Der Kasten klappert weiter und holpert dann eine Steigung hinauf, dass ich mitsamt den Decken nach hinten rutsche. Danach befinde ich mich wieder waagerecht. Einen Moment ist es still, dann ertönt ein ohrenbetäubendes Fauchen und ein Dröhnen. Ich legte die Pfoten über meinen Ohren, der Kasten zuckt und zittert wild. Oh Himmel hilf, ist das ein Erdbeben? Der Weltuntergang? Wo bin ich hier nur hineingeraten?
Dann wird es mit einem Mal still. Unendlich still. So still, dass es in meinen empfindlichen Wolfsohren schmerzt und klingelt. Ich halte unwillkürlich die Luft an und warte auf … irgendwas. Irgendein Geräusch muss es doch geben! Bin ich taub geworden?
Langsam kriecht Panik mein Rückenfell hinauf. Jetzt wird es auch noch eisig kalt. Die Decken um mich herum erstarren.
Sollten die nicht wärmen? Dass Decken einfrieren, kommt mir wie ein ziemlicher Bruch der Naturgesetze vor!
Ich ziehte die Pfoten an und rolle mich zusammen. Vielleicht, wenn ich ganz still liegen bleibe, übersieht mich der Tod und ich kann entkommen. Kälte und Stille hüllen mich ein. Die Decken, die mich eben noch zu erdrücken schienen, heben sich leicht an. Ich höre meine Atemzüge übernatürlich laut, das einzige Geräusch. Außerdem hallen sie in dem Metallkasten wider. Echt unheimlich.
Dann höre ich endlich wieder etwas. Zuerst halte ich es noch für den Nachhall meines Herzbrausens. Dann erkenne ich, dass es ein durch irgendeine Wand gedämpftes Brausen ist. Das Ruckeln setzt wieder ein und ich erinnere mich an Yetis Worte: Sobald ich wieder was höre, muss ich auch schnell aus dem Kasten raus!
Also beginne ich, mich durch die Tischdecken zu wühlen. Das ist schwieriger, als man denken könnte. Decken haben sehr schlingpflanzige Eigenschaften. Vermutlich kommen Menschen deswegen auch morgens nie aus dem Bett.
Ich quäle mich also aus dem Tischtuchsumpf und hocke auf dem Wagen. Zum ersten Mal sehe ich den Raum, in dem er und vier identische Wagen stehen. Es ist ein runder, liebloser Raum mit offenliegenden Rohren, Metallverkleidung, sichtbaren Nieten und einem runden Guckfenster.
Durch letzteres sehe ich Sterne und dann einen äußerst seltsamen Mond. Ich sehe genauer hin – als streng gläubiger Wolf werde ich immer nervös, wenn mit dem Mond etwas nicht stimmt – und betrachte die blaue Oberfläche, die weißen Wirbel …
DAS IST NICHT DER MOND! Bei den Sternen, das ist die Erde! Yeti hat mich wirklich auf den Mond geschickt!
Meine Pfoten werden ganz weich. Der Mond! Das schönste Gestirn für uns Wölfe, Heimat der großen Lunis (wenn man den Mythen glaubt) und außerdem seeehr weit von der Erde entfernt. Wenn hier etwas schiefläuft …
Ich schlucke. Verflixt. Das hätte ich mir wohl echt vorher überlegen sollen.
Ein heftiger Ruck lässt mich vom Wagen purzeln. Gleich darauf zischt etwas und ein Rolltor an der Seite der Rakete fährt langsam nach oben.
Ich rappele mich auf und husche hinter einen Wagen. Offenbar werden die dreckigen Tischtücher hier empfangen und gewaschen. Ob Arbeiter auf dem Mond weniger kosten und das deswegen so gemacht wird? Jedenfalls will ich nicht herausfinden, was sie hier mit blinden Passagieren machen.
Als ich höre, wie der erste Wagen hinausgerollt wird, wage ich mich vor und erhasche einen Blick auf einen düsteren Hangar. Ein grünes Marsmännchen schiebt den Wagen weg und rollt ihn in einen Seitengang. Ich warte. Nach ein paar Minuten kommt das Männchen zurückgewatschelt, aber es scheint vollkommen alleine zu sein. Ich gehe nochmals in Deckung und husche dann hinter dem Arbeiter raus, den großen Hauptgang entlang zu einer offenen Pforte, die auf die weißliche, von Kratern durchzogene Mondfläche hinausführt.
Ich atme tief durch – die Luft duftet sanft nach Pfefferminz – und sehe mich um. Der Mond! Unglaublich!
Übermütig renne ich los und tolle ein wenig durch den Mondschnee, der sich zu großen Wolken auftürmt, die in der Luft hängen bleiben. Ich rolle durch ein paar Krater und hüpfe einen großen Kraterberg hinauf. Und dahinter, in einem weiten Mondtal, entdecke ich ein schneeweißes Kalb mit großen, milchigen Augen.
Das Mondkalb! Endlich, eeendlich bin ich am Ziel meiner irren Irrfahrt!
Ich renne los und mache ein paar Hopser. „Mondkalb! Mondkalb!“
Das weiße Kalb fährt zusammen und tritt die Flucht an.
„Halt!“ Ich sause hinterher. „Ich muss mit dir reden!“
„Bitte friss mich nicht!“, ruft das Kalb über die Schulter.
„Ich bin gar nicht hier, um dich zu fressen! Ich brauche deine Hilfe.“
„Ach? … Und wobei?“
„Das ist eine lange Geschichte – können wir stehen bleiben?“
Das Mondkalb wird misstrauisch langsamer. Keuchend komme ich bei ihm an und berichte ihm mit weit aus dem Hals hängender Zunge von Clive Hanger und seinem verrückten, schier unmöglichen Auftrag.
„Meine Tränen?“, wiederholt das Mondkalb, als zweifele es an jemandes Verstand – ob meinem, Clives oder seinem eigenen, kann ich nicht beurteilen. „Wofür will er die haben?“
„Das weiß ich nicht. Es war irgendwie schwierig, ihn zu fragen.“
„Es ist nur so … meine Tränen sind eine äußert wertvolle alchemistische Zutat. Und ausgesprochen selten, weil ich fast gar nicht weinen kann. Er wird sie vermutlich nicht zum Spaß verlangt haben.“
„Och, ich schätze ihn schon so ein. Man kann mit deinen Tränen aber nicht das Ende der Welt einläuten oder so?“
„Nein, sie sind eher für Heiltränke oder Befreiungszauber“, beruhigt mich das Mondkalb. „Es hängt auch immer von den anderen Zutaten ab.“
„Dann kannst du sie mir ja geben, oder?“
„Ich würde gerne“, meint das Mondkalb bedauernd. „Aber wie ich schon sagte – ich kann irgendwie nicht weinen.“
„Nicht mal von Zwiebeln?“
„Die brennen fürchterlich, aber weinen muss ich nicht.“
„Hm … Warte hier, ich hab eine Idee!“ Ich renne zurück zum Raketenhangar. Solche Orte sind voller Technik, da wird es sicherlich nicht schwer sein … Da! Ein unbeaufsichtigter Laptop! Ich schnappe ihn mir und eile zurück zum Mondkalb. Nervös werfe ich einen Blick auf die Dreiviertelerde, die am Mondhimmel hängt. Wie viel Zeit bleibt mir noch?
„Was hast du da?“, fragt das Mondkalb.
„YouTube“, antworte ich und öffne zuversichtlich das Internet. Wahnsinn! Man hat hier Empfang. Hinter dem Mond zu leben ist nicht länger eine Ausrede, warum man sich nicht informiert!
Viel zu viele Minuten und mein gesamtes Repertoire an traurigen Videos später höre ich das Mondkalb plötzlich schniefen. Ich fahre aus dem Halbschlaf in die Höhe. Siehe da! Das weiße Kalb vom Mond hat feucht schimmernde Augen. Und dann läuft eine funkelnde, winzige Träne über seine Wange.
Ich springe vor und halte meine Pfote darunter. Die Träne fällt drauf und meine Pfote leuchtet in hellem Licht auf. Es kribbelt ein wenig. Auf meinem Pfotenballen bleibt ein silberner Wirbel zurück.
Ob … ob es schlecht war, dass ich die Träne aufgefangen hab? Ich schüttele die Pfote, doch der Wirbel geht nicht ab. Dafür leuchtet meine Pfote plötzlich. Ich zucke zusammen.
Das Mondkalb lacht glockenhell. „Keine Sorge, ein Magier wird sie entfernen können. Bis dahin ist meine Träne bei dir sicher.“
„Na, wenn du das sagst … wie spät haben wir?“
„Nun …“ Das Mondkalb weicht meinem Blick aus.
In diesem Moment zuckt eine Sternschnuppe durch den Himmel.
Allerdings ist es keine Sternschnuppe.
„Die Rakete! Das … das war mein Ticket nach Hause!“
„Es tut mir echt leid“, murmelt das Mondkalb bedrückt. „Ich schätze, ich bin einfach ein sehr glückliches Wesen.“
„Aber“, stottere ich. „Was soll ich denn jetzt machen?“
~ Ende von Buch Eins ~
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Das ist natürlich kein Zwang und du solltest das nur tun, wenn du gerade etwas entbehren kannst.
So oder so bedanke ich mich vielmals für's Lesen!