Wenn es knallt
Zum Jahreswechsel gab es früher für uns Jungs nichts Schöneres, als am Sylvesterabend vor die Tür zu gehen und unsere Knaller zu zünden. Mitten drin in dem ganzen "Geballer" zu stehen mit unseren Schulfreunden oder den Jungs aus der Nachbarschaft - das war einfach toll. In den ersten Jahren, in denen ich aufbleiben durfte und das Spektakel mitmachen durfte, kam mein Vater mit runter auf die Strasse, knallte ein wenig mit, sprach mit den Nachbarn und war dann relativ schnell wieder ober bei meiner Mutter. Meine Mutter war nie mit unten, Sie macht die Fenster zu, wenn es los ging und setzte sich vor den Fernseher. War ganz leise, fast in sich gekehrt.
Ich fand das als Kind immer merkwürdig. Noch merkwürdiger fand ich das Verhalten meiner Mutter bei Gewitter. Sie zuckte zusammen, wenn es blitzte und bei heftigem Donner hielt sie sich die Ohren zu. In unserer damaligen Wohnung hatten wir ein Bad ohne Fenster mit einer kölschen Entlüftung. Wenn es ganz heftig wurde, ging meine Mutter ins Bad und schloss die Tür. Sie bat mich in solchen Fällen manchmal mitzukommen und bei ihr zu bleiben. Wir setzten uns auf den Wannenrand und sie nahm meine Hand. Wenn es donnerte, drückte sie so feste zu, dass es manchmal weh tat.
Irgendwie kam ich mir dann vor wie bei einem Rollentausch. Das meine Mutter das Kind wäre und ich der Erwachsene. Es war eine komische Situation für mich, dieser Moment. Aber irgendie konnte ich sie immer beruhigen. Und ein paar Jahre später, nach einem weiteren "Anfall" bei einem Gewitter, sprachen wir darüber....
Mutter war mit ihren Eltern im 2. Weltkrieg 2 x "ausgebombt" worden, wie sie es nannte. Das bedeutete, dass das Haus in dem sie gewohnt hatten, einen "Volltreffer" erhalten hatte, zerstört wurde und unbewohnbar war. Nach dem zweiten Mal packten sie ihre Sachen und zogen zu Verwandten nach Berlin. Mehrmals hatte meine Mutter angesetzt und wollte über ihre Erlebnisse als Kind im Krieg sprechen. Aber nach kurzer Zeit brach sie immer ab. Es fiel ihr sichtbar schwer. Doch einmal erzählte sie dann...
Die Sirenen heulten wieder. Schnell wurden ein paar Sachen zusammengerafft. Im Eiltempo ging es die Treppe runter in den Luftschutzkeller. Hinsetzen. Zusammenkauern. Hinterste Ecke. In Mutters Armen. Dann fing es an. Die Bomben fielen. Es muss unvorstellbar laut gewesen sein. Alles wackelte. Die Einschläge kamen immer näher. Beten. Schreie. Dann wurde das Haus getroffen. Alles bebte, erzitterte. Meine Oma, die ich leider nie kennenlernte, warf sich auf ihr Kind, meine Mutter, als sie merkte, dass das Haus einstürzte. So rettete sie ihr Leben - und auch meines - und gab dafür ihr eigenes.
Diese Geschichte liess mich verstehen, warum meine Mutter ins Bad ging, wenn es knallte. Ich ging immer mit. Ich hielt ihre Hand. Und irgendwie fühlte es sich in diesen Momenten für mich so an, als wäre sie meine kleine Tochter....
Tolkien