Auszug aus Kapitel 3
[…] Ich kenne den Supermarkt von meinen Ferienbesuchen, sodass ich zumindest weiß, in welcher Richtung das Obst und Gemüse auf mich wartet. Scheinbar will sie einen Salat zu ihren Teigtaschen machen. Vor der Gemüseabteilung schnappe ich mir ein Körbchen und schlendere durch die Reihen. Tomaten, Salat, Möhren. Gedanklich hake ich den Zettel im Kopf ab, um den Überblick zu behalten. Grandma ist immer noch nicht zu sehen.
Jetzt fehlen nur noch die Zitronen und ich kann die Abteilung hinter mir lassen.
Doch da fällt mir plötzlich dieser Typ auf.
Erst sehe ich ihn nur aus dem Augenwinkel, doch selbst das reicht, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, denn er steht tatsächlich vor den Kisten mit den Äpfeln, nimmt einen nach dem anderen heraus und rollt sie quer über den Boden. Einen hält er sogar in der Hand und isst ihn einfach. Ob er noch nie etwas vom Bezahlen gehört hat?
Verwundert beobachte ich ihn. Er grinst bei seiner komischen Aktion, sammelt die Äpfel wieder auf, legt sie zurück in die Kiste und geht weiter zu den Orangen. Sofort schnappt er sich drei Stück und fängt an zu jonglieren. Dabei hüpft er auf einem Bein durch die Gänge und wenn mich nicht alles täuscht, höre ich ihn dabei sogar summen.
Langsam drehe ich mich um und schaue nach den anderen Kunden. Es wundert mich, dass ihn von den Verkäufern noch niemand angesprochen hat. Sie hocken in den Gängen und füllen die Regale und Kisten mit frischen Lebensmitteln auf.
Wäre ich Verkäufer, hätte ich ihn angesprochen.
Ich meine, andere Menschen wollen dieses Zeug kaufen. Er rollt es durch die Gänge, lässt es dreckig werden und legt es dann wieder zurück. Das ist schon irgendwie eklig.
Joyce hätte ihm jetzt ihre Meinung gesagt. Sie hat da niemals ein Blatt vor den Mund genommen, weshalb sie auch immer für solche Angelegenheiten zuständig war und ich nun hier stehe und mich verschämt nach jemandem umsehe, der ihm die Leviten liest, anstatt es selbst zu tun.
Ich packe gerade ein Netz Zitronen in meinen Korb, als eine Orange direkt vor meine Füße rollt. Ich weiß genau, woher die kommt. Und ich weiß noch viel besser, von wem. Das ist meine Chance einmal den Mund aufzumachen. Auch ohne Joyce. Nächstes Mal kaufen wir vielleicht diese Äpfel, die über den Fußboden gerollt sind, über den schon hunderte von Menschen an diesem Tag gelaufen sind. Vielleicht hat der ein oder andere auch noch Hundehaufenreste unterm Schuh und ich esse das dann. Mich schüttelt es vor Ekel.
Ich kann mich gut in Dinge reinsteigern und für den Moment hilft es tatsächlich, sodass ich die Orange aufhebe und über das Obst- und Gemüseregal zu ihm rüberreiche.
„Hier!“, sage ich laut und deutlich und meine Stimme klingt dabei fester, als ich mir selbst zugetraut hätte. „Deine Orange. Ist dir wohl beim Jonglieren aus der Hand gerutscht.“
Der Typ, dessen Gesicht ich nun zum ersten Mal sehe, bleibt plötzlich wie versteinert stehen und starrt mich an. Er hat dunkelbraunes, verwuscheltes Haar, das mit Haarspray oder Gel fixiert zu sein scheint. Zumindest hat es diesen Wet-Look an den Spitzen. Seine Gesichtszüge sind weich und sympathisch und leider sieht er überhaupt nicht so aus, wie ich es nach der Obstaktion erwartet hätte. Im Gegenteil. Doch das Schönste an ihm sind seine Augen. Dunkelblaue Augen mit einzelnen hellgrünen Punkten. Sie wirken alles andere als dumm, sondern warm und tief, als könnte man sich einfach in ihnen verlieren und nie wieder zurückkehren. Er trägt eine ausgewaschene Jeanshose, die sicher schon bessere Tage gesehen hat und darüber ein blau-weiß kariertes Hemd unter einer schwarzen Sweatjacke.
Denk an das Obst, Hannah. Lass dich bloß nicht davon täuschen, dass er gut aussieht., rüttle ich mich selbst wach, versuche mich zusammenzureißen und zumindest den Mund wieder zu schließen.
„Deine Eltern haben dir wohl nicht beigebracht, dass man Essen nicht durch die Gegend schmeißt.“, sage ich nun und plötzlich klingt meine Stimme viel brüchiger, als ich es geplant habe. Noch immer halte ich die Hand ausgestreckt über das Regal. Und noch immer sagt dieser Junge nichts. Er steht einfach da und starrt mich an, als hätte ich irgendwas im Gesicht kleben.
Sofort lasse ich den Arm bei diesem Gedanken sinken und wische mir mit der Handfläche einmal über den Mund. Vielleicht habe ich ja Kekskrümel vergessen. Aber da ist nichts. Ich will gerade erneut ansetzen und ihm meine Meinung sagen, als eine Mutter ihren kleinen Sohn an der Hand an mir vorbeizieht. Der Kleine sieht mich ganz merkwürdig an, aber der Blick der Mutter ist schlimmer. Als wäre ich eine Vollidiotin.
„Was ist?“, versuche ich mich zu wehren. „Sie sagen Ihrem Kind doch sicher auch, dass man Essen nicht durch die Gegend wirft.“ Sie schüttelt nur den Kopf und zieht weiter am Arm des Kindes. Ich glaube, ich höre sie etwas in der Art wie „Komische Jugend heutzutage!“, nuscheln und ziehe eine Grimasse zu dem Kind, das mich immer noch so merkwürdig anstarrt.
Als ich mich wieder dem blauäugigen Schönling zuwenden will, ist er verschwunden.
„Hey…“, entfährt es mir und ich laufe ums Regal rum, um zu sehen, ob er irgendwo dahinterkniet. Zutrauen würde ich ihm ja solche komischen Aktionen. Doch ich kann ihn nirgendwo finden. Das Obst liegt unberührt in seinen Kisten und von dem Jungen ist weit und breit nichts mehr zu sehen. Vorsichtig lege ich die Orange zu den anderen. Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. […]
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