Das Abendessen:
"Geht es dir gut? Wir haben dich schreien gehört", fragte Eve Liam, während sie den Männern in weißen Kitteln folgten, die sie zum Abendessen abgeholt hatten.
"Es war nichts. Nur eine Puppe", erklärte Liam.
Eve nickte: "Amy hatte etwas in der Art erwähnt."
Milo folgte den anderen dreien schweigsam. Er mochte keine Irrenhäuser, und dieses schon gar nicht. Zwar schien alles sehr sauber zu sein, gepflegt, und mehrere Bilder an den Wänden versuchten, die Atmosphäre aufzuheitern. Aber er durchschaute den verzweifelten Versuch und erinnerte sich an einige lange Monate, die er in einem gnaz ähnlichen Haus zugebracht hatte. Die Erinnerung war nicht schön. Er würde gerne alles, was damals geschehen war, verdrängen. Aber hier kam alles wieder hoch. Die Übelkeit, die ihn daran gehindert hatte, etwas zu essen, die Sorge seiner Eltern, das Gelächter der Kinder auf dem Schulhof. Laut seinem psychologischen Gutachten war das vorbei, aber er wusste, dass es das nie sein würde. Es war, als wäre seine Haut dünner geworden, weniger widerstandsfähig, egal, wie oft er seinen Körper trainierte. In Momenten wie diesem ließ die Haut all die Erinnerungen wieder durch.
Der Speisesaal war, wie er in diesen Anstalten wohl immer ist: Ein großer Raum, mit enggedrängten Plastiktischen und -stühlen. Es gab ein Buffet. In einer kurzen Schlagen luden sie sich alles mögliche auf die abgerundeten Plastiktablette und trugen sie dann zu ihrem Tisch. Es gab kein richtiges Besteck, Messer und Gabeln waren abgerundet, um keine Gefahr darzustellen, wie Kinderbesteck. Auch das Essen sah nicht gerade appetitlich aus. Milo kämpfte mit sich, aber er konnte nichts auf sein Tablett stellen. Er bemerkte Eves besorgten Blick, aber sie sagte nichts.
Er war dankbar dafür. Er würde hier nichts essen können. Alles roch nach billigem Plastik und noch billigerem Essen. Ihm wurde schlecht davon.
Wortlos stellte Eve ihm ein Glas Wasser auf sein Tablett. Es war zur Hälfte gefüllt. Milo sagte nichts dazu und setzte sich mit dem Tablett zu den anderen. Samira musterte sein sehr karges Abendessen irritiert. Evelyn, die den Blick auffing, stieß Milo in die Seite und lachte: "Immer noch ganz der Sportler, selbst im Urlaub, was?"
"Ich muss auf meine Kalorien achten", ging Milo mit einem dünnen Lächeln auf diese Ausrede ein.
Samira beugte sich über ihre eigene Portion.
Sie saßen an 4er-Tischen. Zu Milo und Eve hatten sich Dimitri und Samira gesetzt. Liam hatte sich einen Platz weiter außen gesucht und stocherte, den Kopf auf eine Hand gestützt, in seinem Essen herum. Samstag, seine fünf Begleiterinnen und Luca nahmen zwei Tische völlig in Beschlag und unterhielten sich gedämpft, aber lebhaft. Milo versetzte es einen Stich, dass Luca so schnell neue Freunde gefunden hatte und bei ihnen blieb. Und dann auch noch bei denen, von denen sie wussten, dass sie Lügner waren!
Amy setzte sich zu Liam. Sie aßen schweigend oder in gedämpfte, murmelnde Gespräche vertieft. Niemand schien es wagen wollen, laut zu reden. Milo nahm das Geschehen wie von Außen wahr, ein Fluss losgelöster Stimmen, die unverständliche Worte flüsterten.
Er trank einen Schluck Wasser und setzte es ab. Das Getränk schmeckte säuerlich und deutlich nach dem Plastikbecher. Er schob das Tablett ein winziges Stück von sich weg.
Auch die anderen aßen wenig. Die meisten ließen ihr Essen stehen. Samstag war der Einzige, der sich noch eine Portion holte. Alles roch widerlich. Dimitri, der neben Milo saß, verströmte einen süßlichen Fäulnisgeruch. Milos Blick wurde wie magnetisch von den durch Neurodermitis entstellten Armen angezogen. Es sah aus, als würde das Fleisch offen liegen.
Eve berührte sanft seinen Arm und sah ihn mit besorgtem Blick an. Milo lächelte schwach. Er wollte ihr sagen, dass alles in Ordnung sei, doch das stimmte nicht. Er fühlte sich furchtbar, und als endlich alle fertig waren, verließ er beinahe fluchtartig den Saal. Eve folgte ihm.
"Etwas stimmt hier nicht", flüsterte Milo ihr zu.
Er war schon einmal in einer solchen Klinik gewesen. Er erinnerte sich deutlich, und er wusste, dass hier etwas falsch war. Es war zu still, oder doch zu laut, aber die falschen Geräusche. Die Patienten, die ihnen begegneten, lebten alle in ihren eigenen Welten, aber sie waren still.
Als hätten sie Angst.