Kapitel 6 -Maya-
“Nun erzähl mir mal ein wenig von deinem ersten Schultag.” Mama setzte rückwärts aus der Garage und fuhr auf die Hauptstraße. Sie war früher nach Hause gekommen, als ich erwartet hatte. In den seltensten Fällen bekam ich sie vor dem Schlafengehen noch zu Gesicht.
“Eigentlich war er ganz okay. Ich konnte meine Kurse so belegen, wie wir es besprochen haben.”
“Gut, sehr gut. Das heißt, Biologie und Deutsch sind jetzt deine Hauptkurse?”
“Das heißt Leistungskurse, Mama.” Sie nickte und bog in die nächste Seitenstraße ein.
“Habt ihr schon viele Hausaufgaben auf?”
“Das war der erste Schultag. Was erwartest du? Jeder Lehrer hat seine Standardeinführung gnadenlos durchgezogen, ohne zu registrieren, dass wir uns den gleichen Mist immer und immer wieder anhören müssen. Nur einer hat überhaupt schon mit Unterrichtsstoff begonnen. Gab nur `ne kleine Hausaufgabe. Hab ich schon fertig..”
“Das Schulsystem von heute soll mal jemand verstehen. Nicht genug Lehrer, ständig Ausfallstunden und wenn sie schon mal Zeit dazu haben, unterrichten sie nicht. Ich hab schon überlegt, ob du auf einer Privatschule nicht viel besser untergebracht wärst.”
Entsetzt sah ich zu ihr hinüber. Sie konzentrierte sich auf die Straße und würdigte mich keines Blickes.
“Eine Privatschule?”
“Ja, es ist ein Stück entfernt, soll aber ein tolles Internat sein, das Schloss Litornikus. Wir hätten viele Vorteile davon. Nicht nur, dass es einen vorbildlichen Ruf hat und die Absolventen der Oberstufe zu den besten Deutschlands gehören, sondern auch, dass du dort rund um die Uhr versorgt wärst.”
“Ich bin 16, ich muss nicht mehr rund um die Uhr versorgt werden. Ich komme gut alleine klar, dass hab ich doch seit Jahren schon bewiesen.”
“Ja mein Schatz. Ich weiß, es war ja nur eine Überlegung.”
“Bitte nicht. Allein die Vorstellung finde ich furchtbar. Da sind bestimmt nur Spießerkinder.”
“Maya. Was hab ich dir über Vorurteile gesagt?” Sie parkte auf dem Supermarktparkplatz und löste ihren Gurt.
“Du schickst mich da nicht hin, versprich es!” Ich griff nach ihrem Arm und sah sie flehend an.
“Ist ja gut, mach nicht so ein Theater.”, sie drehte sich ein Stück näher zu mir. “Dein Vater hat angerufen.”
“Nicht auch das noch.” Ich schloss die Augen und seufzte.
“Er fragt, wann du das nächste Mal zu Besuch kommst. Du sollst dich melden.”
“Ich hab gar keine Lust zu ihm zu fahren. Jedes Mal nehme ich diese stundenlange Fahrt auf mich, nur um dort auf einem harten Gästebett zu schlafen und mir den ganzen Tag lang anhören zu müssen, wie toll sich Tony entwickelt. Das kotzt mich an.” Ich trat gegen das Armaturenbrett.
“Maya ich bitte dich. Weißt du was der Wagen gekostet hat? Nimm die Füße runter.”
Ich spürte, wie sie mich anstarrte, würdigte sie aber keines Blickes.
“Was kommt noch: erst Internat, jetzt Papa, willst du mir auch noch sagen, dass du heiratest? Mach es lieber schnell, ich bin in bester Stimmung dafür.”
Sie nahm ihre Sonnenbrille aus dem Handschuhfach vor mir und setzte sie auf.
“Rein zufällig will ich das nicht. Was deinen Vater betrifft, sag mir Bescheid, wenn du dich entschieden hast. Er wartet auf unseren Rückruf.”
Kommentarlos stieg ich aus dem Wagen und knallte die Autotür zu.
Meistens ging ich alleine einkaufen, weil Mama bis spät abends im Büro saß. Früher hatten wir sogar ein Kindermädchen für solche Dinge. Rosa. Sie holte mich von der Schule ab, erledigte Hausaufgaben mit mir, kochte, wusch Wäsche, ging einkaufen und brachte mich ins Bett. Obwohl ich Rosa wirklich gern hatte, war mir dieses ganze Prozedere mit 14 eindeutig zu kindisch. Glücklicherweise sah Mama das genauso. ‘Selbstständigkeit ist das A und O.’, pflegte sie so gerne zu sagen. Die meisten Aufgaben im Haushalt übernahm ich seitdem selbst. Nur für die Reinigung des Hauses und Grundstücks hatten wir ein Hausmädchen und einen Gärtner, die jeweils zweimal die Woche kamen. Alles andere war mein Job: Wäsche waschen, einkaufen gehen, kochen. Da ich mir meine Zeit dafür aber völlig frei einteilen konnte, hatte ich damit auch keine Probleme. Das Mama und ich an diesem Tag mal wieder zusammen einkaufen fuhren, musste eigentlich rot im Kalender angestrichen werden, so selten kam es vor.
Es war Feierabendzeit und der Parkplatz komplett voll. Schon von draußen konnten wir die Stimmen im Inneren des Ladens hören.
“Ich hätte gleich nach der Schule gehen sollen.”, seufzte ich. Mama zuckte nur mit den Schultern und holte einen Einkaufswagen.
“Wo müssen wir zuerst hin?”
Ich kramte nach dem Einkaufszettel in meiner Tasche.
“Äpfel und Bananen. Also gleich in die Obst- und Gemüseabteilung.” Wir stürzten uns in das Gedränge. Die Gänge waren voll mit Einkaufswagen, heulenden Kleinkindern, genervten Müttern und Vätern, sowie älteren Leuten.
“Ich werde nie verstehen, warum alte Menschen zu Feierabendzeiten einkaufen gehen müssen. Die haben doch den ganzen Tag Zeit.” Mama schimpfte und schob mit unserem Wagen den eines älteren Pärchens zur Seite. Beide sahen sie überrascht an. Sie reagierte nicht und ich lächelte an ihrer Stelle entschuldigend.
“Ich hole schon mal den Joghurt und die Milch. Wir treffen uns an der Fleischtheke, ja?” Mama schien mir gar nicht zuzuhören. Ich ließ sie trotzdem stehen und drängelte mich durch die Menschenmengen. Ein kleines Mädchen mit geflochtenen Zöpfen rannte mir vor die Füße, fiel hin und begann zu weinen. Ihre Eltern straften mich mit einem bösen Blick. Ich wusste schon, warum ich einkaufen gehen nicht mochte. Um zu den Milchprodukten zu gelangen, nahm ich eine Abkürzung über die Süßigkeitenabteilung und die Konservenregale. Gerade als ich an den Schokoladentafeln vorbei war und um die Ecke bog, fuhr von rechts ein Einkaufswagen in mich hinein. Ich stolperte nach hinten, fiel direkt vor ein Regal und ging zu Boden. Schmerzerfüllt strich ich mir über den Oberschenkel, der Bekanntschaft mit Wagen und Regal gemacht hatte. Das würde einen dicken, blauen Fleck geben. Der Wagen-Fahrer kam besorgt auf mich zu.
“Entschuldige, ich…”, seine Stimme stockte und als ich in sein Gesicht blickte, erkannte ich auch wieso.
“Leo? Was machst du denn hier?” Zugegebenermaßen war das nicht die schlauste Frage. Es war ja deutlich zu sehen, warum er in dem Laden war. Leo blickte besorgt auf mich hinab. Doch irgendetwas an ihm stimmte nicht. Sein Gesicht war aschfahl. Auf der Oberlippe und unter seinen blonden Haaren auf der Stirn standen kleine Schweißperlen.
“Bist du krank?”, platzte es aus mir heraus.
Er antwortete – wie gewohnt – gar nichts, reichte mir aber seine Hand, um mir aufzuhelfen. Sie war eiskalt und feucht vom Schwitzen. Ob er Fieber hatte?
Ich klopfte mir die Hose sauber und rieb mir ein letztes Mal über den schmerzenden Oberschenkel.
“Na gut. Dann wünsch ich dir noch einen schönen Abend. Bis morgen.”
Seine Augen sahen riesig in diesem blassen, schmalen Gesicht aus. Fast flehend sah er mich an, als ich mich auf den Weg zum Milchregal machte. Kurz bevor ich den Gang verließ, drehte ich mich noch einmal um. In den Massen sah ich ihn nicht. Er war sicher weitergegangen.
Mama wartete ungeduldig an der Fleischtheke.
“Ich dachte schon du kommst nie mehr an.” Genervt nahm sie mir die Milch und den Joghurt aus der Hand, verstaute sie im Wagen und gab die Bestellung an der Theke auf. Währenddessen ließ ich meinen Blick durch den Laden gleiten. Wo war er nur hin? Und warum sah er jedes Mal, wenn ich ihm begegnete, so schlecht aus?
“Maya?” Mama riss mich aus meinen Gedanken. Sie war bereits auf dem Weg zur Kasse.
Schweigend lief ich ihr hinterher, während wir beide den Wagen mit weiteren Lebensmitteln füllten. Es waren nur 2 Kassen geöffnet, an denen sich bereits lange Menschenschlangen gebildet hatten.
“An welche gehen wir?”
Ich verglich die Schlangen gedanklich miteinander. An der linken standen zwar mehrere Menschen mit gefüllten Einkaufswagen, an der rechten allerdings mehrere ältere Menschen bei denen es bekanntlich länger dauerte. Wahrscheinlich nahm sich beides nichts. Ich zuckte nur mit den Schultern und Mama seufzte. Sie entschied sich für die Kasse mit den Älteren. Erstaunlicherweise ging es neben uns viel schneller. Trotz voller Einkaufswagen und mehr Menschen kamen sie gut voran. Wir hingegen standen noch immer auf demselben Fleck wie 10 Minuten zuvor.
“Uns schmilzt gleich das Tiefkühlgemüse, wenn es nicht endlich weitergeht.” Ich trat einen Schritt zur Seite und versuchte zu erkennen, wer uns so lange aufhielt. Erst konnte ich nichts sehen doch dann blitzten die blonden Haare und die hagere Gestalt aus der Masse hervor.
Leo.
Was tat er denn da? Die Kassiererin schien auf ihn einzureden, doch ich stand zu weit weg, um ihre Worte verstehen zu können. Ich konnte aber erkennen, dass er sein Portemonnaie in den Händen hielt, die selbst aus meiner Entfernung deutlich sichtbar zitterten. Die Frau hinter ihm begann sich lautstark über ihn zu beschweren.
“Das weiß man doch vorher.”
Der grauhaarige Opa hinter ihr nickte zustimmend.
“Der Junge hält den ganzen Laden auf.”
Leo wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Obwohl es immer noch weiß wie eine Wand war, konnte ich auch die roten Wangen erkennen.
Das Ehepaar vor Mama und mir schimpfte etwas Unverständliches und wechselte an die andere Kasse.
“Was ist denn da vorne los?” Mama sah von ihrem Handy auf, dass sie die letzten Minuten beschäftigt hatte.
“Ich kenne den Jungen. Bin gleich zurück.”
Ich drängte mich zwischen den meckernden und schimpfenden Kunden nach vorne an den Kassenanfang. Leo sah von Nahem aus wie der Tod auf Latschen. Schweißflecken zeichneten sich auf seinem T-Shirt ab und sein ganzer Körper schien unaufhörlich zu zittern.
“Was ist los?” flüsterte ich ihm ins Ohr.
Die Kassiererin warf mir einen genervten Blick zu.
“Dein Freund hat kein Geld. Entweder er bezahlt, oder das ganze Zeug fliegt an die Seite und wir machen weiter.”
“Wo ist dein Geld, Leo?”
Der Reißverschluss des Portemonnaies klapperte in seinen zitternden Händen.
“Ich übernehme das.”
Sein Blick schnellte nach oben und sah mich hilflos an. Er sah aus, als würde er jeden Moment anfangen zu weinen. Was hatte er bloß?
Die Kassiererin nahm das Geld verständnislos entgegen, gab mir das Wechselgeld zurück und druckte uns den Bon aus.
Ich schob Leo, dessen Körper mittlerweile zu glühen schien, nach vorne an die Front der Kasse. Dort half ich ihm beim Verstauen der Lebensmittel in seine mitgebrachten Beutel. Die Kunden hinter uns warfen noch immer böse Blicke zu uns nach vorne, obwohl wir niemandem mehr im Wege standen.
In mir brannte die Frage, was er nur hatte. Doch die letzten Male antwortete er mir nie und ich war mir fast sicher, dass er es in der Situation dort auch nicht tun würde. Er schien generell auf nicht viel zu reagieren. Mechanisch schmiss er alles in den Beutel. Als ein Joghurtbecher dabei platzte, schob ich ihn zur Seite. Er leistete keinen Widerstand und ließ mich alles zusammenräumen.
“Leo, was ist denn nur los?“
Keine Reaktion.
„Wir könnten dich fahren. Dann…“
Er stellte die Tüten in den Wagen und schon war er verschwunden. Ich blickte ihm nach, wie er durch die Tür in den lauen Sommerabend verschwand. Doch die Frage, welches Geheimnis er in sich trug, verweilte weiter in meinen Gedanken.
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