"Vergiss nicht die Rollläden zu schließen wenn du zu Bett gehst!"
"Mach ich."
"Und die Türen zu verschließen."
"Ja."
"Und halt Ordnung während ich weg bin."
"Okay."
"Und wenn du etwas bestellst, zähl das Wechselgeld."
"Keine Sorge." Joshs Stimme wurde mit jeder Antwort genervter und er verdrehte die Augen
"Und wenn du...."
"Du bist nur eine Nacht weg, Mama. Mach dir keine Gedanken, ich bin alt genug. Ich werde die Türen und Fenster verrammeln, mich in unseren Schutzbunker zurückziehen und höchstens ein kleines Feuer in der Küche entfachen bevor ich zu Bett gehe!" Er konnte den Sarkasmus nicht länger zurückhalten und erntete dafür ein beleidigtes Schweigen.
Nach ein paar Sekunden säuerlicher Stille antwortete seine Mutter: "Dann bis Morgen, pass auf dich auf", und legte, ohne seine Erwiderung abzuwarten auf.
Josh musste unwillkürlich grinsen, seine Mutter war so leicht beleidigt, dass es schon fast witzig war, auch wenn er einen kleinen Anflug von Schuld nicht verhindern konnte. Morgen wenn sie nach Hause kam, würde er sich bei ihr entschuldigen müssen.
Er warf einen schnellen Blick durch sein Fenster auf die Straße und warf sein Handy zurück auf das Bett, bevor er nach unter zur Haustür schlenderte.
Noch bevor Dorian klingeln konnte öffnete er ihm die Tür. Sein Cousin grinste ihn an und trat ein.
"Bereit für einen langen Abend?" fragte er mit einem vorfreudigem Grinsen.
"Bin ich doch immer", erwiderte Josh und schloss die Tür hinter seinem Cousin, während der schon auf dem Weg in sein Zimmer war.
Dorian lachte schelmisch auf, "Nein bist du nicht, aber lügen konntest du ohnehin noch nie. Hör einfach auf die ganze Zeit zu denken und freue dich. Jeder normale Mensch würde das tun."
Josh schluckte schwer bei den Worten seines Cousins. Sicher, es war als Scherz gemeint, doch es steckte auch ein Fünkchen Wahrheit darin.
"Ich weiß, doch ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das ganze eine gute Idee ist." Er zuckte nur leicht mit den Schultern und deutete auf die vier bunt schillernden Gläser, die bereits auf seinem Schreibtisch standen.
Dorian stöhnte laut auf und warf sich lässig auf einen Stuhl.
"Und es geht los! Ladys and Gentleman, tretet ein in Joshs Karussell des Misstrauens und Paranoia! Müssen wir die Diskussion schon wieder führen? Lass uns doch einfach den Abend genießen, unsere Handys wegsperren und Spaß haben." Dorian nahm eines der Gläser und hielt sie Josh hin, "Das sind deine Erinnerungen, da kann nichts schlimmes passieren."
Josh nahm das Glas entgegen und ließ auf das Bett gegenüber seinem Cousin nieder.
"Hast du noch genug Flaschen?"fragte er, statt auf Dorians Worte einzugehen und dachte an die kleinen, grauen Behälter die sich in Dorian Keller stapelten.
Bei ihren ersten Versuchen die angesammelten Emotionen zu verkaufen, hatten sie sie noch in den Marmeladengläsern angeboten und es war keine Überraschung gewesen, dass niemand für ein scheinbar leeres Glas Geld ausgeben wollte. Schließlich sah niemand außer Josh, das farbige Glühen und Wabern in ihnen. Erst als Dorian im Internet auf einen Anbieter gestoßen war, der kleine, selbst befüllbare Gasflaschen verkaufte, konnten sie ihre ersten Erfolge verbuchen, auch wenn ihnen zunächst nur Misstrauen entgegen gebracht wurde. Doch mit der Zeit wich diese Argwohn der Neugier und noch bis heute glaubten ihre Kunden, dass sich in den Flaschen irgendein Gas befand.
Dorian lachte auf, "Dezent das Thema gewechselt! Aber Ja, ich hab noch genug, der halbe Keller ist voll."
"Und deine Eltern sagen dazu nichts?" fragte Josh verwundert und dachte dabei an seine eigene Mutter die ihn schon wegen seiner Marmeladengläser komisch ansah, was würde sie erst denken wenn er Gasflaschen bunkerte?
"Ich glaube meine Mutter ist froh, dass es nur Flachen sind, und nicht leere Joghurtbecher, Pappkartons oder Schachteln wie bei meinem Vater. Mein Sammelwahn, wie sie ihn nennt, hat wenigstens irgendeinen erkennbaren Nutzen, auch wenn sie ihn nicht versteht."
Dorian zog mit einem Fuß seinen Rucksack näher und nahm einen grauen Behälter, so groß wie eine 0,5l Flasche hervor. "Um meine Frage von vorhin zu wiederholen, bist du bereit?" Dorian deutete auf das Glas in seinen Händen und sah in herausfordernd, mit hochgezogenen Augenbrauen an. Josh musste lächeln und gab sich den Argumenten seines Cousins geschlagen, was sollte schon passieren?
Ein paar Stunden später lag Josh ausgestreckt auf seinem Bett und umklammerte mit beiden Händen eines der dutzend Gläser die mittlerweile auf dem Boden verstreut lagen. In den meisten Leuchtete es schon und an der Wand standen drei weitere Kisten mit leeren Behältern, die darauf warteten gefüllt zu werden.
Als Josh das erste bunt schimmernde Glas öffnete, nagten Bedenken an ihm, doch die waren schnell verschwunden. Das wabernde Licht stieg augenblicklich aus dem Glas empor, wie Rauch einer erloschenen Kerze, und er hatte es begierig eingeatmet. Sofort wechselte seine Stimmung von besorgt und unsicher zu entspannt und sorglos. Die neuen Gefühle waren wie eine Welle über ihn gekommen und er fühlte sich an den Abend vor ein paar Monaten zurückversetzt, während seine Sinne widersprüchliche Signale sendeten. Zwar spürte er noch den weichen Teppichboden unter seinen Füßen, aber gleichzeitig war es, als ob er mit nackten Füßen über den noch taufeuchten Rasen rannte. Es roch gleichzeitig nach der abgestanden Sommerluft in seinem Zimmer und dem Rauch der Feuerwerke, die damals über den Häusern explodiert waren. Lediglich seine Augen wurden nicht von dem schillernden Rauch beeinflusst, trotzdem fühlte er die Mischung aus Bewunderung , Faszination und Angst die er beim Betrachten der bunten Lichter verspürt hatte.
Er hatte diese Emotionen in der Silvesternacht festgehalten, während er und Dorian im Rausch über die Nachbarschaft und die angrenzenden Felder gejagt waren.
Die Eindrücke waren so real, dass Josh beinah glaubte das Gras unter seinen Füßen zu spüren. Er ließ sich erneut in die Emotionen sinken und sammelte sie in dem Glas zwischen seinen Händen.
Jemand entzog ihm das kühle Glas und drückte ein Neues in seine Finger. Josh bemerkte den Wechsel kaum, als würde er sich selbst aus weiter Ferne betrachten. Sich selbst und Dorian, der mit einem seligem Lächeln im Gesicht ein Marmeladenglas nach dem anderen auf den Teppich fallen ließ. Dorian hatte kein einziges der bunt schillernden Gläser eingeatmet, trotzdem konnte auch er den Frieden, die Freude und die Unbekümmertheit spüren, die Josh wie in Wellen ausstrahlte und damit die Gefühle seines Cousins durcheinanderbrachte.
Nur mit Mühe konnte sich Dorian genug konzentrieren, um immer wieder die Gläser in Joshs Händen auszutauschen. Dieser starrte derweil an die Zimmerdecke, vollkommen vertieft in seine Emotionen und Erinnerungen.
Als die falschen Empfindungen nachließen, starrte Josh noch immer an die Decke und versuchte verzweifelt sich an den letzten Resten der unbekümmerten Freude festzuhalten, während seine Anspannung mit jeder Sekunde zunahm. Als die Gefühle vollständig verblassten, setzte er sich auf und starrte mit leerem Blick in den Raum. Dorian verstaute derweil die, in seinen Augen leeren, Marmeladengläser ordentlich in den Umzugskartons. Wortlos starrten sich die Cousins an. Die Stille wurde schließlich so erdrückend, dass sich Dorian laut räusperte und neben Josh nieder ließ.
"Na?", war alles war er sagte und klopfte ihm auf die Schulter, "Wie geht's?"
Josh zuckte mit den Schultern und starrte weiterhin blicklos in den Raum. Er konnte sich momentan nicht auf Dorian konzentrieren, oder auf die Gläser, die den Boden in ein Lichtermeer verwandelt hatten oder auf die Frage, wie lang er berauscht gewesen war. Zu voll war sein Kopf mit Gedanken, die noch bevor sie eine feste Form annahmen auseinanderdrifteten, um sich in diesem endlosen Spiel wieder neu zu formen und aufzulösen.
Entkräftet ließ er sich nach hinten fallen, schloss die Augen und versuchte diesen Teufelskreis zu durchbrechen.
Als er sie wieder öffnete umgab ihn fast völlige Dunkelheit. Verwirrt setzte sich Josh auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne schien schon längst untergegangen zu sein und lediglich die Straßenlampen beleuchteten die Häuserreihen.
"Hey Dornröschen!" kam es belustigt aus der Ecke. Josh fuhr sich mit der Hand über Gesicht und Haar und rieb sich die Erschöpfung aus den Augen.
Dorian saß an seinem Schreibtisch und hatte den Laptop auf dem Schoß. Das LED Licht des Bildschirms war die einzige Lichtquelle im Raum und beleuchtete Dorians schiefes Lächeln.
Mit einem müdem Gähnen beugte sich Josh vor und schaltete seine Nachttischlampe ein. Die plötzliche Helligkeit brannte in seinen Augen und auch Dorian verzog das Gesicht.
"Wie viel Uhr ist es?" fragte Josh und unterdrücke ein weiteres Gähnen.
"Kurz nach Drei", antwortete Dorian und grinste bei Joshs geschocktem Gesichtsausdruck, "Du warst ganz schön lange weggetreten."
Wieder rieb sich Josh die müden Augen und stand unbeholfen von seinem Bett auf. Seine Wirbel kackten bei der Bewegung und er streckte sich bis seine Muskeln aus der Starre erwachten. "Wie viele haben wir jetzt?"
"Gläser? Ich glaube ungefähr vierzig, bin mir aber nicht ganz sicher, weil ... du weißt schon."
Dorian deutete auf seine Augen und Josh nickte verständnisvoll bevor er sich den Kartons zuwandte. Wie sollte es Dorian auch wissen?
Er öffneten den obersten Karton und betrachtete die Gläser, jedes schien bunt zu schimmern, wenn auch nicht so kräftig wie die Originale, die noch immer auf seinem Schreibtisch standen. Die Rauchmasse schien sich auch träger zu bewegen als die der anderen Gläser.
"Wie sieht es aus?" fragte Dorian und Josh hätte schwören können, dass er ein wenig Neid in der Stimme seines Cousins hörte.
"Ganz gut, ein wenig blass, aber es scheint geklappt zu haben."
"Was meinst du mit blass?"
"Die Erinnerungen scheinen schwächer zu sein als die Originale, aber ich schätze das wird nicht allzu schlimm sein."
Dorian nickte geschäftsmäßig bevor sich ein verstohlenes Grinsen auf seine Gesicht schlich.
"Um es herauszufinden könnten wir eines ausprobieren, oder?" Er wollte schon aufstehen und sich eines der Gläser aus dem Karton greifen, doch Josh stellte sich ihm in den Weg und schüttelte energisch den Kopf.
Entnervt ließ sich Dorian wieder auf den Stuhl fallen und beäugte seinen Cousin skeptisch.
Josh hatte keine besonders große Lust mit ihm darüber zu streiten, aber er wusste, dass er an diesem Abend keinen weiteren Trip aushalten würde. Mit einem Schaudern dachte er an die Verzweiflung, die ihn beim Nachlassen der Erinnerungen überkommen hatte und genauso viel Sorgen bereitete ihm die Sehnsucht, die ihn allein bei dem Gedanken an ein weiteres Echo überkam, an eine weiteres Chance seinen ewigen Zweifeln zu entkommen.
Dorian zuckte nur mit den Achseln und wandte sich wieder dem Laptop zu während Josh den Umzugskarton mit einer Mischung aus Furcht und Verlangen betrachtete.
Er hatte noch nie zuvor eine der Drogenechos aufleben lassen, die realen Erlebnisse waren einprägsam genug. Doch die Erinnerung an die zahlreichen Emotionen ohne die Last der Gedanken die er damals verspürt hatte machte das Erlebnis umso intensiver und reiner.
Ein kaltes Schaudern lief ihm über den Rücken als er sich widerwillig fragte was wohl seine Kunden dabei empfanden.
Wenn er schon nach einmaligem Gebrauch eine solche Sehnsucht nach einem weiteres Glas empfand, wie verzweifelt mussten die Menschen sein, die bei Dorian gleich ein Dutzend auf einmal bestellten ohne zu wissen, was sie eigentlich durch die Gasflasche konsumierten? Konnte er sich unter solchen Umständen tatsächlich wundern, dass die Nachfrage seit dem letzten Monat doppelt so hoch war?
Zum ersten Mal kamen ihm Zweifel an Dorians Logik, über die Schädlichkeit von Erinnerungen. Josh betrachtet seinen Cousin und dachte an dessen Worte: Wir könnten genau so gut Limonade verkaufen!
Er schüttelte nachdenklich den Kopf, Limonade lässt kein verzweifeltes, sehnsüchtiges Verlangen zurück …