Keuchend kämpfe ich mich höher. Die Luft hier oben ist irgendwie dünner als erwartet. Außerdem ist es kälter als erwartet. Und steiler als erwartet.
Wer jetzt sagen will, dass ich womöglich einfach keine Erfahrung im Bergsteigen habe, da möchte ich widersprechen. Ich bin durchaus schon einmal auf Berge gestiegen. Allerdings waren die kleiner.
Jetzt ist es eh zu spät, um wieder nach unten zu steigen. Im dichten Nebel innerhalb der Wolken kann man kaum die Pfote vor der Nase riechen und der tobende Schneesturm macht es nicht einfacher! Ich habe mich längst verirrt, irgendwo auf dem unebenen Hang, und bin bis auf die Knochen durchgefroren. Meine Zähne klappern – und bei so großen Wolfszähnen klingt das viel eindrucksvoller als bei Menschenzähnen! Na ja, es würde eindrucksvoller klingen, wenn ich nicht weniger zum Klappern und mehr zum Schnattern neigen würde … Ich schweife ab!
Jedenfalls kann ich kaum bis zur Nasenspitze sehen und spüre meine Rute und die Pfoten seit geraumer Zeit nicht mehr. Lyssa nutzt das dichte Schneetreiben, um mir fleißig Erfrierungstode auszumalen. Müde und halbblind stolpere ich weiter durch den Schneesturm. Ich hätte mich echt nicht nur auf mein dichtes Fell verlassen sollen. Hinterher ist man immer klüger!
Meine Schritte werden immer langsamer. Meine Gedanken ebenfalls. Es … ist … so … kaaalt …
Ich kippe auf die Seite. Nur einen Moment die Augen ausruhen … nur ein wenig durchatmen.
Hey! Mir wird ja wieder warm! Was so eine Pause nicht alles ausrichtet. Jetzt bin ich nur noch müde …
Ich höre im Halbschlaf schwere Schritte, die sich nähern. Aber irgendwie habe ich nicht die rechte Lust, den Kopf zu heben und zu sehen, was sich da nähert. Ich bleibe einfach liegen, wie ich hingefallen bin. Derjenige geht ja sehr langsam, da kann ich noch ein Momentchen liegenbleiben …
Schnee füllt meine Ohren und es wird still.
*
Als ich zu mir komme, liege ich im Inneren einer Höhle. Komisch. Wie bin ich denn hierher gekommen?
Ich hebe den Kopf und japse, als stechende Schmerzen durch meine Muskeln zucken.
„Liegen, du!“, grollt etwas.
Ich springe mit einem Kreischen in die Höhe und schieße trotz der protestierenden Muskeln aus der Höhle und hinein in neuerliches Schneetreiben. Ohrenbetäubendes Gebrüll verfolgt mich den ganzen Weg durch den Schnee, über den schrägen Hang und ins Nichts.
Wortwörtlich ins Nichts. Plötzlich ist nichts mehr unter meinen Pfoten als Luft. Einen Moment hänge ich da. Wie in so einem alten Comic. Obwohl es vermutlich eher an meinem Schwung lag, da ich ja gerannt bin. Dann beschreibe ich eine wunderschöne Sinuskurve in die Tiefe.
„Aaaahhh!“
*
Als ich zu mir komme, liege ich im Inneren einer Höhle. Komisch. Ist das ein Déjà-vu?
Diesmal bleibe ich ganz starr liegen. Was, wenn das hier wie in „Täglich grüßt das Murmeltier“ ist und ich aus dem Kreis ausbrechen muss? Plötzlich höre ich tiefes Knurren. Das klang fast wie ein Magen. Ein sehr großer, sehr hungriger Magen. Ich höre auch deutlich den Klang riesiger Zähne heraus!
Ein Zittern durchläuft meinen Körper, doch ich zwinge mich, ganz ruhig liegen zu bleiben. Vorsichtig öffne ich ein einziges Auge. Ich sehe etwas großes, das sich bewegt und … einen hellen Punkt. Der Ausgang!
Ich warte, bis der gigantische Schatten sich ein wenig zur Seite bewegt. Dann sause ich geduckt und wie ein abgeschossener Pfeil vorwärts.
Lautes Brüllen erklingt. Eine Pranke mit unglaublich langen, schwarzen Krallen verfehlt mich nur knapp. Ich schieße nach draußen, über den Schnee. Vor mir ist ein Netz. Wo zur sternenlosen Nacht kommt das Netz her?! Ich drehe ab und renne weiter aufwärts. Ich höre Schritte hinter mir.
Aufwärts … aufwärts …!
Die Felsen werden immer steiler, bis ich fast senkrecht nach oben flitze. Dann erinnert sich die Schwerkraft an meine Existenz. Meine Pfoten verlieren den Kontakt zum Stein. Ich kippe nach hinten, im nächsten Moment falle ich.
„Aaaahhh!“
*
Als ich zu mir komme, liege ich im Inneren einer Höhle. Mist.
Ich bleibe liegen und öffne ein Auge. Da ist das gruselige Monster und dahinter …
Was ist das?! Wo … wo ist der Ausgang hin und was macht das BRETT da, wo der Ausgang eben war?!
Ich springe auf, jaule vor Schmerz, und laufe zum Ex-Eingang. Lass mich raus, komm schon, bitte, lass mich raus …
„Liegen, du“, grollt es wie tausend Lawinen. „Du sonst Aua!“
„Drohst du mir etwa?“ Mit dem Mut der Verzweiflung drehe ich mich um und knurre das Riesending an. Wenn das hier „Täglich grüßt das Riesentier“ ist, muss ich bestimmt nur etwas absolut Untypisches tun, um zu entkommen ... zum Beispiel ein gruseliges Riesenvieh anzugreifen!
„Nicht drohen. Helfen.“
Ich starre den riesigen, weißen Fellklumpen vor mir an. Zwei lange Arme – mit den mir bereits bekannten schwarzen Klauen – zwei kurze Beine, an denen ich es vielleicht zu Fall bringen könnte, und einen kleinen Kopf mit einem breiten Maul, aus dem seitlich zwei Hauer ragen.
Und niedliche, schwarze Knopfaugen. Vollkommen ohne mein Zutun legt sich mein Fell wieder an. Das ist ja zuuu niedlich!
„Guuut“, grollt das Wesen. „Du legen. Wunden heilen. Durch Weglaufen schlimmer worden und mehr heilen.“
Ich werfe einen Blick zu meinem Rücken. Bei den Sternen, wo kommen die ganzen Schrammen her?
„Warum du auch von Berg springen?“, fährt das Wesen fort. „Ich dich finden erfrieren, dann du springen, dann du springen nochmal!“
„Ähm, also …“ Ich gucke betreten auf meine Pfoten und schleiche zurück zu dem Lager, auf dem ich nun zum dritten Mal aufgewacht bin. „Tschuldigung.“
„Du liegen“, grollt das flauschige, weiße Wesen in versöhnlichem Tonfall. „Ich machen Tee.“