„Noch irgendwelche Wünsche, Gregor?“
„Nein, Birgit“. Er lächelte sie an. „Alles in bester Ordnung“.
„Ich bin froh, dass du uns nach so langer Zeit wieder mal hier im Schwarzwald besucht“.
Birgit, das war eine kleine, untersetzte, etwas korpulente Dame von um die 50. Sie war zusammen mit ihrem Mann Eigentümerin und Betreiberin einer kleinen Pension, in der sich Gregor von Wattenstein für 7 Tage einquartiert hatte. Er hatte sich von Markus, seinem Butler und gutem Freund, hierher fahren lassen.
Dies war anderen nicht ohne weiteres ersichtlich. Markus war ja schließlich bei ihm angestellt und ging diesem Beruf gewissenhaft und auch mit einer gewissen Steifheit nach – trotzdem waren beide aber befreundet, irgendwie. Der alte Mann hielt ihn vor dem Ungemach der wirklichen Welt fern und war stets loyal gewesen. In allen Dingen.
Der Graf hatte ihn geradezu zwingen müssen, weiterzufahren, einige Tage frei zu nehmen und ihn in einer Woche wieder abzuholen.
„Aber Herr Graf, ich kann Sie doch nicht so lange alleine lassen“ hatte Markus widersprochen.
„Mach dir keine Sorgen. Ich habe hier alles, was ich brauche. Birgit kennt mich schon seit Jahren und weiß alles über mich. Ich habe das komplette Haus für die 7 Tage gemietet und werde mich daher gut von diesem Ärger mit dem Verlag erholen können. Und auch du hast einige Tage Urlaub dringend verdient, schließlich hattest du darunter am meisten zu leiden“.
So war dem Butler auch nichts anderes übrig geblieben. Brummend hatte er sich in den Wagen gesetzt, darauf hingewiesen, über sein Handy jederzeit erreichbar zu sein und war widerwillig davongefahren.
Mit Birgit verband Gregor eine alte Bekanntschaft, welche mit den Jahren zu einer guten Freundschaft geworden war. Beide duzten sich schon sehr lange und hatten einen offenen Umgang. Die Frau hatte den Mann seit Jahren nicht mehr gesehen und freute sich daher umso mehr, dass er sich für ihre Unterkunft entschieden hatte.
„Ich hätte schon viel früher herkommen sollen. Die Zeit vergeht einfach so schnell. Was macht dein Mann?“ erkundigte er sich. „Ich habe ihn noch nicht gesehen, ist er nicht da?“
„Du kannst ihn sicher heute Abend begrüßen“ antwortete sie schmunzelnd. „Da du ja meine ganze Pension gemietet hast, haben wir es etwas ruhiger und er ist wandern gegangen. Du weißt ja, jetzt im Herbst ist viel los und er selbst kommt normalerweise nicht dazu. Also meinte er, er nutzt die Gunst der guten Stunde“.
„Ja, das kann ich mir vorstellen. Der Herbst ist ja bestens für Touren geeignet. Ich denke, ihr habt jetzt jede Menge Gipfelstürmer, bewaffnet mit Wanderstöcken und Rucksäcken, in den Wäldern rumlaufen“.
„Daran sind wir gewöhnt. Wir leben ja im ‚schönsten Land von Deutschlands Aun‘“ scherzte sie.
„Ihr und eurer Badnerlied“ lacht er. Sein Blick fiel auf den Berghang, den sie beide von der großen Holzterrasse aus gut sehen konnten. Während in den höheren Lagen die immergrünen Nadelbäume unverändert in dunkler Farbe gerade und stramm standen, hatte der Herbst den darunterliegenden Mischwald in den verschiedensten Farben angemalt. Hellgrün, braun, rot, gelb und alle möglichen Farben dazwischen.
„Es ist aber auch schön bei euch“ meinte er mit leiser Stimme, während er über den oft seltsamen Stolz seiner Bewohner nachdachte. „Du gestattest mir aber, dass ich es trotzdem seltsam finde, dass die Fans vom SC Freiburg bei den Spielen das Badner Lied singen, um nochmals darauf zurückzukommen“.
„Du hast dich ja stets geweigert, mal mitzukommen. Das Stadion und die Atmosphäre, das ist schon was Besonderes“.
Der Graf runzelte die Stirn. Zwischen all den vielen Menschen inmitten brütender Sonne zu sitzen. Eine Horrorvorstellung.
Offensichtlich stand ihm die Ablehnung zu deutlich ins Gesicht geschrieben, denn die Schwarzwälderin kicherte leise. „Es gibt auch Abendspiele oder Schattenplätze, mein Lieber“.
„Nein!“
Sie lachte immer noch leise, war aber so taktvoll, das Thema zu wechseln. „Findest du die Burgruine noch alleine?“
„Sicher. Und ich kann wirklich euer Auto benutzen?“
„Natürlich. Es ist ja unser Zweitwagen, der eigentlich mir gehört. Ich fürchte nur, du bist mehr Luxus gewöhnt“.
„Ich bin froh, hier als Privatperson sein zu dürfen und nicht als Graf“ widersprach Gregor. „Und ich bin nicht so eitel, dass ich nicht auch die Einfachheit genießen kann. Und vielleicht bringt mich diese andere Umgebung auch auf neue Ideen für meine Bücher“.
„Wobei du sicher schon genug erlebt hast, um ganze Buchreihen zu schreiben“ seufzte sie mit einem Hauch von Neid.
„Ich habe es euch angeboten. Und ihr habt beide abgelehnt“.
„Ja, ich weiß. Und es war die richtige Entscheidung. Bei manchen Wünschen ist es besser, wenn sie nicht in Erfüllung gehen. Ich bin einfach aufgewachsen und bin, wie auch mein Mann, für so ein Leben nicht gedacht. Dann verzichtete ich lieber auf einige entsprechende Erfahrungen. Auch so bin ich mit meinem bisherigen Leben zufrieden“. Sie blickte prüfend in Richtung Sonne. „Ich denke, du solltest vielleicht noch eine Stunde warten. Dann schädigt sie dich nicht mehr so sehr“.
„Ja, du hast recht. Und keine Sorge“ er näherte sich ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, ehe er mit dunkler Stimme fortfuhr: „Ich hab genug Medizin dabei“.
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Gregor schaute nach vorne. Es war nicht mehr weit.
Man konnte bis fast zur Burgruine fahren. Er hatte sich aber für den Fußweg entschieden. Etwas Bewegung würde ihm gut tun, nach all der langen Sitzerei im Auto. Also hatte er den VW auf dem großen Parkplatz unten an der Straße abgestellt und war losmarschiert. Gleich bergauf auf der Teerstraße und dann an der Weggabelung links. Dieser Weg führte ebenfalls zum Ziel, allerdings ging der offizielle nach rechts. Da er jedoch keinen Wert darauf legte, die ganze Zeit den langen Weg mit gemächlicher Steigung oder alternativ den Burglehrpfad für Kinder zu folgen, hatte er diese ruhigere und etwas anstrengendere Route gewählt. Der Weg war steil, fiel dann etwas ab, als er einen großen Bauernhof auf der linken Seite erreichte. Rechts gegenüber stand ein kleines Hinweisschild, welches direkt zum Wald führte, direkt daneben. Ein kleiner Trampelpfad hoch hinaus, und man kam nach einer guten Viertelstunde am oberen Parkplatz am Fuß der Ruine an. Dort befand sich auch eine Wirtschaft mit einer riesigen gemauerten Terrasse.
Erfreut registrierte Gregor, dass nur zwei Autos parkten. Mit etwas Glück waren das alles Gäste des Lokals; und er hatte oben die Burg für sich alleine.
Es waren nur noch 10 Minuten. Seine Füße raschelten im herbstlichen Laub. Untypisch für ihn und sein sonstiges Verhalten fing er an, seine Schritte über den Waldboden schlurfen zu lassen, um so noch mehr von dem bunten Laub aufwirbeln zu lassen. Kurz erlaubte er es sich, wieder Kind zu sein und folgte dem Weg mit einem vergnügten Pfeifen.
Die Sonne stand tief und ihr warmes Licht traf auf die angeworfenen Blätter der verschiedenen Bäume. Sie ließ den Herbst also in all seiner Pracht erblühen.
Vorbei an zwei geschnitzten Holzfiguren – sie waren Bestandsteil des erwähnten Kinderlehrpfad, dessen Weg sich hier kreuzte – erreichte er den verwitterten alten Eingangstorbogen.
Seine Hand berührte dieses Zeugnis uralter Handwerkskunst, ehe er am noch vorhandenem Brunnenschacht vorbei in Richtung der alten Gemächer schritt.
Zumindest nahm er das an, er wusste es nicht mehr. Einmal hatte er eine Burgführung mitgemacht, doch leider war nichts hängengeblieben. Eine alte, in Stein gemauerte Tafel zeigte neben dem Eingang das Wappen der damaligen Burgherren sowie einen Text, an dem leider zu sehr der Zahn der Zeit genagt hatte, um ihn ohne Fachkenntnisse entziffern zu können. Wie es aussah, handelte es sich um eine Art Widmung und er konnte den Namen „Wittelsbach“ erkennen, wenn auch das Geschlecht dieser Burgherren einen anderen Namen getragen hatte.
Nur seine Schritte hallten leise, als er dieses Quadrat von hohen Mauern betrat. Die Böden waren nicht mehr vorhanden und so konnte man bis nach oben in den Himmel schauen, so weit die Mauern eben noch vorhanden waren. Die Aussparungen der ehemaligen Fenster waren noch vorhanden und man konnte zweierlei verschiedene Arten davon entdecken. Es war ein schönes Bild das sich bot, während man nach oben schaute und all dies betrachtete.
Nach einer Weile ging er zu einem der Wände und betrachtete sie genauer. Hier, ganz unten, waren die Löcher anders. Keine Ahnung, ob das historisch war oder vielleicht falsch rekonstruiert wurde.
Die Ruine war viele Jahre von den Leuten unten im Dorf als Steinreservoir missbraucht worden. Erst mit den Jahren war das Bewusstsein für Denkmalschutz gestiegen und in den späten 50er Jahren war ein örtlicher Verein gegründet worden der bis heute ständig damit beschäftigt war, das alte Gemäuer vor dem Verfall zu bewahren bzw. wenn möglich auch zu rekonstruieren.
Gregor beugte sich vor, um besser durch die Öffnung nach draußen sehen zu können. Die Mauern waren dick und nach draußen hin wurde das Loch schmäler. Ob es sich hier um eine Schießscharte handelte?
Es war ein mittelgroßes Guckloch, welches direkt auf eine Mauer einige Meter weiter hinten und einige Bäume zeigte. Ganz nett, aber er kannte da eine bessere Möglichkeit.
Er ging nun zu dem einen Turm, der noch erhalten war. Eine Wendeltreppe ging in steilen Stufen hinauf.
Gregor hatte gehört, dass sie in den Anfängen der Erhaltungsmaßnahmen nachgebaut wurde dabei falsch herum eingebaut worden war. Wie herum die Treppe sich hochschlängelte, hing nämlich davon ab, ob der Burgherr Links- oder Rechtshänder war, um bei einer möglichen Verteidigung der Burg mehr Platz für den Schwertarm zu haben. Und demnach wäre dieser Linkshänder gewesen, was aber so nicht überliefert war. Wenn das denn alles so stimmte.
So oder so, der Graf stieg höher. Den mittleren Aussichtspunkt ließ er aus und erreichte bald die obere Plattform.
Oben war nicht besonders viel Platz. Da er jedoch alleine war, auch nicht besonders tragisch. Das Geländer war stabil, aber nicht besonders hoch. Jemand mit Höhenangst wäre wohl zurückhaltender gewesen, aber darunter litt der Schriftsteller nun gewiss nicht. So beugte er sich neugierig hinunter.
Der Anblick hinunter zu den Mauern der Ruine war beeindruckend. Zeigte sie doch trotz ihrer Schönheit deutlich die Vergänglichkeit menschlichen Tuns. Verwitterte und kaputte Wände zwischen all dem Grün und andere Zeichen der Natur, die ohne das menschliche Einschreiten wohl schon komplett ihr Territorium zurückerobert hätte.
Ein musste schmunzeln. Ein Thema, was ihn schon immer beschäftigt hatte.
Er drehte den Kopf und richtete seine Aufmerksamkeit nun auf die Wälder, die die Ruine umgaben. Die Sonne stand bereits tief, und so lagen einige Bäume bereits im Schatten, während andere in ihren verschieden Farben noch angestrahlt wurden. Ein wenig Indian Summer im Schwarzwald.
Ein kalter Wind wehte. Zum ersten Male seit Beginn seiner Wanderung nahm er seine Sonnenbrille ab und schob sie nach oben. Der Platz, auf dem er stand, war nun im Schatten.
Während er weiter auf die Landschaft starrte und sie auf sich wirken ließ, fiel ihm das Gespräch ein, welches er mit Birgit kurz vor dem Aufbruch geführt hatte.
Nicht zum ersten Mal hatte sie ihm in dieser Sache unverblümt ihre Meinung gesagt. Dass es an der Zeit war, sich nach so langer Zeit endlich wieder jemanden zu suchen. Nach so vielen Jahren.
Seine geliebte Gemahlin war ermordet worden und Gregor hatte lange keine Ambitionen gefühlt, sich erneut nach einer Frau umzusehen.
Aber mittlerweile fühlte er, dass er wieder bereit dafür war.
Bereit, sich wieder zu binden.
Es würde nicht einfach werden. Er brauchte jemanden, der mit beiden Beinen im modernen Leben stand. Und seine Lebensgefährtin sollte seiner Schriftstellerei aufgeschlossen gegenüberstehen, am besten selbst in diesem Beruf oder anderweitig schreibend tätig sein.
Nur wie das anstellen? Er lebte mittlerweile viel zu zurückgezogen, um neue Menschen, geschweige denn Frauen, kennenzulernen.
Er würde einen Weg finden. Dessen war er sich sicher und hatte dies auch seiner Gastgeberin mitgeteilt.
Ihm würde etwas einfallen.
Ganz bestimmt.