Auszug aus Kapitel 5
Mary-Ann spricht kein Wort, während wir von der Turnhalle zum Schulgebäude hinübergehen. Ich frage mich, ob sie starke Schmerzen hat, doch sie jammert nicht einmal. Ihr Arm ist immer noch um meinen Hals geschlungen, sodass ich sie bei jedem Schritt stützen kann. Auf diese Art kommen wir mehr schlecht als recht vorwärts und brauchen eine gefühlte Ewigkeit, bis wir an den Treppenaufgängen innerhalb des Schulgebäudes landen. Es ist totenstill in diesem riesigen Haus. Nur hin und wieder dringen sanfte und leise Töne von Lehrern durch die dicken Klassenzimmertüren zu uns hindurch.
„Ich glaube, wir sind gleich da. Geht’s denn?“ Ich schiele zu ihr hinüber, doch sie starrt einfach geradeaus. Ist das der Schock? Weil sie mit dem Fuß umgeknickt ist? Manche Menschen sind vielleicht so empfindlich.
Wer weiß.
Ihr Schweigen wird mir langsam unangenehm, zumal mir ihre Nähe mittlerweile fast zu viel ist. Ich bin es nicht gewohnt, anderen Menschen so extrem nah zu kommen. Aber ich will sie natürlich auch nicht mit ihrem verletzten Fuß alleine laufen lassen.
Nach dem ersten Treppenaufgang mache ich eine Pause und atme schwerfällig durch. Mary-Ann ist wirklich keine große Hilfe. Inzwischen liegt ihr ganzes Körpergewicht auf meinen Schultern.
„Weißt du, wenn du ein kleines bisschen mitmachen könntest, dann…“
„Weg da! Lass sie los! Entferne dich von ihr!“
Die Stimme aus dem Hintergrund erschreckt mich dermaßen, dass Mary-Anns Arm tatsächlich von meiner Schulter rutscht. Das plötzlich fehlende Gewicht bringt mich aus dem Gleichgewicht und ich suche schwankend nach Halt, während ihr Körper zu Boden sackt.
Hinter uns steht ein hochgewachsener junger Mann mit vollem schwarzen Haar und den außergewöhnlichsten Augen, die ich je gesehen habe. Eines ist hellblau und das andere grün. Ich hätte gerne noch eine Sekunde darüber nachgedacht, doch meine Tendenz geht automatisch in Mary-Anns Richtung, damit ich ihr aufhelfen kann.
„Finger weg!“, ruft er noch einmal und ich lasse das Mädchen augenblicklich los.
„Was hast du für ein Problem? Sie ist verletzt!“
„Nein, ist sie nicht!“ Er tritt auf mich zu, schiebt mich dabei in den Hintergrund und wühlt in seinem Rucksack herum, bis er einen dreckigen Holzpfahl herauszieht und in Mary-Anns Richtung läuft.
„Bist du wahnsinnig? Was tust du denn da?“ Meine Stimme überschlägt sich bei dem Anblick beinahe und ich renne auf ihn zu, um ihn in seiner unvorstellbaren Handlung aufzuhalten. In dem Moment, als meine Hand ihn berührt, durchfahren mich mehrere kleine elektrisierende Lichtblitze. Ich sehe keine Bilder, keine Visionen. Aber ich fühle eine unheimliche Energie durch meinen Körper strömen. Und als ich einen Blick in seine außergewöhnlichen Augen werfe, sehe ich, dass auch er es gespürt haben muss. Mit starrem Blick sieht er mich an und flüstert die Worte: „Was bist du?“
Das erschreckt mich so sehr, dass ich nun doch zurückweiche. Exakt in dieser Sekunde erhebt Mary-Ann sich langsam vom Boden. Ich erwische mich noch bei dem Gedanken, dass sie plötzlich ziemlich gut auf beiden Beinen stehen kann, als der Fremde auf sie zurast, mit dem Pfahl in der rechten Hand einmal weit ausholt und ihn ohne Vorwarnung in Mary-Anns Herz rammt. Mit einem schockierenden Schrei presse ich mich an die Wand und traue meinen Augen kaum, denn sobald der Pfahl in ihre Brust eindringt, löst sich ihr Körper vor uns in Luft auf. Und das ist sogar wortwörtlich gemeint. Innerhalb eines Augenblinzelns bleibt nur noch eine kleine Rauchwolke übrig. Kein Blut. Kein Körper. Nichts.
Ich presse die Hand auf mein Herz, um das wilde Schlagen unter Kontrolle zu bringen.
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