„Ich wiederhole: Ich suche einen verletzten und offenkundig verwirrten Zivilisten, mittelgroß, kurze, dunkle Haare, grauer Kapuzenpulli, Jeans. Der Mann steht unter Schock und ist extrem gefährdet!“
Jayden senkte das Funkgerät und wartete auf eine Antwort, doch es folgte nur Knistern. Wahrscheinlich hatte der zuständige Soldat seinen Posten verlassen, weil es zu viel zu tun gab. Jedenfalls hoffte Jayden inständig, dass die Antwort menschliches Versagen war. Die Situation war schon dramatisch genug, ohne den Zusammenbruch der militärischen Kommunikation fürchten zu müssen.
Mit einem leisen Seufzen hastete er die Hauptstraße entlang. Mit jeder verstreichenden Minute konnte Seth sich weiter entfernen oder tödlich verletzen. Seine eigenen Wunden beachtete Jayden kaum. Die aufgeschnittene Hand, von der das Blut über seine Finger lief, presste er gegen den Stoff am Bauch seines T-Shirts. Die Schmerzen im Steißbein versuchte er, einfach zu ignorieren.
Sein Blick glitt über Trümmer und Rauchschwaden. Seth war scheinbar nicht wieder in die brennende Wohnung zurückgekehrt, was Jayden leicht beruhigte.
„Seth! Seeeth!“ Seine Stimme erschien ihm zu leise, um von irgendjemandem gehört zu werden. Überall dröhnten Rotoren von Helikoptern, die Löschwasser brachten. Inzwischen heulten Sirenen. Trotzdem gab er nicht auf. „Seth! Kannst du mich hören?“
Das Funkgerät knisterte. Seth hielt inne und griff nach dem kleinen Kasten. Endlich hatte ihn jemand gehört!
Doch die Stimme im Rauschen gehörte keinem seiner Vorgesetzten. Sie klang überhaupt nicht nach Militär, sondern vielmehr nach einem Nachrichtensprecher. „… offenbar von der NASA zu spät bemerkt und hat den Planeten vor zwei Tagen mit einer Geschwindigkeit von mindestens 340 km/s getroffen. Der Meteorit schlug direkt in den Erdmantel ein und drang nach aktuellen Erkenntnissen mindestens …“ Rauschen. Die seltsame Übertragung brach ab. Dafür hörte Jayden etwas anderes.
„Seid endlich still, verdammt!“
„Seth!“ Jayden rannte wieder los, in eine Seitengasse und bis zur nächsten Kreuzung. Da war der Gesuchte endlich – er lief die Reihen der geparkten Autos ab und rüttelte an den Türgriffen.
„Wer von euch will was?“, brüllte der Mann dabei entnervt. Allerdings konnte Jayden keine weiteren Personen sehen. Offenbar auditive Halluzinationen durch den Drogeneinfluss. Vermutlich hatte Seth Jaydens Stimme gehört und für die Rufe irgendwelcher Wesen gehalten.
„Seth!“, sprach Jayden ihn an. Er stand im Rücken des Mannes und näherte sich nun langsam und mit lauten, festen Schritten. „Seth, geht es dir gut?“
„Ja, verdammt!“, schnaubte Seth. Dann stockte er und drehte sich um. „Du schon wieder!“
Jayden streckte sich leicht. Gut. Seth erkannte ihn wieder. „Wie geht es dir, Seth? Hast du Schmerzen?“
„Was geht dich das an?“, schnaubte der Andere. „Hau ab.“
Jayden vermerkte in Gedanken ein ‚Ja, hat Schmerzen‘. Er folgte Seth, der damit fortfuhr, die Türen der Autos zu testen.
„Möchtest du irgendwohin?“, fragte Seth. „Zu … Enila?“
Es war ein Schuss ins Blaue, allerdings ein Treffer. Seth blieb stocksteif stehen und drehte sich zu ihm um. „Was weißt du von Enila? Wieso weißt du von ihr? Bist du etwa auch nur eine Spinnerei meines Hirns?“
Enila war also eine Frau. Seth‘ Freundin vielleicht. „Du hast von ihr geredet“, antwortete Jayden. „Als ich deine Hände behandelt habe. Wo ist Enila jetzt?“
Seth starrte ihn finster an.
„Du kannst nicht mal geradeaus laufen, aber willst du ihr fahren“, fuhr Jayden beschwörend fort. „Das ist viel zu gefährlich. Du wirst dich verletzen.“
„Verpiss dich!“, knurrte Seth. „Als ob die Welt untergeht, wenn es mich nicht mehr gibt.“
„Für Enila vielleicht?“, riet Jayden.
Seth wandte sich abrupt ab und stapfte schwerfällig weiter. Das nächste Fahrzeug, dass er erreichte, war ein gelber Geldtransporter, der nur mit dem Vorderreifen auf dem Bürgersteig stand. Diesmal ließ sich die Tür öffnen. Seth wollte hineinklettern, dann stockte er und begann, wild durch die Luft vor seinem Gesicht zu schlagen, als wollte er einen Schwarm Mücken erschlagen.
„Seth“, sagte Jayden mit fester Stimme.
Blinzelnd stellte der Andere fest, dass die Mücken nicht existent waren.
„Du musst mit zurück kommen“, drängte Jayden.
„Vergiss es!“, grollte Seth und kletterte auf den Fahrersitz. Er wollte die Tür zuschlagen, aber Jayden hielt sie fest.
„Also gut“, gab der Arzt nach. „Rutsch durch.“
„Was?“, fragte Seth schwerfällig.
„Rutsch durch“, wiederholte Jayden. „Du wirst ja offensichtlich nicht aufgeben. Weil ich dich in diesem Zustand nicht fahren lassen kann, bleibt mir wohl nur übrig, dir zu helfen.“
Seth glotzte ihn an und blinzelte mehrmals. „Du willst mir helfen?“
„Willst du etwa alleine fahren? Ohne neuen Stoff? Zuerst unter Drogeneinfluss, dann unter Entzugserscheinungen?“
„Scheiße“, sagte Seth, als ihm klar wurde, dass Jayden recht hatte. Schwerfällig robbte er auf den Beifahrersitz und Jayden kletterte hinter das Lenkrad. Er klappte die Tür zu und atmete tief durch. Ein nervöses Kribbeln, das ihn bis eben nicht in Ruhe gelassen hatte, schwand endlich. Die Fahrerkabinen von Geldtransportern waren kugelsicher. Es gab eigentlich kaum einen besseren Schutz.
Er schnallte sich an, dann fluchte er.
„Was?“, fragte Seth gereizt.
„Wir haben keinen Schlüssel.“
~*~
„Und das war das letzte Mal, dass ich Carmen gesehen habe“, beendete Iris ihren ausführlichen Bericht. „Ich hab sie absichtlich nicht gefragt, wohin sie geht, für den Fall, dass so nette Kerle wie ihr mich fragen, wo sie ist.“
Die fünf Mafiosi starrten sie entgeistert an. Nun – vier von ihnen starrten. Hector flüsterte Fernando etwas ins Ohr und erhielt eine geflüsterte Antwort, vermutlich eine Übersetzung ins Spanische.
„Und das sollen wir dir glauben?“, grollte Juan und holte mit der Hand aus.
„Ja!“, quietschte Iris schnell.
Die Ohrfeige riss sie erneut vom Hocker.
„Au! Wofür war das? Ich sag euch die Wahrheit!“
„Du glaubst echt, dass wir dir das abkaufen?“, fragte Juan, der bedrohlich neben ihr aufragte. „Du hast dich aus Versehen auf eine exklusive Veranstaltung geschlichen, bist zufällig über Carmen Manzanares gestolpert, hast mal eben was von ihren Problemen aufgeschnappt, spontan beschlossen, ihr zu helfen und dich danach keinen Deut mehr um ihr Schicksal gekümmert?“
„Das war eine beeindruckende Zusammenfassung“, lobte Iris und erhielt eine Ferse in die Rippen.
„Bringt mir einen Eimer Wasser“, brummte Juan seinen Untergebenen zu. Dann sah er wieder auf Iris hinab. „Dir werden die dummen Sprüche schon noch vergehen. Außer, du sagst uns jetzt, für wen du arbeitest.“
„Für niemanden, das erwähnte ich bereits.“ Trotz der Schmerzen setzte Iris sich auf. „Wenn ihr es mir nicht glaubt, dann fragt das FBI oder auch nur eure Polizei. So ziemlich alle haben eine Akte über mich.“
„Also arbeitest du für das FBI?“
„Neeeiiin.“ Iris stöhnte. „Ich habs doch schon gesagt: Ich hab psychische Probleme, die mich dazu treiben, mich in gefährliche Situationen zu bringen, zu Lügen und zu Klauen. Und inzwischen bin ich eben gut darin.“
„Das ist die lächerlichste Ausrede, die ich je gehört habe“, knurrte Juan. „Aber ich glaube dir tatsächlich, dass du nicht vom FBI bist. Deren Agenten sind alle gleich trainiert.“
„Ich hab mich mal beim BND beworben“, erzählte Iris verträumt. „Aber die fanden es offenbar gar nicht witzig, dass ich eine gefälschte Identität dafür genutzt habe.“
„Wo bleibt das Wasser?“, schnauzte Juan seine Männer an. Diese hatten den Raum noch immer nicht verlassen. Fernando stand neben dem großen, milchigen Fenster der Fabrik und starrte nach draußen.
Er sagte etwas auf Spanisch, das Iris nicht verstand. Juan reagierte mit einem geschockten „¿Qué?“ Er eilte zum Fenster und sah ebenfalls nach draußen.
Iris beobachtete die Anzeichen von Panik, die die Männer zeigten. Sie redeten wild durcheinander, dann schickte Juan sie los, um hektisch Kisten zusammenzupacken und draußen in den Wagen zu laden.
„Hey!“, brüllte Iris. „Habt ihr mich vergessen?“
Nach Juans gehetztem Blick zu schließen, hatten sie das wirklich. Er zögerte einen Moment unschlüssig. Dann kam er zu ihr und riss sie grob auf die Beine. „Mitkommen.“
„Was ist los?“
„Du hast Glück – wir lassen dich nicht zum Sterben zurück“, grollte der Boss, ehe er seinen Leuten etwas auf Spanisch zurief.
Er stieß sie unsanft durch die Tür der Lagerhalle nach draußen. Iris spitzte die Ohren und konnte entfernte Sirenen hören. Ihre Haut kribbelte. In der Stadt war Alarm ausgelöst worden!
Kaum hatte sie diesen Gedanken erfasst, als ganz in der Nähe eine zweite Sirene einstimmte. Die Mafiosi luden die Kisten in den Van, vermutlich eine aktuelle Ladung Drogen oder geschmuggelter Waffen. Juan drängte sie zur Eile, das verstand Iris auch ohne Wörterbuch. Sie selbst wurde wie ein Gepäckstück hinten in den Laderaum gestoßen. Sie konnte gerade noch die Füße anziehen, bevor Juan von außen die Türen zuknallte.
Sekunden später setzte sich das Auto in Bewegung. Iris hörte, wie jemand noch schnell die Autotür zuzog, als der Wagen bereits rollte. Sie setzte sich auf. Der Wagen fuhr in eine Kurve und sie wurde gegen die Seite geworfen, landete auf Kisten und Kisten landeten auf ihr …
Fluchend grub sie sich aus und fasste die Kopfstütze des Rücksitzes. Jetzt konnte sie sich wenigstens festhalten und dabei den panischen Bandenmitgliedern sozusagen über die Schulter gucken.
Mateo fuhr wie ein Wahnsinniger über die schmalen und teilweise verkommenen Straßen des Industriegebiets. Sie verließen die von Gräsern durchbrochenen Straßen und fuhren auf die Autobahn. Hier wurde es nur noch schlimmer. Die Straße war in der Richtung, in die sie wollten, hoffnungslos verstopft. Autos standen kreuz und quer und hupten, sobald sich irgendwo eine Lücke auftat, drängelten drei Fahrer hinein. An verschiedenen Stellen stiegen dünne Rauchsäulen auf, nachdem Fahrzeuge ineinander gekracht waren.
Da nicht länger die Gefahr bestand, in einer Kurve von Kisten voller Diebesgut zermalmt zu werden, kletterte Iris über das Chaos zurück zur Hintertür und spähte durch das abgedunkelte Fenster. Die Gegenfahrbahn war frei, nur vereinzelte Geisterfahrer rasten an der dichten Schlange vorbei. Die immer lauter und hektischer werdenden Stimmen von vorne ignorierte Iris, während sie die Schlange aus glitzernden Autos entlang sah. Sie war unglaublich ruhig. Angst hatte sie keine, dafür fühlte sie sich hellwach und lebendig. Sie hatte das Gefühl, die Luft viel deutlicher schmecken zu können und viel besser und schärfer zu sehen. Sie konnte die aufragenden Hochhäuser der Stadt am Horizont sehen. Gelblicher Rauch oder Staub verdunkelte den Himmel. Die Wolke bewegte sich auf sie zu.
Und die Wolke war schnell. In dem Auto, in dem sie feststeckte, würde Iris ihr nicht entkommen können. Weglaufen würde aber auch nichts bringen – sie versuchte, die Geschwindigkeit abzuschätzen. Ein paar Minuten blieben ihr noch, wenn sie Deckung fand …
Lautlos testete sie den Griff der Tür aus. Es war nicht abgesperrt.
~*~
Endlich war es still. Gordon spürte, wie ein Teil der Anspannung von ihm abfiel, sobald Enricos Wimmern verstummte.
Der junge Tierarzt erhob sich und spähte unter der Plane hervor, die ihnen Schutz vor der Mittagssonne bot. Es war unglaublich bei allem, was geschehen war, doch es war höchstens früher Nachmittag. Gordon sah zur Sonne. Er vermisste seine Uhr. Es war längst Zeit für den Tee und dann würde er eigentlich die Gehege säubern und danach das Futter für den nächsten Tag vorbereiten …
Schon die Kreuzfahrt hatte er insgeheim gehasst, weil sie seinen geregelten Tagesablauf und die Wochenstruktur durcheinander brachte. Doch wenigstens hatte er sich an seinen Essensplan halten und eine neue Struktur aufbauen können. Vormittags zum Sportangebot, Mittags an den Pool, abends lesen.
Doch nun …
Abrupt erhob er sich und stapfte durch das Gras. Sobald er aus dem Schatten trat, traf ihn die Hitze wie einen Hammerschlag. Er war ohnehin verschwitzt gewesen, doch außerhalb der Plane waren die Temperaturen erdrückend. Trotzdem lief er weiter, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Er brauchte Ruhe. Die Nähe der anderen verursachte ein unangenehmes Kribbeln auf seiner Haut.
Mit schnellen, leicht stolpernden Schritten hielt er auf die Wellen zu. Nachmittag. Poolzeit.
Er legte seine Kleidung ab und faltete sie ordentlich, ehe er sie auf einen Stein legte. Nur die Boxershorts behielt er an. Fröstelnd trat er in die Wellen. Obwohl die Hitze der Luft fast unerträglich war, blieb der Ozean eisig kalt. Zum Glück gewöhnte er sich nach einer Minute an das Wasser, das war eigentlich genauso lange, wie er im Schwimmbad immer gebraucht hatte, um sich daran zu gewöhnen.
Die Wellen warfen ihn hin und her. Er bekam Salzwasser in den Mund und spuckte es aus. Das Wasser schmeckte nach Algen.
Trotzdem entspannte er sich mit jedem ruhigen Schwimmzug mehr. Mit nichts als dem Rauschen des Ozeans im Ohr kamen seine Gedanken endlich zur Ruhe. Gordon atmete durch und versuchte, die Situation zu verdrängen. Es gelang ihm nicht. Seine Gedanken kreisten um die vergangenen Tage und er spürte, wie sich sein Herzschlag erneut beschleunigte, als ihm klar wurde, dass Freitag war. Dabei rief er jeden Donnerstag bei seiner Mutter an! Den Anruf hatte er komplett vergessen und nun war es zu spät, er würde das nie wieder nachholen können. Stattdessen saß er im Nirgendwo fest. Obwohl es sich doch um eine solche Kleinigkeit handelte, hatte er das Gefühl, wegen dieses einen Anrufs würde die Welt untergehen. Er spürte Tränen aufsteigen und versuchte, sie wegzudrängen. Er vermisste die Gespräche, die Strukturen auf Madagaskar, die abendlichen Puzzle, die Igentenreks …
Ohne eine Uhr war es schwierig, die Zeit zu schätzen. Nachdem gefühlt anderthalb Stunden vergangen waren, stieg er aus dem Wasser und sah sich hilflos nach einem Handtuch um. Er fand einen Stofffetzen zwischen den Trümmern und nutzte ihn, um wenigstens das gröbste Wasser abzutupfen. Dann stieg er in seine Kleidung.
Als er zum Lager zurückkehrte, sah er, dass die anderen sich vor dem Zelt versammelt hatten, mit Ausnahme von Enrico und Fran, die ja nicht alleine stehen konnten. Sofort spannte Gordon sich an, denn die Versammlung bedeutete, dass er sich nicht einfach in eine Nische schleichen und unter einer Decke untertauchen konnte. Nein, vorher musste er mit Leuten reden und womöglich Fragen beantworten.
„Da bist du ja!“, begrüßte Riikka ihn. „Wir hatten uns schon Sorgen gemacht.“
Gordon senkte den Blick. Er wollte doch niemandem Sorgen machen.
„Dann sind jetzt alle da“, stellte Hazel fest. „Gut. Nochmal für alle: Ich werde ein paar Tage weg sein und nach einer Siedlung in der Nähe suchen. Ganz offenbar wurde unser Notsignal nicht oder falsch gesendet. Wir müssen auf eigene Faust Hilfe holen.“
Die Anwesenden nickten schweigend, also machte Gordon es ihnen nach. Er spielte nervös mit seinem Hemdsaum.
„Versucht keine Dummheiten, solange ich weg bin“, fuhr die Australierin fort. „Ihr habt genug Nahrung für ein paar Tage und das Wasser hält auch noch.“ Sie warf Rita einen strengen Blick zu. Die inzwischen nüchterne Alkoholikerin lief rot an. „Bleibt genau hier im Lager und entfernt euch nur zu zweit und nie weiter als man sehen oder rufen kann.“
Alle nickten wie folgsame Kinder. Gordon machte mit.
„Gut.“ Hazel streckte sich und rückte den offenbar recht leeren Rucksack auf ihren Schultern zurecht. „Viel Glück.“
~*~
„Lass mich mal“, brummte Seth und beugte sich vor.
Jayden presste den Rücken gegen den Sitz, während Seth schwerfällig am Autoschloss herumfummelte. Grunzend beugte er sich noch weiter vor.
„Gib’s auf. Deine Freundin können wir wohl erst später – au!“
Seth stützte sich mit dem Ellbogen auf Jaydens Oberkörper ab. Kurz darauf knackte etwas hörbar und Seth warf ein Plastikteil in den Fußraum.
„Was machst du da?“, fragte Jayden und versuchte, über Seths Schulter auf das Schloss zu sehen.
„Haste ne Haarklammer?“, fragte Seth.
„Woher sollte ich eine Haarklammer haben?“, fragte Jayden und fuhr sich automatisch durch die Haare, die noch lange nicht nachgewachsen waren.
Seth zuckte mit den Schultern, wodurch sich sein Ellbogen noch tiefer in Jaydens Oberschenkelmuskel bohrte. Jayden überlegte, dann griff er in die Tasche. „Tut es auch eine Büroklammer?“ Er hatte häufiger eine dabei, weil er sie immer gedankenverloren einsteckte, wenn er Papierstapel mit so einer Klammer in der Hand hielt. Auch jetzt wurde er nicht enttäuscht und fand gleich drei.
„Jepp, gib her.“ Seth nahm ihm alle drei Klammern ab, lehnte sich noch schwerer auf Jaydens Beine und fummelte am Autoschloss herum. Dann fluchte er.
„Kannst du Schlösser knacken?“, fragte Jayden.
„Nee, ich tu nur so“, knurrte Seth.
„Bei deinem Drogenlevel hätte mich das nicht gewundert“, konterte Jayden. „Oder du hältst das Auto für ein Raumschiff.“
„Wenn du es so viel besser weißt, mach doch selbst!“, knurrte Seth.
„Ich bin immer noch dafür, dass wir abwarten, bis du ausgenüchtert bist, statt einen Wagen zu stehlen.“
Seth antwortete nicht. Stattdessen sprang der Motor stotternd an.
„Alle Achtung“, murmelte Jayden. „Ich kann das nicht mal im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten.“
„Ich war nie im Vollbesitz irgendwelcher Fähigkeiten.“ Seth richtete sich wieder auf. „Wenn dir das hier so wenig gefällt, darfst du gerne aussteigen.“
Jayden packte das Lenkrad. „Das kann ich nicht – ich bin Arzt.“ Er drückte leicht auf’s Gas und fuhr auf die Straße.
„Whoa!“, rief Seth und hielt sich am Haltegriff über der Tür fest. Dabei war Jayden nur Schritttempo gefahren.
„Deswegen“, sagte der Militärarzt. „Genau deswegen.“ Er fuhr vorsichtig auf die Straße und wich den Schlaglöchern und dem verstreuten Schutt aus. Während er sich eigentlich auf’s Fahren konzentrierte, war er doch erschüttert, wie schnell die Stadt dem Set eines Apokalypsenfilms glich.
Es ist nur ein Flugzeugabsturz, versuchte er sich zu beruhigen. Es ist nur diese Stadt. Dem Rest der Welt geht’s gut.
„Seth?“, sagte er. „Wohin müssen wir?“
„Atlanta“, brummte Seth.
Jayden war froh, dass der Junkie in der Hinsicht noch einen klaren Kopf zu haben schien. Wer wusste schon, was Seth alles konsumiert hatte? – da konnte man wohl über jeden kleinen Erfolg glücklich sein.
Er suchte nach Straßenschildern, weil er nicht einmal wusste, in welchem Teil der Stadt sie gerade waren und wo sich welche Himmelsrichtung befand. Nach fast einer halben Stunde langsamen Herumkurvens traf er auf eine recht freie Hauptstraße. Jayden sah sich wachsam nach allen Anzeichen des Militärs um. Er wollte lieber keinem Vorgesetzten begegnen und erklären, warum er einen Zivilisten durch die Gegend kutschierte, statt seine Pflicht zu erfüllen.
Er warf einen Blick auf Seth. Der saß auf der Kante des Sitzes und wippte hin und her. Angeschnallt hatte er sich natürlich nicht.
Jayden bog auf die Hauptstraße und folgte den Schildern zum Freeway.
~*~
„Ruben!“ Ethan zupfte an dem Arm des anderen Mannes.
Ruben bebte am ganzen Leib und war nicht mehr ansprechbar. Die Bar war inzwischen fast leer, nur noch erhellt vom zuckenden Licht des Alarms. Die Mitarbeiter hatten die Gäste geordnet nach draußen geleitet. Im Grunde war die Ruhe, in der alles abgelaufen war, fast schon surreal.
Ethan hatte ein bisschen was aufgeschnappt. Offenbar gab es ein Loch im Rumpf, durch das Wasser hereinströmte. Das erklärte die zunehmenden Schieflage des Schiffes.
„Bitte geht ruhig und geordnet an Deck“, rief jemand auf Englisch.
Ethan sah zu Ruben, der sich immer noch nicht rührte. Nein, er konnte ihn nicht einfach zurücklassen. Stattdessen packte er Rubens Arm und zog mit aller Macht. „Komm … schon!“
Ruben kam schwankend auf die Beine und sah verstört zu Ethan auf.
„Na also!“ Ethan grinste. „Na los, gehen wir an die frische Luft.“
Er konnte nicht sagen, ob Ruben in diesem Moment überhaupt in der Lage war, die für ihn fremde Sprache zu verarbeiten. Deshalb nahm er den anderen bei der Hand wie ein Kind und zog ihn mit sich. Sie gehörten zu den letzten fünf Leuten, die nach draußen traten.
An Deck ging es ebenfalls erstaunlich gesittet zu. Obwohl sich das Schiff deutlich neigte, standen die Gäste in ordentlichen Reihen vor den Rettungsbooten an, während das Personal je vier Boote gleichzeitig seefertig machte. Einer Person nach der anderen wurde in die Schlauchboote geholfen. Es waren nur noch Männer an Bord – Frauen und Kinder waren also zuerst gegangen.
„Zwei Personen? Dort entlang.“ Eine junge Frau sprach sie auf Italienisch an und schickte sie zu einem der letzten Boote. Ehe Ethan erklären konnte, dass er eigentlich nur einen Moment auf Ruben aufpasste und dieser zu seiner Gruppe zurückmusste, war die junge Frau schon fort. Allerdings spielte es ja auch keine Rolle. Ethan drückte Rubens Hand beruhigend, denn der andere war so bleich, als würde er gleich in Ohnmacht fallen.
„Warst du schon mal fischen?“, fragte Ethan.
Ruben stierte ihn an, dann schüttelte er den Kopf. Seinem Gesichtsausdruck nach zweifelte er nach der Frage an Ethans Geisteszustand.
„Das wird wie ein kleiner Ausflug. Mit einem Boot über die Wellen, Fische fangen … keine große Sache.“
Ein schmales Lächeln zierte Rubens weiche Lippen, als ihm bewusst wurde, dass Ethan ihn nur beruhigen wollte.
„Danke für … dass du mich da raus geholt hast“, stammelte er mit einem fürchterlichen, deutschen Akzent und ließ Ethans Hand dabei los. „Ich dachte, ich sterbe vor Angst.“
Ethan klopfte Ruben auf die Schulter. „Dir passiert nichts, das verspreche ich.“
Sie waren endlich an der Reihe, in das Boot zu steigen. Dieses hing an mehreren Seilen von einem Kran und schwankte in der Luft. Ethan ging zuerst und ein kräftiger Seemann vom Personal stützte ihn, während er über den Gummirand stieg und sich zu den anderen Passagieren drängte.
Ruben kletterte hinterher, rutschte auf und stürzte auf eine Gruppe Anzugträger. Mit hochrotem Kopf rappelte er sich auf. Das Boot schaukelte wie verrückt, ein Mann schrie sogar auf.
Mit einem eleganten Satz folgte einer der letzten Bootsmänner vom Schiff und besetzte den letzten Platz. Er gab ein Zeichen und seine Kollegen ließen das Schiff herunter. Es gab einen Ruck, bei dem Ethans Magen in die Höhe zu springen schien. Dann klatschte das Boot ins Wasser, Gischt spritzte zu beiden Seiten auf und regnete auf ihre Schultern.
Ruben machte ein leises, würgendes Geräusch, behielt seinen Mageninhalt dann aber doch bei sich. Der Seemann nahm ein Paddel, das seitlich am achteckigen Schlauchboot befestigt war, wies einen anderen Mann an, ihm zu helfen, und gemeinsam paddelten sie vom Schiff fort.
Ethan sah zurück. Luftblasen stiegen rings um das Schiff auf, das bereits tief im Wasser lag. Mit jedem Paddelzug wurden die Geräusche aus dem sinkenden Schiff leiser, das Ächzen und Stöhnen von Metall, das Gurgel des Wassers. Ein letztes Rettungsboot, besetzt mit ausschließlich Angestellten entfernte sich vom Schiff. Während die Wellen die kleinen Bötchen herumwarfen, peitschte etwas das Wasser um das Schiff herum auf. Hohe Wasserfontänen schossen in den Himmel.
Ethan verengte die Augen. Er sah dunklere Flecken in dem aufgespritzten Wasser. Doch er konnte sich keinen Reim darauf machen – bis das Schiff plötzlich in einem dicken Wasserstrahl in die Höhe gerissen wurde.
Einen Moment war es totenstill, dann erklangen erschreckte Schreie. Ein dicker, weißer Strahl aus Wasser oder Dampf hatte das Schiff wie ein Spielzeugboot in den Himmel geschleudert. Die Säule erfasste auch das letzte Rettungsboot, wie maß bestimmt fünfzig Meter im Durchmesser. Gewaltige Wellen schlugen aus ihrem Stamm und rollten auf die Rettungsboote zu. Ethan konnte ein Seil packen und sich festklammern, während er orientierungslos herumgewirbelt wurde. Etwas rutschte an seinem Rücken entlang, dann fühlte er Hände, die den Stoff seines Hemdes packten, ehe sich ihr Griff löste.
Als das Schaukeln etwas nachließ, hob Ethan den Kopf, doch er sah bereits die nächste Welle auf sich zurollen. Ihr Rettungsboot war leerer als zuvor, doch Ruben kauerte noch an seiner Seite.
Etwas klatschte neben ihnen auf das Wasser, an einer Stelle, wo Ethan eigentlich gerade noch eines der anderen Boote wahrgenommen hatte. Oder hatte er sich da getäuscht? Die Rettungsboote waren von den Wellen weit auseinander getrieben worden …
Nein. Einige orange Fetzen der Gummipolsterung tauchten auf der Wasseroberfläche auf. Das war alles, was von dem Rettungsboot geblieben war.
Die Welle erfasste sie und wirbelte das Boot weiter herum. Schreie schrillten in Ethans Ohren. Sein Magen fühlte sich an wie der Übungssack eines Boxers. Über dem Lärm nach er noch etwas an, eine Reihe lauter Zischgeräusche, die jedes Mal in einem Platschen endeten und ihn an die Geräusche von Raketen erinnerten. Als er in den Himmel sah, entdeckte er eine gewaltige, graue Rauchwolke. Und es regnete große, schwarze Steinklumpen.
Ein Vulkan. Auf einen Schlag wurde ihm klar, woher er das Bild kannte: Aus Nachrichten über Vulkanausbrüche.
Aber sie waren doch mitten im Meer!
~*~
Der Hauch lag bitter auf ihrer Zunge und umnebelte ihre Gedanken. Ein Teil von ihr wusste, dass sie ihn nicht einatmen sollte, doch sie konnte nur dastehen und husten. Der Mann zerrte währenddessen den Bewusstlosen aus den Flammen. Obwohl der Bewusstlose schlaksig und dünn war, hatte der andere Mann Schwierigkeiten. Kitsune sah einen Balken, der den Dürren offenbar am Kopf getroffen hatte. Dabei musste er auch seine Hornbrille verloren haben.
Sie sah sich suchend um und entdeckte die Brille nicht weit entfernt. Noch immer rebellierte etwas in ihr gegen den Mann. Bruce … Bruce Williams war sein Name. Kitsune mochte ihn nicht. Den Schwarzhaarigen, der Bruce zu retten versuchte, mochte sie dagegen gern. Er war immer freundlich zu ihr gewesen und hatte sie nicht nur wie ein Ding behandelt.
„Kitsune!“, brüllte er und riss sie damit aus ihrer Trance. „Hilf mir!“
Mit einem Mal brüllte das Feuer in ihren empfindlichen Ohren. Kitsune stolperte nach vorne, ergriff einen Arm des bewusstlosen Bruce, und zog.
Bruce flog durch den halben Raum und sie landete erschrocken auf dem Hintern. Verdutzt starrte sie auf ihre Hände. Warum war sie so stark?
„Wir müssen hier raus!“, ächzte der andere Mann. Er hielt einen Arm über seinen Mund. Seine mandelförmigen Augen waren weit aufgerissen und die sonst gelbliche Haut gerötet von der Anstrengung.
Kitsune rappelte sich auf und warf sich Bruce über die Schulter. Sie rannte los.
„Hier lang!“, krächzte der Mann. „Da vorne geht es nur zu den Quartieren, das ist eine Sackgasse.“
Blindlings folgte sie ihm durch Gänge, die ihr nicht vertraut vorkamen. Der schrillende Alarm begleitete sie auf jedem Schritt, doch wenigstens der Rauch ließ nach. Hustend wurde der Mann langsamer.
Kitsune starrte ihn mit gerunzelter Stirn an.
„Dr. Wakane …“
Er sah auf. „Was ist?“
„Da war noch ein Mann …“
„Dr. Erikson ist rausgegangen, als der Alarm ausgelöst wurde.“ Wakane wurde von einem Hustenanfall unterbrochen. „Du hast recht, er sollte längst zurück sein.“
Erikson. Kitsune erinnerte sich auch an ihn. Ein breitschultriger Glatzkopf, der weder sie noch Dr. Wakane leiden konnte.
„Warte“, murmelte sie. „Der Alarm wurde ausgelöst, bevor es gebrannt hat?“
Wakane nickte. „Irgendjemand hatte das Gelände betreten.“ Er zögerte kurz. „Sie waren beim Hauptgenerator, wenn ich mich nicht täusche. Und dort könnte man den Überspannungsschutz ausschalten und einen Brand provozieren! Wir müssen sofort dorthin!“