Entkommen:
Im frühen Morgengrauen an dem Tag nach Halloween humpelte eine kleine Gruppe an die vielbefahrene Landstraße. Sie sahen zerschlagen aus und waren mit Blut besudelt. Trotzdem hielt bald ein Wagen. Der Fahrer bot an, die vier ins nächste Krankenhaus zu bringen. Sie nickten nur und saßen den Rest der Fahrt schweigend auf dem Rücksitz, teilnahmslos aus dem Fenster sehend.
Amy kam im Krankenhaus zu sich. Ihr ganzer Körper schmerzte. Alle möglichen Wunden, der Muskelkater und die Angst forderten jetzt ihren Tribut.
Sie öffnete nur langsam die Augen. Zu ihrer Überraschung saß jemand an ihrem Bett.
Zuerst fürchtete sie, dass Samira gekommen war, um sie nun doch zu töten. Als ihr Herzschlag sich beschleunigte, geschah das Gleiche mit einem monotonen Piepsen, das jetzt raste und sich überschlug.
"Amy, alles gut. Ich bin's", sagte eine vertraute Stimme. Mira.
Amy beruhigte sich. Sie war so erschöpft, dass sie die Augen kaum offen halten konnte. Die blonde Frau mit den kurzen Haaren lächelte ihr zu und berührte ihre Hand.
"Ich wollte mich nur verabschieden. Wir gehen jetzt, Samstag und ich. Wir müssen zurück."
Amy wollte etwas sagen, aber kein Wort kam über ihre Lippen. Nur ein Stöhnen.
"Ich glaube nicht, dass wir uns wiedersehen werden", meinte Mira. "Aber das ist ein gutes Zeichen. Du musst wissen, dass es vorbei ist, Amy. Wir sind entkommen. Samira wird bald unschädlich gemacht. Wenn du Glück hast, wirst du nie wieder von uns hören. Aber falls die Tage ein wenig Geld auf deinem Konto eintrifft, war das der Lohn für deine Tapferkeit."
Mira lächelte, aber es war ein schales Lächeln. Traurig.
Amy strengte sich an: "Luca ...?"
"Samstag ist bei ihm. Es geht ihm gut. Ihr werdet eine Weile hierbleiben, aber eure Familien sind informiert", berichtete Mira: "Bald seid ihr wieder Zuhause."
Sie stand auf und strich Amy einmal über das Haar: "Ihr habt euch gut angestellt. Ihr seid stark. Lebt euer Leben weiter, ja?"
Amy nickte schweigend. Ihr fielen die Augen schon wieder zu. In ihrem Kopf dröhnte es.
In der Kantine saßen Amy und Luca etwas abseits an einem Einzeltisch. Sie rührten kein Essen an, denn sie hatten keinen Appetit. Schweigend beobachteten sie die anderen Menschen, die über alle möglichen Probleme schwatzten.
"Wird es irgendwann wie früher sein?", fragte Amy leise.
Luca sah sie mit traurigen Augen an und schüttelte den Kopf: "Niemals."
Amy sah zu den Menschen herüber. Sie konnte nicht mehr Teil dieser anonymen Masse sein und über Krankenkassen, Bekannte oder Politik reden. Unter den Verbänden waren unzählige Bisse und Verletzungen. Unter ihrer Haut waren Wunden, deren Narben niemals heilen würden.
Sie dachte an ihr Studium. Medizin, natürlich. Plötzlich kam ihr das alles so unbedeutend vor, und gleichzeitig so wichtig. Sie würde das Studium nicht schaffen können, nicht nach diesen Ereignissen. Sie lachte trocken auf. Als sie Lucas verwirrten Blick bemerkte, brach sie in Tränen aus. Er nahm sie in den Arm. Sie kümmerten sich nicht um die Blicke der anderen Patienten.
Sie gehörten nicht mehr zu ihnen.
Amy schreckte vor Spiegeln und dunklen Räumen zurück. Sie aß und redete kaum. Sie entwickelte keine Freude mehr an irgendwas. Mit Luca war es genauso. Während ihre besorgten Eltern darüber redeten, ob sie die verstörten Kinder in eine Therapie geben sollten, saßen Amy und Luca auf dem Bett in Amys Krankenzimmer.
Sie hatten lange über ihre Freunde geredet. Die Bilder hingen über Amys Schreibtisch, die einzigen Akzente in dem sonst so leeren Zimmer. Es gab den Schreibtisch, das Bett und einen Schrank.
Den Boden, die Wände und diese drei Bilder. Daneben hing ein Bild von Dimitri, das Amy aus einem alten Zeitungsartikel ausgeschnitten hatte. Von Samstags Gruppe hatten sie keine Fotos gefunden.
Wie sie so nebeneinander auf dem Bett saßen, waren sie dem Blick der Toten schutzlos ausgeliefert.
Amy sah Luca an. Auch er hatte noch nicht begonnen, weiter zu leben. Der Schrecken war noch zu frisch. Sie waren jetzt zwei Tage im Krankenhaus und warteten auf ihre Familien, auf den Bescheid, nach Hause zu dürfen, auf die Fragen der Polizei.
Es verging keine Zeit, während sie da saßen und warteten.
Luca erwiderte Amys Blick. Es war so unrealistisch, dass ausgerechnet sie hier sitzen sollten, von allen, die mitgefahren waren. Glück, Schicksal, Zufall, was auch immer entschieden hatte, dass ausgerechnet sie überlebten - Amy wünschte, es wäre anders gewesen.
Sie lächelte Luca zu. Er lächelte zurück. Kicherte. Amy fiel mit ein. Es gab keinen Grund, es fühlte sich nur gut an.
Bald lachten sie schallend, denn ein Mensch kann nicht für alle Zeit traurig sein. Die Wunden würden niemals heilen. Aber sie hatten noch ein ganzes Leben vor sich, um nach einem Verband für die Narben zu suchen. Sie würden sich erinnern. Und sie würden leben.