Josh hatte Recht behalten. Noch bevor er das Haus seiner Tante betrat konnte er den Duft nach warmen Waffeln und heißen Kirschen riechen. Er ging einfach hinein, ohne anzuklopfen oder zu klingeln. In seiner Nachtbarschaft war es nicht üblich eine Tür abzusperren oder zu schließen, die Leute kamen und gingen wie es ihnen gefiel und über Dinge wie Einbruch oder Diebstahl machte sich ohnehin niemand Gedanken. In dem kleinen Kaff kannte jeder jeden und wenn man etwas brauchte, egal ob Geld, Kleidung oder nur eine Dose Zucker musste man lediglich gefragt werden..
Dorian, Joshs Cousin, saß bereits draußen auf der Terrasse und hatte seine übliche Haltung eingenommen. Er saß lang ausgestreckt auf einem Stuhl, ignorierte seine kleine Schwester, die unbeirrt auf ihn einredete und spielte mit seinem Handy, während seine Mutter die Schlagsahne brachte. Von seinem Vater, Joshs Patenonkel, war nichts zu sehen, wahrscheinlich saß er irgendwo im Keller und sortierte seinen Müll.
"Josh!" erklang der quiekende Schrei seiner kleinen Cousine. Sofort sprang sie auf und lief auf ihn zu, um ihn zu umarmen. Josh zog scharf die Luft ein, man sah es ihr nicht an, aber Nora war erstaunlich stark für ihre Aussehen, und das gerade mal mit elf Jahren. Unbarmherzig drückte sie ihn so fest sie konnte und wollte nicht mehr loslassen. Sanft versuchte Josh sie von sich wegzuziehen, doch die Klette wollte ihn nicht freigeben.
"Jetzt verschwinde schon du kleiner Gnom, geh mit deinen Puppen spielen oder so!" mischte sich Dorian ein, der sein Handy endlich weggelegt hatte. Sofort ließ Nora von ihm ab und wandte sich ihrem großen Bruder zu, um ihn böse anzufunkeln. Sie wollte gerade etwas erwidern, da mischte sich ihre Mutter entnervt ein.
"Ruhig jetzt. Nora setz dich, Dorian sei still und iss auf."
"Aber er hat …"
"Ist mir egal. Setz dich."
"Aber …"
Ein warnender Blick von ihrer Mutter ließ sie verstummen und sich mit einem patzigen Gesichtsausdruck beleidigt auf einen Stuhl fallen. Josh sah an sich herab, Nora hatte ihm mit ihrem verschmierten Gesicht das halbe T-Shirt mit Kirschsaft besudelt. Er sah seinen Cousin mit hochgezogener Augenbraue an. Dorian wusste wie sehr es Josh gegen den Strich ging, wenn er so gemein zu seiner kleinen Schwester war. Es stimmte, dass sie ziemlich nervte, sich verhielt als wäre sie nur halb so alt und dauernd herumzickte, doch trotzdem, es war nicht okay von ihm auf diese Weise mit ihr umzugehen.
Dorian verdrehte die Augen und wandte sich wieder seinem Handy zu.
"Setz dich." Seine Tante deutete auf einen der Stühle und brachte einen zusätzlichen Teller. Sofort ließ sich Josh neben Dorian auf den Stuhl fallen, wenn Tante Risha etwas sagte, befolgte man besser ihre Anweisungen.
Während dem Essen wurde nicht viel gesprochen. Dorian war in sein Handy vertieft und warf Josh lediglich einen kurzen, bedeutungsvollen Blick zu, zeigte nach oben. Tante Risha hielt ihr Gesicht in die Sonne, nur einmal schlichtete sie mit knappen Worten einen sich anbahnenden Streit zwischen ihren Kindern, als Nora ihren Bruder beschuldigte ihre letzte Kirsche gegessen zu haben.
Nach dem alle Waffeln aufgesessen waren, half Josh seiner Tante die Teller in die Küche bringen, während sein Cousin nicht einmal von seinem Display aufblickte als er ihn anstieß. Am Ende stand Dorian auf und sah seinen Cousin bedeutungsschwer an, "Komm, wir gehen nach oben"
Josh nickte und folgte ihm in das Haus, aber die Stimme seiner Tante ließ ihn innehalten.
"Bevor ich es vergesse! Die Kiste für deine Mutter steht unter der Treppe, denk daran wenn du gehst:" Mit diesen Worten war sie schon wieder nach draußen verschwunden.
"Irgendwas neues?" fragte Dorian und warf sich rücklings auf Bett.
Josh schüttelte den Kopf: "Eher nicht, immer das Gleiche."
Dorian verdrehte die Augen: "Ja klar. Immer das Gleiche. Schlafen, Aufstehen, Essen, ein paar Momente auf magische Art und Weise in Marmeladengläser festhalten. Wie hältst du diesen ewig gleichen Trott nur aus?"
Josh grinste und ließ den Rollladen herunter. Dorians Zimmer war auf der Südseite des ersten Stockes und die Sonne schien erbarmungslos durch das Fenster.
"Und bei dir? Endlich ein Level in CandyCrush aufgestiegen?"
Dorian erwiderte das Grinsen und zeigte ihm den Mittelfinger. "Halt die Klappe, kann halt nicht jeder Superkräfte haben und nur, dass du es weißt; Ich bin bereits drei Level höher."
"Und wie läuft es an der Front?" Josh ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen. Er fragte bereits nur noch aus Höflichkeit. Dorians zahlreiche Frauengeschichten hörte er längst nicht mehr zu.
"Ich schreibe mit der Blonden von Tims Party, außerdem mit der Kleinen von der Bowlingbahn und ... "
Josh schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Moment. Welche Farbe hätte der Nebel wenn er den Augenblick festhalten würde? Gelb, Orange? Das waren die häufigsten Farben für solch normalen Situation. Er empfand nichts bewegendes, höchstens Abscheu vor der Art und Weise wie sein Cousin über Mädchen sprach, aber so war er eben. Er öffnete wieder die Augen, Dorian musste endlich die Wahrheit hören.
"... beende ich jetzt. Hab keine Lust mehr auf stündliche Bilder von ihrem achso süßen Köter."
"Dorian, hör zu." Josh schnippte mit den Fingern, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Dorian blickte kurz von seinem Handy auf, sah seinen Cousin kurz an und legte es tatsächlich aus der Hand. Prüfend musterte er ihn.
"Weshalb der ernste Ausdruck?"
"Wir haben ein Problem."
Dorian verdrehte die Augen und nahm wieder sein Handy in die Hand. Josh war nicht stolz darauf aber sein Cosusin lag mit seiner Reaktion nicht ganz falsch. Er neigte tatsächlich dazu bei Komplikationen zu überreagieren, aber dieses mal nicht.
"Auf einer Josh-Problem-Skala von null bis zehn ..."
"Halt die Klappe und hör zu." Josh verschränkte entnervt die Arme vor der Brust. Dorian seufzte lustlos auf und ließ das Handy wieder sinken.
"Es geht um die Gläser, die speziellen Gläser ..."
Dorian setzte sich auf.
"Wie viele Bestellungen haben wir für die nächsten zwei Wochen?"
Dorian sah ihn misstrauisch an: "Was ist mit den Gläsern?"
"Wie viele Bestellungen?"
"Der Kerl aus dem Park hat glaub ich für den nächsten Monat zehn Stück bestellt und der Unheimliche, du weißt schon, der diesen Tick mit dem Auge hat, hat ebenfalls circa sieben für die nächsten zwei Wochen geordert. Das wären unsere regelmäßigen Kunden, ganz zu schwiegen von denen, die mehrmals spontan kommen. Insgesamt brauchen für die nächste Zeit zwischen 20 und 30 Stück. Was ist nun mit den Gläsern?"
Josh ging die Zahlen durch. Für den nächsten Monat brauchten sie 60 Gläser!? Wie sollte er das schaffen? Im letzten waren es höchstens 30 gewesen. War es möglich dass ... Nein.
Dorian sah ihn noch immer misstrauisch an und Josh zuckte mit den Schultern.
"Ich hab nur noch vier."
Dorian schwieg, schloss die Augen, atmete tief durch und öffnete sie wieder. "Und das sagst du mir erst jetzt?‟ Josh zuckte wieder mit den Schultern.
"Das ist dir nicht schon früher aufgefallen? Du kontrollierst jeden Tag wie ein Besessener deine Schubladen!?"
Wieder nur ein Schulterzucken als Antwort. Dorian schloss abermals die Augen, ballte die Hände zu Fäusten und atmete tief durch. Unwillkürlich rollte Josh mit seinem Stuhl ein wenig von seinem Cousin weg. Er wusste selbst nicht weshalb ihm das nicht schon früher aufgefallen war, vielleicht hatte ein kleiner Teil gehofft, dass Dorian sagen würde, dass es okay wäre, dass sie auch aufhören könnten, doch das schien nicht der Fall zu sein. In Momenten wie diesen bekam er sogar ein wenig Angst vor seinem Cousin
Dorian öffnete wieder die Augen, wirkte nun gelassen und entschlossen. "Nun gut. Ich kann jetzt ohnehin nichts mehr ändern. Dein Glück, dass ich Beziehungen hab. Mein Pillenvorrat ist leer, doch ich kenne da jemanden, der uns leicht welche verkaufen kann. Natürlich guten Stoff, nicht ganz billig, aber ist schließlich eine Investition. Hier der Plan: Du gehst nach Hause und ich besorge das Zeug. Demnächst kommst du wieder her, nimmst die Pillen und stellst eine Wagenladung an Gläsern her, okay?"
Josh sah seinen Cousin sprachlos an. Er wusste bei bestem Willen nicht was er erwidern sollte. Sicher, es war gut, dass Dorian so schnell Nachschub beschaffen konnte, es war gut, dass der Geldfluss nicht stoppte. Aber er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Die Nachfrage war um das Doppelte gestiegen und was sagte es über Dorian aus, dass er nur durch einen Anruf Drogen ordern konnte. Andererseits ...
"Ich hör schon wie es in deinem Kopf rattert. Hör auf, es wird alles gut. Was verkaufen wir?"
Josh seufzte und stand auf. "Keine Drogen, nur Erinnerungen."
"Und sind Erinnerungen schädlich?"
"Nein."
"Schaden wir irgendjemandem?"
"Nein."
"Ist es illegal?"
"Vermutlich nicht."
"Ist es illegal?"
Josh sah seinen Cousin an. "Nein."
"Und um was machst du dir dann Sorgen? Wir könnten genau so gut Limonade verkaufen."
Josh grinste, Dorian hatte Recht, um was sollte er sich Sorgen machen? Bisher war nichts passiert.
Er verabschiedete sich von seinen Verwandten, schnappte sich die Kiste unter der Treppe, sie war natürlich verschlossen, und ging nach Hause.
Am nächsten Tag wurde er unsanft geweckt. Seine Mutter rüttelte ihn, bis er endlich die Augen öffnete und sie mit einem wütenden Grummeln begrüßte. Sie schüttelte ihn erneut, aber er begriff nicht was sie ihm versuchte mitzuteilen. Sein Verstand war benebelt und er warf einen Blick auf seinen Wecker.
08.47
Er sah wieder zu seiner Mutter, doch sie hätte auch chinesisch sprechen können. Sein müdes Hirn erkannte in ihren Wörtern keinen Sinn. Warum weckte sie ihn? Es waren Ferien, was bedeutete es war noch mitten in der Nacht!
"Josh! Josh! Verflucht noch mal, Josh!"
Langsam drangen ihre Wörter zu ihm durch und es war als ob ein Schleier sich von seinen Augen gezogen hätte.
"Was los?" murmelte er unverständlich in seine Decke.
"Ich bin heute nicht da. Ich hab einen Außentermin und das nach Hause fahren lohnt sich nicht ..."
Seine Augen fielen wieder zu.
"Josh!"
"JA?!"
"Ich habe dir Geld auf die Kaffeemaschine gelegt, damit du dir etwas bestellen kannst. Lass bitte dein Handy an, in Ordnung?"
"Okay."
"Hast du mich verstanden?"
"Du bist weg, Geld ist in der Küche." Er drehte sich auf die andere Seite, um weiter zu schlafen.
"Und?"
"Und ich soll mein Handy anlassen."
"Dann ist ja gut. Schlaf jetzt weiter mein Schatz." Sie beugte sich hinunter und gab ihm einen Kuss auf den Hinterkopf. Er grummelte leise zum Abschied, aber war bereits eingeschlafen, bevor sie sein Zimmer verließ.
Ein schrilles Klingeln weckte ihn erneut. Sofort war Josh hellwach und stinksauer. Sein erster Blick wanderte gewohnheitsmäßig zu seinem Wecker und kniff verärgert die Augen zusammen.
09.21
Sein Handy lag laut klingelnd und vibrierend unter seinem Kopfkissen. Sofort ergriff er es und drückte wutschnaubend den grünen Hörer.
"Was ist denn noch?!"
"Ähm … Dir auch einen guten Morgen?"
Josh stöhnte und fiel zurück in sein Kissen. "Dorian. Tut mir leid, ich hab jemand anderes erwartet. Was gibts? Und weshalb bist du zu dieser Zeit schon wach?"
Dorian schnaubte amüsiert, leisen Geschirrklappern war im Hintergrund zu hören. "Offensichtlich. Es ist fast halb Zehn? So früh ist es auch wieder nicht."
Josh grummelte nur als Antwort, rieb sich die verschlafenen Augen und gähnte herzhaft.
"Für dich wohl schon", erwiderte Dorian, "Aber jetzt zum Thema. Ich hab eine g-e-n-i-a-l-e Idee. Das ich nicht schon früher darauf gekommen bin. Ich hab gestern noch mit meinem Bekannten gesprochen und der bekommt die Pillen erst nächste Woche. Allerdings will der Unheimliche Kerl seine ersten Gläser schon am Freitag .."
"Komm bitte zum Punkt."
"Gut, dann geht aber die ganze Spannung verloren. Warum strecken wir die Erinnerungen nicht einfach?"
Josh runzelte die Stirn und vergaß vor Müdigkeit, dass Dorian ihn gar nicht sehen konnte, doch dieser sprach ohnehin bereits weiter.
"Ich meine, dass du eines der Gläser inhalierst und diese Gefühle in die neuen Behälter zauberst. Du musst nichts sagen, ich weiß, dass ich genial bin!"
"Wir sollen Gläser verkaufen, die nur das Echo eines Echos eines Moments sind?"
"Wenn du es unbedingt kompliziert ausdrücken möchtest, ja."
Josh runzelte erneut die Stirn. Theoretisch könnte es klappen, doch praktisch ...?
"Ich höre durch die Leitung wie es in deinem Kopf rattert. Jetzt vertrau mir mal."
Er seufzte. Weshalb gab er sich immer so leicht geschlagen? "Na schön? Wann und Wo?"
"Wann kommt deine Mutter nach Hause?"
Josh überlegte, irgendetwas klingelte in seinem Kopf bei dieser Frage. "Ich glaube gegen sieben Uhr ... Nein warte. Sie kommt erst morgen nach Hause. Sie musste irgendwohin glaub ich."
"Perfekt!" Josh konnte sich Dorians triumphierendes lächeln bildlich vorstellen. "Dann komme ich heute Abend gegen sechs Uhr zu dir?" Seine Antwort klang mehr nach einer Feststellung, als einer Frage.
"Ja okay, wie du willst."
Dorian legte auf ohne sich zu verabschieden und Josh warf das Handy zwischen die Decken. Müde legte er sich wieder auf die Seite und kuschelte sich in sein Kissen. Der heutige Abend würde interessant werden.