Eine weitere Flucht:
Milos Hand in ihrer war schwitzig. Die kalte Luft roch nach Schnee, doch wenigstens regnete es diesmal nicht. Eve stand neben Milo an dem Geländer des Balkons und sah auf die Blumengärten in der Tiefe, ein Stockwerk unter ihnen. Es waren nur wenige Meter, doch trotzdem war sie nervös. Sie mochte keine Höhen, und die Tatsache, dass sie aus einem Hotel ausbrachen, machte das Vorhaben noch verrückter.
Liam hob den Kopf, als sich die Tür zum Balkon öffnete und Amy heraus kam, die ihren Mantel überzog.
Sie war allein.
"Er kommt nicht."
Das rothaarige Mädchen trat zu ihnen und lächelte schwach. Sie trug ihre Tasche über der Schulter, Liam seinen Raketenrucksack, neben Milo standen seine Sporttasche und Eves Rollkoffer.
Eve schluckte und Milo nahm sie in den Arm und drückte sie an sich.
"Gehen wir", meinte Amy und trat an das Geländer. Sie schwang ein Bein hinüber und fasste das kalte Metall mit den Händen, dann das andere Bein. Mit dem Rücken zu ihnen sah sie in die Tiefe, als wolle sie sich von einem Hochhaus stürzen.
Amy schluckte einmal, dann sprang sie. Eve fuhr zusammen und schloss die Augen. Sie hörte den Aufprall, der viel zu laut erklang.
"Alles gut?", fragte Liam mit zitternder Stimme.
"Ja", sagte Amy: "Werft mir die Taschen runter."
Nachdem sie das Gepäck aufgefangen und unter das Vordach geschoben hatte, sah sie sich einmal nervös um: "Kommt jetzt, schnell!"
Milo ging zuerst und sprang ohne Probleme. Liam ließ dagegen Eve den Vortritt. Sie kletterte wie Amy über das Geländer, rutschte dann aber beinahe ab. Die Finger in den Zaun gekrallt sah sie nach unten. Auf einmal wirkte der Boden viel weiter entfernt. Ihr Atem ging schnell wie nach einem Dauerlauf.
"Spring, Babe. Ich fange dich", flüsterte Milo.
Eves Beine zitterten. Unter ihr war die Terrasse, aber deren Geländer war nur einen guten Sprung entfernt. Wenn sie unten stolperte, würde sie vielleicht mit dem Kopf dagegen stoßen.
Amy und Milo sahen zu ihr auf. Eve schluckte und schüttelte den Kopf: "Ich kann nicht!"
"Eve!"; zischte Milo ungeduldig. Evelyn spürte eine Hand an ihrem Arm. Sie zuckte zusammen, doch es war nur Liam, der ebenfalls über den Zaun kletterte.
"Ich traue mich auch nicht", sagte der kleine Junge: "Springen wir zusammen?"
Er hielt ihr unsicher eine Hand hin. Eve musste sich überwinden, das Geländer loszulassen und ihre Finger mit seinen zu verschränken.
"Auf drei", sagte Liam: "Eins. Zwei."
"Drei!", Eve sprang. Liam bliebt stehen, doch sie hielt ihn fest und riss ihn mit sich. Mit zwei leisen Angstschreien krachten sie hart auf den Boden der Terrasse.
Eve stolperte und wurde von Milo ausgebremst. Amy hielt den fluchenden Liam fest.
"Mein Knöchel!", zischte der kleine Junge und rieb sich das Bein.
"Kannst du gehen?", fragte Amy und Liam nickte: "Lasst uns nur schnell hier weg, ja?"
Amy nickte und nahm die Taschen auf.
Sie liefen über den Innenhof, doch plötzlich packte Milo sie an den Schultern und zerrte sie hinter einen Rosenbusch.
"Was ist?", fragte Amy.
"Da steht jemand", hauchte Milo und deutete mit dem Finger: "Neben dem Tor, im Schatten."
Eve bog ein paar Zweige zur Seite und spähte zwischen den Blättern hindurch.
Tatsächlich stand jemand, kaum zu erkennen, im Schatten neben dem Eingangstor. Der dunklere Schatten bewegte sich leicht.
Eve atmete zischend ein: "Der lässt uns nicht durch."
Niemand widersprach ihr.
"Da kommen noch mehr!", fluchte Amy und deutete auf eine Gruppe dunkler Gestalten, die den Weg entlang kamen. Nicht mehr lange, und man würde sie entdecken. Die vier Freunde saßen in der Patsche.
Liam sah sich um und deutete dann auf etwas hinter ihnen: "Was ist damit?"
Eve suchte und entdeckte eine unscheinbare Metallklappe im Boden.
"Eine Kellertür!", erkannte nun auch Amy.
Milo huschte geduckt dort hin und kniete sich neben den Griff. Er zog, die Klappe schwang auf.
Milos Gesicht wandte sich ihnen zu. "Sollen wir da rein?", fragte er unsicher.
"Das Tor ist der einzige Weg raus", zischte Amy, "es sei denn, der Keller führt irgendwo anders hin."
Sie wechselten kurze Blicke, dann kletterten sie durch die Klappe auf eine steile Holzleiter. Schritte knirschen auf dem Kies, als endlich auch Eve in die Dunkelheit stieg und die Klappe so leise wie möglich schloss.