächsten Moment ist mein teures Hilfsmittel weg.
Ich wirbele herum und kann noch eine Elster sehen, die nach ihrem Sturzflug flatternd davonfliegt, meinen Plotrelevantaccident in den Krallen.
„He! Das brauche ich!“, rufe ich ihr nach. Als Antwort erhalte ich nur ein höhnisches Krächzen. Täusche ich mich, oder klingt das fast wie die Stimme von Clive?
„Komm zurück!“
Aber der diebische Vogel ist entschwunden. Ich sehe mich schon auf alle Ewigkeit durch die Finsternis irren, immer auf der Suche nach einem Ausgang, der mich zur Wikiothek führt.
Nein, Moment, das ist schon wieder Lyssa!
„Sei still!“, fahre ich sie an, worauf sie sich fanatisch lachend in einen hinteren Winkel meines Bewusstseins zurückzieht.
Ich versuche, mich zu konzentrieren. Was bleiben mir für Möglichkeiten? Klar, könnte ich zurück nach Ishmaril und Ifrit um Hilfe bitten, aber die Chancen stehen hoch, dass ich ihr dann ebenfalls die Tränen eines Mondkalbs bringen darf. Nein, so weit kommt es noch! Aber ich bin ein erfahrener Grauwolf. Ich brauche nur einen neuen Protagonisten, den ich überfallen kann. Die gibt es doch wie Sand am Meer, also muss ich mich nur in den nächsten Stern stürzen.
Ja, und hoffen, dass ich nicht direkt unter einer fallenden Atombombe rauskomme oder etwas in der Art. Die größte Gefahr hier ist, dass man nie weiß, wo man landen wird. Doch mir bleibt keine Wahl, denn wenn es stimmt, was Ifrit meinte, habe ich keine Zeit zu verlieren.
Ich schnuppere und wähle dann auf gut Glück einen Stern aus. Über den sanften Leuchtepfad stürze ich mich in sein helles Licht. Alles wird blendend weiß, und dann …
… stehe ich mitten im Wald. Ein Wald, der sich durch nichts von jenem unterscheidet, in dem ich Clive Hanger begegnet bin. Die Blätter rauschen friedlich und ein paar Vögel lärmen auf mein Erscheinen hin. Ein Kaninchen sucht panisch das Weite. Hmm, lecker! Wo eines ist, müssten doch auch noch mehr sein ...
Aber nein, ich muss mich konzentrieren. Ich muss dringend herausfinden, wo genau ich gelandet bin. Wenigstens bin ich zurück auf der Erde, und das macht mir Mut.