Ich blinzele in das ungewohnt grelle Sonnenlicht, als ich die Wikiobiblika verlasse. Meine Augen sind den Sonnenschein schon gar nicht mehr gewohnt.
Mein Fell ist leicht gesträubt und in meinem Bauch ist ein gewaltiger Druck, der sich gerne in Form von Energie nach außen drängen würde. ICH MUSS HANDELN!
Ich habe so viel Zeit vergeudet und nun müsste ich eigentlich auf direktem Weg auf den Mond, nur leider ist das unmöglich. Ich kann mir nun einmal keine Flügel wachsen lassen, also braucht es einen anderen Plan.
„Mond, Mond, Mond“, murmele ich leise vor mich hin.
„He, Wolfchen!“, zischt es mit einem möglicherweise russischen Akzent aus einer dunklen Seitengasse.
Ich spitze die Ohren. „Meinst du mich?“
„Siehst du hier sonst noch einen Wolf?“ Ich höre ein genervtes Stöhnen und sehe einen dürren, hochgewachsenen Schatten, der sich im Dunkel der Gasse bewegt. Mein geheimnisvoller Gesprächspartner drückt sich im Eingang eines Hauses herum, weicht dem Sonnenlicht aus und klingt ausgesprochen müde.
Vermutlich hat er einen Kater.
Ich sehe die Straße hinauf und hinunter, kann aber tatsächlich keine anderen Wölfe entdecken und nur einige verschreckte Menschen, die mich wie ein wildes Tier anstarren.
Ob das damit zusammenhängt, dass ich ein wildes Tier bin?
Ich trete in die Gasse. „Was kann ich für dich tun?“
„Ich denke, wir konnen einander helfen“, führt die düstere Gestalt, von der ich nicht viel erkennen kann, fort. „Du scheinst ein Problem zu haben. Mit dem Mond.“
Er spricht es „Moohnd“ aus, mit einem langen, kehligen „o“, und betont das „d“ sehr stark. Und mit sehr viel Atem, sodass ich eigentlich seinen Mundgeruch riechen müsste. Doch da kommt nicht viel Geruch.
„Das stimmt“, sage ich freimütig. „Ich muss unbedingt auf den Mond gelangen.“
„Oh. Auf den Mond?“ Er wirkt überrascht. Ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein Mann ist. Ein menschlicher Mann. Um das mal klarzustellen.
„Nun.“ Er scheint seine Überraschung zu überwinden. „Ich kann dir auch dabei ein wenig helfen. Ich habe einen Kontakt, der dich dort hinauf bringen kann.“
„Ehrlich?“, frage ich begeistert.
„Zuvor musst du allerdings mir helfen, Wolfchen!“
Ich lege nervös ein Ohr an, als mir bewusst wird, dass ich drauf und dran bin, einen neuen Handel mit einer zwielichtigen Gestalt in einer zwielichtigen Gasse einzugehen.
„Was soll ich denn tun?“, frage ich vorsichtig und werfe einen Blick nach hinten, um meine Fluchtwege auszukundschaften.
„Du musst für mich den Transport eines großeren Paketes uberwachen“, sagt der Schatten. „Ich mochte etwas nach Transsilvanien liefern lassen. Als Lohn helfe ich dir auf den Mond.“
„Und zurück?“
„Zum Mond und zuruck, naturlich, wenn das gewunscht ist.“
Ich nicke eifrig. „Ist es.“
„Dann einmal zum Mond und zuruck, wenn du das Paket ablieferst. Du musst nur den Transport uberwachen und dafür sorgen, dass einige wenige Regeln eingehalten werden.“
„Was ist das denn für ein Paket?“
„Sehr wertvoller Schmuck“, erklärt mein Gegenüber. „Er darf weder dem Sonnenlicht noch Wasser ausgesetzt sein, und es gibt noch ein paar andere Regeln. Bist du dabei?“
Schmuck? Das klingt mehr als harmlos. Ich nicke also. „Klar, ich … bin dabei.“
„Gut. Komm heute Abend wieder hierhin, mein Diener wird dir alles erklären.“
Heute Abend erst? Doch so sehr es mir widerstrebt, noch mehr Zeit zu vergeuden, ich gebe mich geschlagen und stimme zu, mich heute Abend mit dem Diener in dieser Gasse zu treffen. Mein Gesprächspartner verzieht sich in irgendein Menschenhaus und ich bleibe alleine zurück.
Schön, wie soll ich mir nun die Zeit bis zum Abend vertreiben?
*
Ich entschließe mich zu einem Stadtrundgang, denn wenn ich schon mal in Griechenland bin, kann ich mich gleich auch ein wenig umsehen. Da ich aber nun mal ich bin, finde ich mich eher früher als später in irgendeinem verwilderten Olivenhain wieder. Die Sonne brennt unbarmherzig vom Himmel, die Luft flimmert vor Hitze und der Boden unter meinen Pfoten ist nahezu unerträglich heiß.
Hechelnd rette ich mich in den Schatten eines Olivenbaums, bevor mir mein für sehr viel kühlere Temperaturen gewachsenes Fell noch zum Verhängnis wird. Gerade ruhe ich meine schmerzenden Pfoten aus, als ich Stimmen höre. Das eine könnte eine Frau sein, die mädchenhaft kichert – solche Geräusche kenne ich nur von Menschen – das andere klingt nach der Stimme eines Mannes, allerdings könnte es bei dem Lachen auch eine Ziege sein.
Neugierig setze ich mich auf und spähe durch das Gestrüpp einiger Büsche (könnten auch Weinreben sein. Keine Ahnung!), wo sich mir ein ungewöhnlicher Anblick bietet.
Die eine Person ist mir bekannt, und zwar ist es die freundliche Nymphe, die ich als Mitreisegelegenheit missbraucht habe. Das andere Wesen ist eine Art Mensch mit Ziegenbeinen und Ziegenkopf, der der Nymphe etwas ins Ohr flüstert, worauf sie noch mädchenhafter kichert. „Oh, Sosrax, du Chameur! Wirklich?“
Sie schmiegt sich an ihn.
Na, da will ich mal lieber nicht stören.
Taktvoll will ich mich rückwärts zurückziehen. Da knackt etwas sehr laut. Ich drehe mich um und entdecke einen trockenen Zweig unter meiner Hinterpfote.
Wo kommt der denn her? War der eben auch schon da?
„Wer ist da?“, fragt eine dunkle Ziegenstimme alarmiert.
Ich zucke zusammen. „N-niemand! Hier sind nur wir … trockenen Olivenzweige …“
Die Büsche vor mir werden auseinander gebogen und ich starre in zwei Paar Augen.
„Wer bist du?“, meckert der Ziegenbock, der leicht nach innen schielt. „Etwa ein Spanner?“
„Was? Nein! Ich bin Marvin Grauwolf und nur zufällig …“
„Das ist er!“, kreischt die Nymphe und deutet auf mich. „Du bist schuld, dass ich hier gestrandet bin!“
Sie springt vor und greift nach mir. Ich mache auf der Hinterpfote kehrt und sprinte den Weg zurück, den ich gekommen bin. Die Nymphe folgt mir unter Wutgeschrei.
„He, Schnittchen – warte!“, ruft Sosrax kläglich, doch da sind wir bereits außer Sicht. Wütend tritt der Faun gegen einen Ast auf dem Boden. Es ist der verräterische Ast, auf den ich getreten bin. Und dieser Axt kichert und verpufft vor dem erstaunten verhinderten Liebhaber in einer rosa Wolke.
Ich fliehe derweil zurück in die Stadt und bemühe mich, die wütende Nymphe im Gewirr kleinerer Gassen abzuschütteln. Sie ist erstaunlich schnell und erstaunlich hartnäckig, doch letztendlich bleibt ihr wütendes Gekreische hinter mir zurück.
Erschöpft lehne ich mich an eine Hauswand und atme erst einmal tief durch.
Gleich darauf reiße ich die Augen auf, als mir plötzlich bewusst wird, dass ich nicht nur die Nymphe, sondern auch meinen eigenen Orientierungssinn vollkommen verloren habe! Wie soll ich denn jetzt die Gasse wiederfinden, um mich für den Auslieferdienst zu melden?