Okay, Bestandsaufnahme!
Ich befinde mich irgendwo im Nirgendwo der Karpaten. Mein Ticket auf den Mond habe ich offenbar verspielt. Wenn Dracula beim nächsten Mal, dass er mich sieht, nicht an einem Lachanfall erstickt, wird er mich vermutlich zum Teufel jagen. Wortwörtlich. Weiter kann man vom Mond nicht entfernt sein!
Und mir bleibt noch … wie viel Zeit, um die Tränen des Mondkalbs zu bekommen? Ähh … ich sollte mir wirklich einen Kalender zulegen. Also, mal nachrechnen. Als ich die Wikiobiblika verlassen hatte, bleiben mir noch etwa sechs Wochen. Pi mal Daumen hoch Rechnen-ist-was-für-konzentrierte-Leute … Davon jetzt die Zeit für das Herumirren mit Draculas Sarg abgezogen, habe ich noch … vier Wochen? Drei?
Ein hämisches Kichern lenkt mich ab. Ich drehte ein Ohr nach hinten. Ist etwa einer der beiden Lachsäcke hinter mir her gekommen?
„Du machst es mir schon fast zu einfach, Wölfchen …“
Clive Hanger! Ich erkenne seine Stimme sofort und wirbele herum. „Wo bist du?“
Da vorne! Ich sehe eine zartrosa Wolke zwischen den Stämmen. Mit einem leisen Puff löst sie sich auf.
Ich hetze zu der Stelle. Da, da ist ein zweites Wölkchen! Ich renne hinterher.
Puff.
„Zeig dich!“, brülle ich und fasse eine dritte Wolke ins Auge. Blindlings stürme ich darauf zu.
Puff.
„Hör auf mit dem Spi... aaahhh!“
Plötzlich ist da kein Boden mehr unter meinen Pfoten. Das passiert mir jetzt schon zum zweiten Mal in Clives Nähe. Zum Glück stürze ich nicht lange genug, um in Panik zu geraten. Schon kugele ich durch kaltes Wasser. Brr!
Mit klappernden Zähnen springe ich auf und schüttele das Wasser aus meinem Fell. Dann sehe ich mich um. „Clive? Wo bist du?“ Langsam werde ich ja echt sauer.
Plötzlich höre ich Blubbern und leises Klimpern wie von sehr feinen Glöckchen. In Zeitlupe drehe ich den Kopf. Zuerst allerdings die Ohren, dann die Augen und dann erst den ganzen Kopf. Ein leiser Schauer schleicht sich durch mein Fell.
„Bist du … Marvin Grauwolf?“
„Oh, ja, genau der bin ich!“ Ich sehe mich suchend nach meinem Gesprächspartner um. Clive Hanger ist es nicht, die Stimme, die ich höre, klingt viel tiefer und bassiger.
Oder … brassiger? Karpfiger?
Ich senke den Blick und entdeckte ein langes, grünrotes Wesen unter dem klaren, flachen Wasser des Baches. Ein sehr langer Fisch, der auf dem Kopf eine kleine Krone trägt. Ein bisschen kommt er mir bekannt vor. Besonders der Geruch nach Gurken, der ihn umweht. „Sag mal, kennst du so einen Fisch, der in Bächen lebt und Wünsche erfüllt? Ich musste mal so jemandem Schmuck für den Stintkönig bringen.“
„Dann streitest du es nicht ab?“, blubbert der Fisch.
Etwas verspätet nehme ich meine schrillenden Alarmglocken wahr. Oh-oh.
„A-abstreiten? Ähh, was denn?“ Ich mache ein paar Schritte rückwärts. Täusche ich mich, oder war das Wasser eben noch niedriger? Und warum brodelt es so?
„Du bist der Betrüger, der meinem Diener wertlosen Tand verkauft hat, und ihm dafür zwei wunderschöne Steine stahl!“
„Also … hör mal, so war das alles gar nicht!“, wehre ich mich, während ich ein paar Schritte zurückweiche. „Ich brauchte die Steine wirklich dringend, das waren die Augen eines Freundes …“
„Betrogen hast du mich! Belogen!“
„Aber es waren wirklich wertvolle Edelsteine an dem ...“
Ich kann nicht weitersprechen, den in diesem Moment brüllt der Fisch: „Tötet ihn!“
Er kann echt laut brüllen, so für einen Fisch ohne Lungen. Haben Fische überhaupt Stimmbänder?
Meine biologischen Fragen werden dadurch unterbrochen, dass das Wasser um meine Pfoten jetzt weiß schäumt. Es brodelt, allerdings ist es nicht kochend heiß, nicht einmal warm. Eine unbekannte Macht peitscht die Wellen. Und dann kommt eine Flutwelle um die Biegung des Baches, und zwar bachaufwärts! Die Wellen haben die Form von weißen Pferden.
„Ach, komm schon, das ist geklaut!“, rufe ich, während ich auch schon panisch die Flucht ergreife und den Bach entlang hetze. Zu beiden Seiten stehen hohe Tannen, mehrerer ihrer fies pieksigen Nadel liegen am Bachbett verborgen und bohren sich jetzt hinterhältig in meine Pfotenballen. Plötzlich sehe ich für einen winzigen Moment zwei kleine, leicht debil lächelnde Gestalten am Wegesrand. Sind das … Wiesenschrate? Sie erinnern mich sehr an mein Zusammentreffen mit den Zwergen, jedenfalls tragen auch sie Kastanien und solches Zeug als Kleidung.
Ich hetze vorbei und höre ein dünnes Stimmchen „Hanami!“ rufen. Ähh – Gesundheit? War das an mich gerichtet? Leider habe ich keine Möglichkeit, zu reagieren, und renne eiligst weiter, denn die weißen Pferde sind mir noch auf den Fersen. Sie kleben sozusagen an meinen Fersen. Ja, ‚Fersen‘ scheint ein guter Begriff zu sein, mit dem man sie umschreiben kann. Besser gesagt: Ihre Größe!
Verdutzt werde ich langsamer. Die Pferdchen umspülen meine Fersen – größer sind sie nämlich nicht – und überholen mich. Dann bremsen sie, wenden und kommen zurück.
Ich hebe eine Pfote ein Stück aus dem Wasser und einige der Schaumpferdchen hüpfen, um noch dran zu kommen. Die restlichen kitzeln meine drei anderen Pfoten.
Ich sehe mich um. Den Wald habe ich schon fast verlassen, vor mir kann ich die Quelle im Gestein sehen, der der Bach entspringt.
Warum bin ich auf meiner Flucht eigentlich im Bachbett geblieben, ich Leuchte? Wie nennt man das noch gleich im Internetslang? ‚Prometheus School of Running away from Things‘? Da hätte ich vermutlich als Klassenbester abgeschlossen!
Ich hüpfe aus dem Bach. Die Pferdchen seufzten enttäuscht und versinken dann wieder in den Wellen. Nachdenklich schüttele ich die letzten Tropfen aus meinem Fell und sehe mich um.
Okay, Bestandsaufnahme …
Ich befinde mich irgendwo im Nirgendwo der Karpaten. Und von dem Berg da habe ich bestimmt eine gute Aussicht, um mich zu orientieren!