Das Hotel:
Sie waren mehr als erleichtert, als der Wagen von Milo und Eve wieder auftauchte. Amy an Liams Seite verrenkte sich den Hals, um einen Blick auf Eve zu werfen. Offenbar schlief das Mädchen, doch sie hatte eine Platzwunde an der Stirn, die ihnen Sorgen machte.
Liam hörte schweigend zu, wie Amy mit dem Fahrer diskutierte, dass sie zu einem Krankenhaus müssten. Die blonde, kurzhaarige Mira saß schweigend und mit verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz und tat nichts, um ihnen zu helfen. Liam hatte den Rucksack an die Brust gedrückt und zitterte in dem kalten Fahrtwind. Seit Evelyn aus dem fahrenden Auto gesprungen war, fühlte Liam sich den Tränen nah. Er wusste, dass das der Schock sein musste. Alles war so schnell gegangen. Und jetzt wusste er nicht, ob es Eve gut ging.
Er war so mit seinen Sorgen beschäftigt, dass er fast nicht bemerkte, wie sie sich dem nächsten Hotel näherten. Er sah auf, als der Geruch in der Luft sich veränderte. Plötzlich roch es faulig, als wäre ein Sumpf in der nähe. Liam hob den Kopf und sah tatsächlich eine weite Fläche mit hohen, schlanken Gräsern, die an Schilf erinnerten. Der Boden, wo er zu erkennen war, war schwarz. Liam tauschte einen Blick mit Amy.
"Torfmoor", murmelte sie leise, als habe sie seine stumme Frage verstanden.
Liam schluckte, als ihm klar wurde, was das für sie bedeutete: Es gab kein Entkommen. Sie würden nur riskieren, im Sumpf zu ertrinken.
Die Straße war kaum zuerkennen, selbst am Tag. Es war ein grauer Tag, während sich die Autos einen schmalen Streifen Matsch entlang quälten. Endlich erschien das einzige Gebäude in dieser Einöde, ein großes, graues Haus, vielleicht auf dem 16. Jahrhundert, jedenfalls sah es sehr alt aus. Die zahlreichen Fenster waren blind von den Jahren. Durch die schmutzige Fassade ging, ziemlich in der Mitte des Hauses, ein breiter, klaffender Riss, wie eine furchtbare Wunde. Dieser Riss, vor allem Anderen, zog Liams Aufmerksamkeit auf sich. Es schien, als ging der Riss tief in den Stein. Sehr tief.
Die Wagen hielten vor dem Gebäude und spuckten sie einen nach dem anderen aus. Milo und Eve wurden von jeweils Zweien der Fahrern ins Innere getragen. Die anderen folgten, vor der Pforte zögernd, als ob eine unsichtbare Wand sie aufhalten wollte. Sogar Liam verspürte eine tiefe Abneigung dagegen, das Haus zu betreten. Ihm war, als spüre er ein Bewusstsein, das vollständig dagegen war, ihm Einlass zu gewähren.
Eve und Milo wurden in der Eingangshalle auf zwei Sofas gelegt und die Fahrer verschwanden. Amy kniete sich sofort neben ihre Freundin und fühlte ihre Stirn. Unbeholfen setzte Liam sich zu Milo. Der Junge reagierte auf nichts, aber er atmete noch.
Luca beobachtete sie über den Raum hinweg, ohne zu ihnen zu kommen. Er blieb wohl lieber bei Samstag und den fünf Mädchen.
Sie standen nicht lange in der Halle. Bald erschien ein älterer Herr, der eine höfliche Verbeugung machte: "Mit eurer Erlaubnis werde ich euch eure Zimmer zeigen. Wer möchte mir zuerst folgen?"
"Können wir mit irgendjemandem sprechen?", versuche Amy es, "und die Tour abbrechen. Unsere Freunde sind krank!"
"Keine Sorge. Wir werden sie verpflegen", lächelte der Mann mit schütterem Haar und ging zu Amy. Er schob ihr eine Hand unter den Ellbogen und zog sie mit sich. Obwohl Amy sich sichtlich sträubte, hatte sie keine Chance. Liam schluckte, dann rannte er hinterher, bevor Amy und der Mann in einem langen Gang verschwanden.
"Immer nur einer", empfing ihn der Mann und warf ihm mit unglaublich dunklen Augen einen langen Blick zu.
"Ich lasse sie nicht allein!", bestand Liam tapfer. Amy lächelte schwach: "Danke, Liam. Aber Eve ..."
"Ich bleibe bei ihr", fauchte er und stemmte die Hände in die Seiten.
Der Mann zuckte mit den Schultern: "Dann folgt mir."
Es ging lange, düstere Gänge entlang, die Wände mit Kerzenhaltern bestückt, doch kaum beleuchtet, mit alten Ölgemälden und Wandteppichen zwischen unzähligen Türen aus dunklem Holz. Es roch nach Staub und Mottenkugeln. Auf dem Boden war ein verblasster, früher wohl roter Teppich, aus dem bei jedem Schritt Staub aufstieg.
Der Mann führte sie den Gang entlang und Treppen hinauf. Überall sah es gleich aus. Liam verlor schnell die Orientierung.
"Hier ist das Zimmer der Dame", sagte der Mann und schenkte Amy ein Lächeln, das schiefe Zähne offenbarte, während er ihr eine Tür öffnete und sie hinein ließ. Amy trat langsam durch die Türöffnung, als erwarte sie, eingesperrt zu werden. Liam war ebenso überrascht wie sie, als nichts dergleichen geschah.
"Junger Mann ... folg mir. Dein Zimmer ist nicht weit entfernt."
Tatsächlich ging es nur um eine Biegung, bis auch für Liam eine Tür geöffnet wurde. Mit einer Verbeugung verabschiedete sich der Mann: "Um 18 Uhr gibt es Abendessen, danach eine Lesung. Falls ihr irgendetwas brauchen solltet, könnt ihr mich gerne fragen."
Er hob noch einmal den Blick und lächelte Liam wieder an. Mit gedämpfter Stimme flüsterte er: "Ich helfe euch, so gut ich kann, okay?"
Liam starrte den alten Mann an, dessen graue Haare beinahe ganz ausgefallen waren, dessen Gesicht schlaff und bleich war und dessen Augen unheimlich dunkel waren. Er hatte den Mund noch nicht wieder geschlossen, als der Mann verschwunden war.