Der nächste Morgen begrüßt uns wolkenverhangen. Der Regen wartet nur, bis wir die Zelte eingepackt haben, dann strömt er auch schon in wahren Wasserfällen vom Himmel. Während Mortimer die Pferde über die abenteuerlichen Bergpfade lenkt, trotten wir missmutig hinterher.
Mein Fell ist bis zum letzten Haar durchnässt und ich fühle mich, als würde ich nie wieder trocken werden können. Die Straße verwandelt sich außerdem in endlose Matschpfützen. Der Schlamm hängt sich als zusätzliches Gewicht an meine Beine und meinen Bauch, meine Pfoten stecken immer wieder fest. Wenn ich sie befreie, klingt das schmatzende Geräusch genau wie ein hungriger Sumpf.
„Da vorne!“, ruft Bohnenstange plötzlich überglücklich. „Ein Dorf!“
Ich hebe den Blick. Tatsächlich schält sich vor uns ein kleiner Hügel aus dem grauen Regen, zu dem die Straße uns lenkt. Mortimer lässt die Zügel knallen und die Friesen ziehen die Kutsche im flotten Trab vorwärts. Die Räder wirbeln Schlamm in die Luft, der auf uns herunterregnet.
„Hey!“, brüllt Hildtraut mit einem ausgeprägten Bass. „Nimm uns gefälligst mit, du Hund!“
„Schwingt die Hufe!“, ruft Mortimer über die Schulter und winkt uns.
Zähneknirschend nehmen wir die Verfolgung auf und holen die Kutsche auf dem Berghang sogar wieder ein. Auch die Pferde finden im Schlamm nur wenig Halt.
„Na, mein Freund?“ Pumpkin lehnt sich gegen die Kutsche, der Karren rutscht mitsamt den Pferden ein Stück nach unten.
„Ist ja gut, ist ja gut!“, brummt Mortimer. „Ihr versteht aber auch gar keinen Spaß. Na los, helft mir schieben.“
Niemand rührt sich.
„Bitte“, fügt Mortimer gedehnt hinzu. Er schwingt sich vom Kutschbock und ergreift die Zügel der Pferde. Die restlichen fünf stemmen sich von hinten gegen den Karren und ich leiste moralische Unterstützung.
Als wir im Dorf ankommen, wurden wir bereits gesichtet und werden erwarteten. Etwa dreißig Bauern und Bäuerinnen sind angetreten. Ihre Kleidung erweckt in mir die Befürchtung, dass wir aus Versehen in der Zeit zurückgereist sind – aber das ist unmöglich, oder?
Jedenfalls stehen sie in ihren Türen und ein paar Jungen eilen uns bereits entgegen, um die Pferde in den Stall und uns ins nächste warme Haus zu zerren.
Der markerschütternde Schrei einer Frau durchbricht den Regen. Absoluter Terror schwingt in ihrer Stimme mit.
Ich sehe mich alarmiert um. Was ist los? Werden wir angegriffen? Ist irgendein gruseliges Monster aufgetaucht?
Ich kann nichts erkennen. Dafür schreien jetzt mehrere Dorfbewohner auf, machen komische Bewegungen vor der Brust und dann, als hätte man sie weggefegt, sind alle schneller zurück in ihren Häusern, als man „Was passiert hier?!“ schreien kann.
„Abergläubisches Pack!“, knurrt Mortimer und bringt die Pferde selbst in den Stall. „Los, Jungs, fragt die Leute einfach, wo wir hier sind.“
Die Menschen verteilen sich und klopfen an die Türen der vielen Häuser. Aus dem Inneren ertönen ängstliche Schreie, doch ich kann kein Wort verstehen. Dann wird eine Tür geöffnet, an die Angela eben noch geklopft hat.
Ich spitze erleichtert die Ohren. Jetzt erfahren wir, wo wir sind, und das komische Missverständnis – wovor die Dorfbewohner sich auch immer fürchten – wird aufgeklärt.
Dann wird aus dem Inneren der Hütte etwas geworfen, prallt gegen Angelas Brust und rollt über den Boden. Ein … ein silberner Becher?
Die Tür, an die Siebenschläfer gehämmert hat, wird ebenfalls aufgerissen und ein Mann mit weit aufgerissenen Augen entleert eine Truhe über dem Kopf unseres bärtigen Begleiters. Tafelsilber prasselt auf den Boden. Einige Gabeln bleiben in Siebenschläfers Bart hängen.
[Erinnerungslücke.
Ehrlich, wir Wölfe sind nicht so gut in Gedächtnisdingen, wie man glauben könnte!]
„Schneller!“, schreit Pumpkin. Mortimer peitscht auf die bemitleidenswerten Pferde ein. Diese flüchten vor dem Karren, an den sie gespannt sind, bergab. Wir restlichen hocken auf den Karren, klammern uns fest, so gut es geht (mit Pfoten ist das schon sehr schwierig) und sehen entsetzt zu, wie diverse wütende Bauern auf Kühen und Ackergäulen immer weiter aufholen.
Unser Karren ist gefüllt mit Silber. Unsere eigentliche Ware ist darunter begraben, aber … na ja, so was passiert. Es gibt sicherlich eine vollkommen logische Kette absolut normaler Ereignisse, die dazu führt, dass wir nun mit dem gesamten Kirchensilber von fünf rumänischen Dörfern auf der Flucht sind.
Mir fällt die Kette nur gerade nicht mehr ein. Ist ja auch egal. Jetzt müssen wir erst einmal entkommen.
In den fünf Dörfern, die wir nach und nach durchquert haben, auf einer Reise, die andere vielleicht als Schneise der Verwüstung beschrieben hätten, haben wir uns einige Informationen zusammenkratzen können.
Wir sind in Rumänien, und das Ziel unserer Reise muss sich relativ nah vor uns befinden. Nur noch ein paar Kilometer trennen mich von einem dankbaren Auftraggeber, der mich direkt zum Mondkalb bringen wird. Und dann ist diese chaotische Od(d)yssee endlich vorbei!
Ich werfe einen Blick zurück. Die Bauern haben aufgeholt und schwenken Mistgabeln und Fackeln. Ein Blick nach vorne zeigt mir ein schmales Tal, in das wir rasen, und hinter dem es über enge Kurven einen Berg hinauf geht, auf dem ein Schloss steht.
Dort müssen wir hin.
„Haltet euch fest!“, ruft Mortimer und flucht. „Die Brücke ist eingestürzt.“
Ich sehe über die Schulter des Kutschers. Der Weg führte einmal an eine kleine Steinbrücke, die über den Fluss im Tal ging.
Ich schließe die Augen. War da nicht noch eine Regel, die wir noch nicht gebrochen haben?