Im Keller:
Die fünf Jugendlichen schlichen lautlos die Treppe herab. Amy ging vor, eine Taschenlampe in der Hand. Feuerrote Locken fielen über ihre Schulter, sie suchte mit abenteuerlustigen, grünen Augen die Umgebung ab. Ihr folgte Luca, schlaksig, mit großen Augen hinter seiner Brille und verstrubbelten Haaren. Evelyn klammerte sich in Milos Sportjacke, der braunhaarige Gitarrist hatte lässig einen Arm um ihre schmalen Schultern geschlungen und hielt sich krampfhaft davon ab, den Blick in ihren rosa umrahmten Ausschnitt wandern zu lassen. Der kleine, etwas pummelige Liam folgte ihnen, mit einer zweiten Taschenlampe, die einer Laserkanone nachempfunden war. Lange, blonde Haare fielen ihm über die Augen und verdeckten den angespannten Gesichtsausdruck.
Im Keller war es dunkel. Amy tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn und legte ihn um. Eine nackte Glühbirne leuchtete auf, ohne den Raum nennenswert zu erhellen.
„Das Licht funktioniert ja! Öde!“, rief Liam von hinten und schoss die Glühbirne spielerisch mit seiner Laserwaffen-Taschenlampe ab.
„Ja, in echten Horrorfilmen funktioniert das Licht nie“, schimpfte Luca und schaltete das Licht wieder aus.
Amy verdrehte die Augen, ging aber ohne zu zögern weiter in den Keller hinein. Die Luft roch muffig und abgestanden. Der Boden war kalt und Spinnweben hingen in den Ecken.
„Es kommt wohl nicht oft jemand hierher“, sagte Luca mit düsterer Stimme und ließ den Blick bedeutungsschwer durch die Gegend schweifen.
Amy öffnete eine der schweren Metalltüren, die von dem Gang abgingen. Sie leuchtete in den Raum dahinter und entdeckte eine blinkende Kühltruhe: „Natürlich kommt niemand hierher“, sagte sie spöttisch: „Hier lagern ja nur alle Vorräte.“
„Phh!“, machte Luca: „Dann spazieren wir eben durch ein langweiliges Lager und nicht durch einen Gruselkeller, deine Entscheidung!“
„Wir müssen uns ja nicht wie die Idioten in den Filmen benehmen“, warf Evelyn von hinten ein. Das zierliche Mädchen ließ Milos Arm los, um sich zu ihrer ganzen Größe aufzurichten und ihre Freunde aus blitzenden, bernsteinfarbenen Augen anzusehen: „Wollen wir hier etwas ein Affentheater abhalten, nur damit ein paar Kindsköpfe ihren Kick bekommen?“
„In erster Linie wollen wir Spaß haben“, trat Liam schlichtend dazwischen. Der Kleinste der Gruppe hatte sich würdevoll aufgerichtet: „Wir sind ein Team, oder nicht? Lasst uns nicht streiten, Freunde, sondern uns gemeinsam der Gefahr stellen!“
Wie eine Fackel reckte er seine Laserkanonen-Taschenlampe gen Decke.
„Ist ja gut, Kirk“, winkte Milo ab und warf seine langen Haare mit einer Kopfbewegung über die Schulter: „Message ist klar.“
„Lasst uns nicht miteinander, sondern Seite an Seite streiten!“, deklamierte Liam dennoch, bevor er die Taschenlampe wieder auf den Gang vor ihnen richtete: „Auf in die Schlacht!“
Luca brach plötzlich in Gelächter aus: „Hey, Leute! Wollen wir uns nicht auch einen Teamnamen geben?“
„Was schlägst du vor, Ghostbusters?“, fragte Milo.
„Wir können uns ja die Fünf Freunde nennen“, schimpfte Evelyn mit verschränkten Armen, die von der Idee nicht so begeistert schien.
„Suchen wir uns auch einen Teamruf aus und entwickeln einen geheimen Handschlag?“, fragte Liam mit leuchtenden Augen.
„Leute?“, fragte Amy, die ein paar Schritte weitergegangen war: „Wollten wir nicht vor der Lesung einen Keller erkundet haben?“
Die anderen folgten ihrer Stimme der Vernunft. Nur Luca murmelte: „Was sollen wir bei der langweiligen Lesung?“
Der Keller war nicht besonders groß. Der Gang, der hindurch führte, war vielleicht dreißig Meter lang. Genau konnte Amy es nicht sagen, denn der Gang hatte einen L-förmigen Grundriss, durch die Biegung war er nie in seiner ganzen Länge einsehbar. Ein Ende ging in die Treppe über, die sie herunter geschlichen waren, das andere Ende bildete eine verschlossene Tür.
Es gab mehrere Türen, die entweder verschlossen waren, oder zu Lagern führen. Dort standen Kühltruhen, Weinregale oder Gestelle mit Konserven. In einem solchen Raum strich Luca über den Deckel einer Kühltruhe.
„Sollen wir sie öffnen und sehen, ob eine Leiche drin ist?“, fragte er die anderen.
„Ih, nein!“, quiekte Evelyn sofort.
„Wenn wir das tun und erwischt werden, muss das Hotel uns verschwinden lassen“, murmelte Liam aufgeregt und schob sich näher an die Truhe heran.
„Warum sollten die den Raum offen lassen, wenn sie hier Leichen verstecken wollen?“, kommentierte Amy stirnrunzelnd: „Lasst den Quatsch, Leute!“
„Du traust dich nicht?“, fragte Milo sie.
Amy verdrehte die Augen, was eine Lieblingsbeschäftigung von ihr war: „Ich sehe keinen Sinn darin.“
Milo verschränkte die Arme vor seiner Stoffjacke und sah sie herausfordernd an: „Wenn du keine Angst hast, dann mach die Truhe auf!“
Luca und Liam machten Amy Platz und beobachteten sie mit einem lauernden Ausdruck in den Gesichtern. Evelyn stellte sich einen halben Schritt hinter Milo in Deckung.
Amy trat mit festen Schritten auf die Kühltruhe zu, packte den Deckel mit beiden Händen und zog ihn nach oben.
Weißer Kühldampf entstieg der Kühltruhe. Als der sich lichtete, sah Amy verschiedene in Plastik verpackte Fleischstücke zwischen Splittern von Eis.
Eine Hand landete auf ihrer Schulter: „Buh!“
Amy zuckte nicht mal mit der Wimper und schob Lucas Hand von ihrer Schulter: „Das waren meine Haare, Luc.“
Liam spähte unter ihrem Arm hindurch: „Wow! Ist das eine Leiche?“
„Nein“, sagte Amy entgeistert: „Das ist Rindfleisch oder sowas. Das Hotel stellt sein Essen frisch her.“
Evelyn verzog das Gesicht: „Das ist so widerlich!“
Milo zog sie an sich und grinste: „Roh … und blutig …“ Er machte schmatzende Geräusche, während Evelyn sich aus seinen Armen zu winden versuchte.
Amy schlug den Deckel der Kühltreppe wieder zu. Das dumpfe Geräusch klang seltsam in ihren Ohren. Sie lauschte, konnte aber über dem Gelächter der anderen nicht verstehen.
„Seid mal still!“, sagte sie zu ihren Freunden. Die Anspannung in ihrer Stimme sorgte dafür, dass die anderen ihrem Befehl folgten.
Während die fünf lauschten, ertönte das Geräusch wieder, das Amy zu hören geglaubt hatte. Eine Tür fiel ins Schloss.
„Das war die Kellertür!“, flüsterte Liam. Seine Taschenlampe beleuchtete seine weit aufgerissenen Augen.
„Was tun wir jetzt?“, fragte Evelyn: „Wir sollten nicht hier sein!“
„Wir verstecken uns!“, wisperte Luca sofort.
„Wir könnten auch einfach sagen, dass wir uns verlaufen hätten“, warf Amy ein, aber Luca ging bereits hinter der Kühltruhe in Deckung, während Liam sich hinter die offen stehende Tür zwischen Tür und Wand drückte und den Bauch einzog.
Milo zog Evelyn zu sich und wich mit ihr lautlos zum Ende des Raumes zurück.
Amy zögerte. Die Tür stand noch offen, während sonst alle Räume im Keller verschlossen waren. Sie wollte los huschen und die Tür zustoßen, doch im Gang tauchte plötzlich der Strahl einer Taschenlampe auf.
Wer auch immer sich im Keller befand, hatte die Kurve bereits hinter sich gelassen. Die Tür jetzt noch zu schließen war Amy zu riskant. Sie drückte sich stattdessen neben der Tür an die Wand, gegenüber von Liam. Durch die Öffnung konnte sie in den Gang spähen, wenn sie sich vorbeugte. Im Moment drückte sie sich flach an die Wand und wich in die Ecke zurück, wo ein paar Spinnweben sie erwarteten.
Wer auch immer jetzt mit ihnen im Keller war – warum machte er oder sie das Licht nicht an?
Schritte näherten sich. Es schienen wenigstens drei Menschen zu sein. Sie gingen an der offenen Tür vorbei. Der Lichtstrahl glitt in den Raum hinein, wanderte über den Boden und die Wände. Amy hielt den Atem an, doch keiner ihrer Freunde wurde entdeckt. Als das Licht verschwand wagte sie erst langsam, wieder auszuatmen.
Die drei Leute blieben stehen.
„Seit ihr sicher, dass es nicht noch zu früh ist?“, fragte die Stimme einer Frau.
„Es muss ja auftauen“, befand eine Männerstimme.
„Es ist nicht Ihre Aufgabe, hier etwas in Frage zu stellen“, sagte eine dritte Männerstimme kalt. Amy hörte das leise Kratzen, mit dem ein Schlüssel in einem Schloss umgedreht wurde. Dann schwang quietschend eine Tür auf.
Zwei Menschen husteten.
„Ja, die Luft ist jedes Mal wieder eine Freude“, sagte der Mann mit der kalten Stimme.
„Der Geruch ist nicht von schlechten Eltern“, sagte die Frau. Ihre Stimme klang gedämpft, als würde sie durch den Ärmel ihrer Kleidung reden.
„Du sollt nicht riechen, sondern den Scheiß hoch tragen“, knurrte der Mann mit der kalten Stimme.
„Auf drei!“, sagte der andere Mann. Amy hörte ihn bis drei zählen, dass ein Ächzen, als würden sie etwas Schweres tragen. Ein Schleifgeräusch schloss sich an. Die Geräusche kamen näher. Die Tür wurde wieder abgeschlossen.
Dann kamen die beiden, die offenbar einen schweren Gegenstand zogen, an der Tür vorbei. Entgegen ihrer Angst beugte Amy sich vor und warf einen Blick in den Gang.
Ein Mann und eine Frau, in dem schlechten Licht nicht zu erkennen, zogen etwas über den Boden, das in eine weiße Plastikplane gehüllt war. Ein Übelkeit erregender Gestank schlug Amy entgegen, eine Mischung aus Moorwasser, Moder und irgendeiner süßlichen Blume. Der Gegenstand in der Plastikplane war kaum zu erkennen, bis das Licht der Taschenlampe darüber wanderte, die offenbar der Mann mit der kalten Stimme trug.
Amy zog scharf die Luft ein. Der Gegenstand sah aus wie ein menschlicher Körper.
Durch ihr Geräusch aufgeschreckt hielten die beiden Ziehen an und lauschten.
„Was?“, fragte die kalte Stimme. Schritte kamen näher.
„Hm, ich dachte, ich hätte was gehört“, sagte die Frau. Erneut leuchtete die Taschenlampe in den kleinen Raum, in dem sich die fünf Teenager versteckt hielten. Sam schlich von der Tür weg und kauerte sich in die Nische zwischen Kühltruhe und Wand. Als sie die Silhouette eines Mannes sah, der seinen Kopf durch den Rahmen steckte, zog sie die Knie eng an die Brust und hielt den Atem an. Luca hatte recht gehabt, das Hotel hatte wirklich Leichen im Keller! Und wenn man sie entdeckte …
Die Taschenlampe leuchtete den Raum gründlicher ab, der Lichtstrahl huschte über den Boden, an den Regalen entlang und über die hintere Wand. Fast berührte er Amy, als das Licht über ihren Kopf strich. Milo und Evelyn mussten ein besseres Versteck gefunden haben. Fünf oder sechs Herzschläge lang hielt Sam den Atem noch an und betete, dann fiel die Tür mit einem Knall ins Schloss.
„Vielleicht irgendwelche Tiere oder die Kühltruhe“, sagte die kalte Stimme. Das Schleifen setze wieder ein, mit dem der Körper über den Boden gezogen wurde. Amy lehnte den Kopf an sie Wand hinter sich und war kurz davor, vor Erleichterung zu weinen. Sie zitterte.
Als die Geräusche verklangen, krochen die fünf leise aus ihren Verstecken.
„Ich dachte echt, das wär's jetzt gewesen!“, keuchte Liam atemlos.
„Wir sind echte Ninjas!“, staunte Luca.
„Was war los?“, fragte Evelyn Amy, die sich schweigend durch die Tür schob, um den Boden dort zu untersuchen.
„Hier“, sagte Amy und leuchtete mit der Taschenlampe auf die Mitte des Ganges. Zu mehr Worten war sie nicht fähig.
Eine Spur aus einer verschmierten, dunkelroten Flüssigkeit zog sich über den Boden. Die Spur war nicht sehr deutlich, nur einzelne Flecken und verwischte Tropfen. Trotzdem gefror allen Fünfen das Blut in den Adern, als sie den gleichen Lebenssaft auf dem Boden sahen.
„Das ist nicht wahr, oder? Sagt, dass das nicht wahr ist!“, keuchte Evelyn.
Luca zeigte ein Lächeln, das an Wahnsinn zu grenzen schien: „Die Tour hält ja doch, was sie versprochen hat.“