Die nächsten Tage verliefen ruhig, Dorian versprach Josh nach langem Drängen nichts zu unternehmen, ohne ihm vorher Bescheid zu geben, auch wenn er ihn weiterhin nicht dabei haben wollte. Der Nachrichtenverkehr stellte sich ebenfalls ein und allmählich begannen sie sich zu beruhigen. Dorian grinste seinen Cousin triumphierend an, „Leere Drohungen, wie ich es prophezeit habe!‟, und ließ von seinen Racheplänen ab. Josh gab ihm kleinlaut Recht, konnte aber nicht aufhören, über die ganze Geschichte nachzudenken.
Er fragte sich, woher der dürre Kerl Dorians Adresse hatte, wer er war und weitaus interessanter, sein Partner, dessen Aura keinerlei Bewegung zeigte. Noch nie hatte er solch starre Farben gesehen, die vor Selbstsicherheit und Kontrolle strotzten. Wie konnte man lernen, die eigenen Emotionen derart zu unterjochen? Josh würde alles tun, um dieses Geheimnis zu lüften, womöglich war es der Schlüssel zur Kontrolle seiner eigenen, dunklen Triebe.
Nur mit Mühe, konnte er sich zu Hause davon abhalten die Aura seiner Mutter zu beeinflussen, jedes Mal wenn sie ihn an sich drückte oder ihre Hand seine streifte musste er sich zusammenreißen, um nicht in den verführerischen Farbfluss einzugreifen. Die ruhigen Bewegungen lockten ihn, ließen seine Hände zucken und die Haut kribbeln. Dem Drang zu widerstehen, verlangte seine volle Aufmerksamkeit und Willensstärke. Dazu kam, dass er sich sicher war, ihr würde es mit seiner Hilfe besser gehen. Immerzu färbte sich ihre Aura in trauriges blau, zwar wendete sie ihr Gesicht ab, aber ihre Gefühle konnte sie nicht vor ihm verbergen.
Mit seiner neuen Fähigkeit konnte er auch erkennen, wie sie sich während den heimlichen Telefonaten fühlte, die sie mit gesenkter Stimme führte. Ihre Aura leuchtete strahlend hell in gold und rosé, in rot und blau. So schnell wechselten ihre Gefühle, dass Josh Mühe hatte ihnen zu folgen. Wer immer am anderen Ende der Leitung war, musste seiner Mutter viel bedeuten, oder zu tiefst verhasst sein.
„Josh!‟, meckerte sie ihn an, als ihn beim vermeintlichen Lauschen erwischte und schickte ihn augenblicklich in sein Zimmer. Ihre Umgebung wechselte bei seiner Anwesenheit in tiefes Blau.
Murrend folgte er ihrer Anweisung und trottete lustlos in sein Zimmer, er hatte ohnehin mehr gesehen als er verstand. Gelangweilt warf er sich auf das Bett, sein Blick huschte zwischen Laptop und Bücherregal hin und her, bis er sich aufraffte und nach seinem Handy griff.
Gibt es etwas Neues? tippte er mit fliegenden Fingern und starrte monoton auf den Chatverlauf zwischen Dorian und ihm. Träge setzte er sich auf und runzelte die Stirn, als sein Cousin nach fünf Minuten nicht antwortete. Für jeden anderen wäre dies nicht ungewöhnlich, aber Dorains Handy war praktisch mit seiner Hand verschmolzen und man konnte sobald man eine Nachricht sendete, wetten, dass er ohne Zögern antwortete. Jedenfalls bei Josh, gegenüber anderen konnte Dorian wochenlang schweigen, vor allem wenn man eine seiner älteren Eroberungen war.
Ich schätze du schläft? Schrieb Josh irritiert und schüttelte missbilligend den Kopf. Sobald du wach bist, ruf mich an oder schreib mir. Er warf sein Handy zur Seite und griff nach dem Buch, welches seit Wochen auf seinem Nachttisch verstaubte. Lustlos blätterte er die vergilbten Seiten von Der Untertan auf und stöhnte bei den ersten Worten.
Diederich Heßling war ein weiches Kind … Allein der Anfang hatte auf ihn eine einschläfernde Wirkung. Weshalb quälten die Lehrer ihre Schüler mit solch langweiliger Lektüre und gaben sie ihnen als Hausaufgabe über die Ferien auf?
Seine Mutter platze ohne anzuklopfen in sein Zimmer und ersparte ihm den Rest des langen Schachtelsatzes. Ihre Aura pulsierte in hellem orange und blau, und sie setzte sich mit ernstem Gesichtsausdruck an das Fußende seines Bettes. „Wir müssen reden‟, verkündete sie tonlos und Josh verdrehte genervt die Augen, als er ihren Du-hast-Mist-gebaut-Tonfall erkannte.
„Was habe ich nun schon wieder angestellt? Wenn es um vorhin geht, lass mich sagen, dass es mir schrecklich Leid tut. Beenden wir das Thema? Du stimmst zu? Super, dann auf wiedersehen!‟, brummte Josh und nickte auffordernd in Richtung Tür. Seine Mutter verzog abschätzig den Mund und schüttelte ungläubig den Kopf.
„Deswegen komme ich nicht, auch wenn wir uns über die Bedeutung des Wortes Privatsphäre ernsthaft unterhalten müssen. Du kannst nicht einfach meine Telefonate belauschen, das ist nicht nur unhöflich, sondern auch respektlos. Ich lese auch nicht deine SMS.‟
„Aber schneist unangekündigt in mein Zimmer‟, murmelte Josh missmutig und konzentrierte sich auf den schmalen Riss seines Displays, Farbschleier strichen sanft über seine Wangen, lockten ihn, die Hand auszustrecken und die seiner Mutter zu ergreifen.
„Ich komme wegen deinem Verhalten in den letzten Tagen‟, erklärte sie ungehindert weiter und stand stürmisch auf. Sie strich sich unsicher durch die langen Haare und sah nachdenklich aus seinem Fenster. „Du kannst mit mir über alles sprechen, auch wenn du glaubst es ist peinlich oder, dass ich wütend werde.‟ Josh starrte sie mit offenem Mund an, während sie bemüht weitersprach, „Du benimmst dich in letzter Zeit eigenartig und ich frage mich ob … Josh!? Ich rede mit dir!‟
Josh war aufgesprungen und hielt entschuldigend sein Handy in die Höhe, „Tut mir Leid, ich muss los. Ein Notfall bei Dorian, wir sprechen später weiter.‟ Fluchtartig verließ es sein Zimmer und stolperte beinahe die Stufen zur Haustür hinab. Die Aura seiner Mutter hatte sich während ihrer Worte immer enger und dichter zusammen gezogen und ihn mit ihren kreisenden Bewegungen gefesselt. Wäre er nicht zur Tür hinaus, hätte er es keine Minute länger in ihrer Gesellschaft ausgehalten.
Sie schrie ihm zornig nach, dass er gefälligst zurück kommen solle und Dorian warten könne, aber er schlug mit einem Knall die Tür hinter sich ins Schloss und rannte fast über die Straße zum Haus seiner Tante. Die heiße Luft, die ihm entgegen schlug half nicht, seine Gedanken zu ordnen, im Gegenteil. Ihm war, als bekäme er nicht genügend Sauerstoff und könne jede Zelle seines juckenden Körpers spüren