Der Bus hielt holpernd und quietschend an der einzigen Haltestelle der Stadt, wenn man den Ort überhaupt so nennen konnte. Es gab eine Schule, ein Kino, ein Einkaufzentrum, ein McDonald und eine Tankstelle, ansonsten leer stehende Gebäude und Plattenbauwohnungen. Es war sicher nicht der schönste Platz der Welt, aber der einzige in einer Stunde Umkreis mit einem mehr oder weniger nennenswerte Nachtleben.
Josh sprang gerade rechtzeitig aus dem Bus, bevor sich die Türen scheppernd schlossen und er mit laut knallendem Auspuff weiter fuhr. Er warf einen schnellen Blick auf sein Handy und überprüfte, ob er sich die Adresse auch richtig eingeprägt hatte. Geübt öffnete er sein Navigationsprogramm und eine metallische Stimme wies ihn mürrisch an der Straße zu folgen.
Josh durchstreifte argwöhnisch die Gassen und überprüfte zum tausendsten Mal ob ihn sein Navi auch tatsächlich zu der richtigen Adresse führte. Es schien alles zu stimmen, aber das Ziel wurde ihm auf der Karte Mitten in der Stadt angezeigt und er selbst schlich durch abgelegen und verlassene Straßen. Die Häuserwände zeigten schwarzen Spuren des vergangenen Regens, die Abflüsse waren verstopft von Plastikmüll und in der Luft hing der allgegenwärtige Geruch nach Rauch und vermodertem Morast. Josh rümpfte angewidert die Nase und starrte mit stumpfen Blick auf das leuchtende Display zwischen seinen Fingern. Er bog ohne aufzublicken in eine weitere, dämmrige Seitenstraße und folgte ihr bis zu ihrem Ende.
Sie haben ihr Ziel erreicht, verkündete die metallene Stimme und schaltete ungefragt das Programm ab. Josh hob verwundert den Blick und sah sich verständnislos um. Er befand sich im Innenhof einer engen Sackgasse, aus dem lediglich zwei schmale Gassen abzweigte. Die Häuser hatten blecherne Fassaden, große Mülltonnen stapelten sich und ein neuer Geruch schlug ihm entgegen.
Es roch nach Popcorn, Taccos und verrottenden Lebensmittel. Heiße Luft blies ihm aus einem Ventilator entgegen und ein monotones Summen schalte von den engen Wänden wieder. Josh stöhnte auf und steckte sein Handy verärgert in die Tasche. Er wusste endlich wo er war und auch, wie er von der Haltestelle in einem Bruchteil des Zeit her gekommen wäre. Navigationsgeräte kannten allerdings keine Abkürzungen durch Geschäfte und Türen, die immer offen standen. Seine neue Erkenntnis half ihm aber nicht dabei seinen Cousin zu finden. Er schaute sich abermals im Hinterhof um, und erkannte nun auch die vergilbten Schilder und Logos die an den Wänden prangten. Früher war Dorian mit ihm ein oder zweimal hier hergekommen, um ihn aus seiner selbstgewählten Zurückgezogenheit zu locken und ihm ein paar Leute vorzustellen. Damals war es cool gewesen sich im geheimen zwischen dem Einkaufzentrum und dem Kino zu treffen, sich an den Angestellten vorbei zu schleichen, um durch die Hintertür her zu gelangen.
Heute dagegen schüttelte Josh darüber den Kopf. Zum Einen, war es den Angestellten völlig egal wenn sich ein paar Kinder trafen und zum anderen hätte hier hinten alles passieren können, ohne das irgendjemand davon erfuhr. Ein Sklavenhändler hätte sie entführen und verkaufen können, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Josh grinste bei dem Gedanken unwillkürlich, was hätte Dorian dazu gesagt! Vermutlich, dass er spinne und mal wieder allzu tief in seinen katastrophistischen Vorstellungen versinke. Er hatte sogar mal etwas in der Richtung angedeutet und sein Cousin hatte nur den Kopf geschüttelt und ihn dennoch mitgeschleift.
Josh schlenderte zu der Hintertür des Kinos und zog sie auf. Warme und abgestandenen Luft schlug ihm entgegen und er sprang die Treppen zum ersten Stock des Gebäudes hoch. Der Verkäufer sah verwundert auf und zog die Brauen zusammen als sich Dorian gegen den Tresen lehnte und zum Fernseher hinüber spähte, auf dem die Trailer und das Kinoprogramm in Dauerschleife liefen.
„Entschuldigen Sie, ist innerhalb der letzten Stunde jemand in meinem Alter vorbei gekommen? Braune Haare, ein wenig kleiner als ich … ?‟ fragte Josh und hoffte inständig ein Ja zu hören. Der Angestellte legte seine Zeitschrift zur Seite und zog spöttisch eine Braue nach oben.
„Ob jemand illegaler Weise durch die Hintertür eingebrochen ist?‟ entgegnetet er schnippisch und verschränkte die Arme. Josh biss sich auf die Zunge, als er zu einer ebenso schnippischen Antwort ansetzte und atmete stattdessen tief durch.
„Es ist wichtig‟, antwortete er knapp und verschränkte nun seinerseits die Arme vor der Brust. Der Mitarbeiter seufzte und verdrehte die Augen.
„Nein, niemand. Heute beginnt das Programm ohnehin erst in ein paar Stunden. Wenn jemand vorbei gekommen wäre, hätte ich es bemerkt.‟ Er nahm seine Zeitschrift wieder zur Hand und Josh nickte ihm dankbar zu, bevor er sich wieder zur Treppe wandte. „Machen Sie die Tür hinter sich zu‟, wurde ihm nachgerufen, bevor er unten ankam und die Tür ins Schloss zog.
Unschlüssig blieb er dort stehen und überlegte wo sein Cousin noch sein könnte. In seinen SMS hieß es lediglich, er würden sich am üblichen Platz treffen, aber das war bereits vor einer Stunde gewesen. Es bestand kein Zweifel, dass Josh am richtigen Ort war. Der Hinterhof schrie förmlich geheimer Drogentreff und trug Dorians Handschrift, der schon immer ein Fabel für Klischees hatte. Allerdings war es genauso offensichtlich, dass sein Cousin nicht mehr hier war, ein paar Flaschen Echo zu verkaufen konnte nicht so lange dauern. Er hatte gehofft, dass Dorian sein neu verdientes Geld für eine Kinokarte verprasste, aber es war auch möglich, dass er sich einen gemütlichen Shopping-Tag gönnte. Josh kannte keinen Menschen, egal ob Mann oder Frau, dem es gelang so viel Geld, in so wenig Zeit für so viele, unnötige Dinge auszugeben.
Er seufzte und schlenderte zur Hintertür des Einkaufszentrums. Vergeblich zog er am fettigen Griff und wischte sich danach angewidert die Hand an de Hose sauber. Schmerzlich vermisste er diesem Moment sein Desinfektionszeug und sah zu den beiden engen Gassen, die zur Hauptstraßen führen mussten. Auch sie waren in GoogleMaps nicht verzeichnet, weil sie, genau genommen, nicht existierten.
Unschlüssig sah er zurück zu der Tür und runzelte nachdenklich die Stirn. Die Stadt war nicht groß aber es würde dennoch dauern, bis er seinen Cousin fand, noch dazu in den Ferien, in denen die Geschäfte überfüllt waren und hektisches Treiben herrschte.
Unwillkürlich tastete Josh nach Dorians Handy in seiner Tasche und ein Schauer lief ihm kalt über den Rücken, als ihm ein neuer Gedanke kam, den er bis zu diesem Zeitpunkt erfolgreich unterdrückt hatte. Er hatte sich schon vor seinem Aufbruch Sorgen gemacht und vermutet, dass irgendetwas vorgefallen sein musste, schließlich vergaß Dorian sein Handy nicht so einfach. Es war für ihn wie eine Verlängerung seines Armes oder, um genauer zu sein, seines Verstandes. Allein bei Hinausgehen musste ihm aufgefallen sein, dass etwas Grundlegendes fehlte.
Im Bus hatte Josh sich gesagt, dass wie so oft seine Fantasie und Paranoia mit ihm durchgingen und sein Cousin, wenn er wollte, einer der nachlässigsten Menschen dieses Erdballs sein konnte. Sicher hätte er es auf dem Weg zur Haltestelle bemerkt und wäre nur zu faul oder zu sehr in Eile gewesen, um zurück zulaufen, aber nun, da Josh hier stand, in einem verlassenen Hinterhof, kamen die Sorgen zurück und mit ihnen die Fragen.
Wo war sein Cousin? Warum hatte er sein Versprechen gebrochen? Aus welchem Grund hatte er sein Telefon vergessen? Und weshalb hatte Josh ein solch unbeschreiblich mulmiges Gefühl?
Entschlossen schüttelte er den Kopf, um das Chaos in seinem darin zu ordnen. Verwirrung und Sorge würde keine Antworten geben und wenn Josh seinen Cousin nicht auf die altmodische Art fand, blieb ihm noch immer seine eigenen Methode.