Ich beschleunige meine Schritte, überhole die Kutsche, die gemächlich vorwärts zuckelt, und sprinte den kleinen Hügel hinauf, der sich inmitten der braunen Einöde vor uns erhebt. Der Regen, in dem wir losgezogen sind, ist längst sengender Sonne und heißer, trockener Luft gewichen. Der Himmel ist azurblau, kein einziges erlösendes Regenwölkchen ist zu sehen. Am Wegesrand wachsen Kakteen.
Es ist vielleicht schon aufgefallen, aber wir haben uns verirrt. Hauptsächlich, weil der direkte Weg nach Rumänien über einen Fluss geführt hätte, den wir auf keinen Fall überqueren dürfen. Eines führte zum anderen. Jetzt sind wir … irgendwo … und ich halte von dem Hügel aus Ausschau, ob ich irgendeinen Ansatzpunkt sehe: Ein Dorf, wo man nach dem Weg fragen könnte, beispielsweise, wie das, was sich da am Horizont abzuzeichnen scheint.
Volltreffer!
Ich wende mich zu meinem skurrilen Gefolge um, das sich um die Kutsche gruppiert und mir in langsamerem Tempo folgt.
„Da hinten ist was!“, rufe ich hinunter und trotte dann in die erspähte Richtung los. Es dauert nicht lange, und ich höre trabenden Hufschlag: Die fünf Fußgänger sind zu dem Kutscher auf den Karren gesprungen und die armen Friesen mussten das zusätzliche Gewicht zerren, bis sie mich erreicht hatten. Die stoischen Pferde schnauben, als der Kutscher sie wieder langsamer laufen lässt.
Der Schwarzgekleidete steht auf und sieht (vermutlich, ich kann ja sein Gesicht nicht erkennen) zu den von mir gesichteten Bauwerken hinüber.
„Das ist ein Friedhof“, knurrt Mortimer dann mit düsterer Stimme.
„Echt?“
Der Kutscher schnalzt und treibt die Pferde vorwärts, ohne auf meine mit etwas höherer Stimme als gewöhnlich vorgebrachte Nachfrage einzugehen.
Wir erreichen den Friedhof natürlich erst, als die Sonne bereits untergeht. Ein Schauer geht mir durch das Fell, während ich, meine sechs Begleiter und die beiden Friesen sich umsehen. Eine Art Holzbau erhebt sich in der Mitte, allerdings keine Kirche, nicht einmal eine verlassene, sondern eher die ausgebrannten Ruinen irgendeiner Kaserne. Es gibt auch keine Kreuze oder Grabsteine, sondern nur Hügel aufgeworfener Erde – das einzige intakte Gebäude ist ein stabiles Steinhaus etwas abseits, aus dem geisterhaftes Geheul erklingt. Ich dränge mich unauffällig in die Mitte meiner Weggefährten und schnuppere nervös in alle Richtungen. Irgendwas stimmt hier so gewaltig nicht, dass sich das Fell in meinem Nacken wellt!
„Die Gräber“, flüstert Hildtraut.
Ich richte meinen Blick auf das Angesprochene. Die Hügel sehen wirklich ziemlich lieblos aus, als hätte man hier einfach … irgendwelche Leute verscharrt …
Meine Gedanken tröpfeln aus wie Wasser aus einem leeren Wasserschlauch. Unter einem der Erdhügel habe ich die Ecken eines Kreuzes entdeckt. Bei genauerem Hinsehen finde ich auch weitere Grabsteine, die von aufgeschütteter Erde bedeckt sind. Warum sollte man denn die Grabsteine begraben? Insbesondere so ungeschickt! Es sind doch überall Löcher im Boden, wo man die Kreuze und Steine besser hätte verbuddeln können.
Eine leise Stimme meldet sich in meinem Kopf und flüstert: Ich denke falsch, richtig? Die Löcher sind nicht zufällig verteilt und die Grabsteine auch nicht seltsam zugebuddelt. Alles ergibt ein größeres Gesamtbild. Ein Bild von Gräbern, aus denen sich etwas nach oben gebuddelt hat, die Kreuze und Steine dabei umwerfend und unter der herausgegrabenen Erde verbergend …
„Zombies?!“, quieke ich.
„Die Schleifspuren passen nicht dazu“, meint Bohnenstange. Der dürre Mann kniet neben einem der offenen Gräber und besieht sich die Erde im schwindenden Tageslicht. „Die Spuren sind auch alle unterschiedlich frisch. Zombies wären im Rudel aus den Gräbern geklettert.“
„Vielleicht haben sie sich nicht auf einen Tag einigen können“, schlag ich nervös vor. „Oder ihre Wecker funktionierten nicht …“
Bohnenstange macht mir mit einem strengen Blick klar, dass jetzt nicht die Zeit für nervöses Gewitzel ist. Ja, weiß ich doch selbst.
„Es sieht eher so aus, als hätte etwas die Leichen nacheinander aus der Erde gezogen. Jede Nacht ein Grab. Doch jetzt ist der Friedhof leer.“
„Leichenfresser?“, fragt Hildtraut und zieht die Monobraue zusammen. „Dann sollten wir uns einen guten Unterschlupf für die Nacht suchen!“
Mortimer lacht tonlos. „Guck mal in den Himmel, Hildchen. Wir bräuchten den Unterschlupf jetzt.“
Ich ziehe unwillkürlich den Schwanz ein und sehe mich um. „L-Leichenfresser mögen doch keine L-Lebenden, oder?“
Angela, das junge Mädchen, lächelt mich warmherzig an: „Natürlich fressen sie auch lebende Beute, oder sie töten die Lebenden, um sie später zu fressen. Alles ist irgendwann tot.“
Dies ist eine gute Gelegenheit, um zu erwähnen, dass Angela mir aus der ganzen Truppe am unheimlichsten ist.
„Ich will nicht gegessen werden!“
„Ich auch nicht“, brummt Mortimer. „Nicht schon wieder.“
„Dann ist unser bester Schutz wohl Beweglichkeit“, überlegt Bohnenstange und klettert wieder auf die Kutsche. „Komm, Wachwolf.“
„Ihr wollt einfach weiterfahren?“
Meine Begleiter suchen bereits einen Platz rings um die längliche Kiste, die wir transportieren.
„Wenn wir uns irgendwo niederlassen, können die Leichenfresser sich nicht an uns heranschleichen. Als Wolf müsstest du das ja wissen: Was lässt sich leichter einkreisen – ein schlafenden Tier oder eine Herde in Bewegung?“
„Wir jagen eigentlich nur Herden in Bewegung“, brumme ich in meinem Stolz getroffen. Zum Kodex der Großen Jagd gehört es auch, dass die Beute eine Chance erhält. Solange sie sich also nicht absolut idiotisch hinlegt, darf sie unbescholten schlafen.
Meine Begleiter beachten meinen Einwand allerdings nicht. Kaum sitze ich hinten auf dem Karren, schnalzt Mortimer und die Friesen setzen sich in Bewegung.
Unser Karren rumpelt wieder von dem kleinen Friedhof herunter. Ein blasser Mond steht am Himmel und beleuchtet unseren Weg durch das ewige Grasland.
„Ich glaube, ich seh was“, vermeldet Siebenschläfer.
„Echt?“ Skeptisch betrachte ich das verfilzte Haar, das das Gesicht des Mannes komplett verbirgt.
Siebenschläfer deutet mit dem Finger und einem ebenfalls behaarten Arm nach vorne. (Ob seine Eltern wohl Gorillas …?) „Dort vorne. Ein Dorf.“
Ich folge der Geste. Häuser! Lichter! Schützende Gebäude!
„Endlich!“