Josh strich verwundert über den Karton, es war der gleiche, den Risha ihm vor einigen Wochen mitgegeben hatte. Es schien, als sei dies eine Ewigkeit her. Seine Mutter legte ihm behutsam die Hand auf den Rücken und sah ihn besorgt von der Seite an. Ihre Aura flackerte violett und tastete sich behutsam durch den Raum. Er konnte ihr stetiges Pulsieren beinahe auf der Haut spüren, die bei der plötzlichen Nähe wieder zu Kribbeln begann. Josh sah von dem verstaubten Pappdeckel in das kummervolle Gesicht seiner Mutter, die ihn aufmunternd anlächelte. Tausend Fragen schwirrten durch seinen Kopf und er vermutete, dass die Antworten direkt vor ihm lagen. Aber wollte er sie auch kennen?
„Nur zu“, ermutigte ihn seine Mutter und legte ihren Schlüsselbund neben das Paket, „Wir müssen ohnehin darüber sprechen, ob wir wollen oder nicht.“ Sie seufzte schwer und ihr Blick wanderte in die Ferne.
„Worüber genau?“, fragte Josh behutsam. Die gleiche Frage hatte er schon zig Mal im Auto gestellt, aber nie eine Antwort erhalten. Bis jetzt hatte er befürchtet seine Mutter hätte seine Marmeladengläser gefunden, oder die Geldbündel, die er ebenfalls in seinem Zimmer verbarg. Jetzt wünschte er sich fast es wäre so, denn diese Mischung aus Sorge und Melancholie, die seine Mutter ausstrahlte, war beunruhigender als er zugeben wollte.
Seine Mutter schüttelte wortlos den Kopf und griff nach einem ihrer Schlüssel. Entschlossen schlitzte sie mit der spitzen Kante das vertrocknete Paketband auf und trat einen Schritt bei Seite, wo sie sich erschöpft an die Tischkante lehnte. Der Tag war auch für sie aufreibend gewesen. Sie lächelte ihn abermals aufmunternd an und Josh klappte zögerlich die Pappe auseinander.
Er runzelte verwundert die Stirn und griff in den Karton. Langsam zog er ein gerahmtes Bild hervor und betrachtete es verständnislos. Er hatte nicht gewusst was er erwartet hatte, aber mit Sicherheit nicht das.
Auf dem Foto strahlet ihm eine wesentlich jüngere Version seiner Mutter entgegen, sie war damals höchsten ein paar Jahre älter als er selbst, vielleicht 19 oder 20. Sie hielt freudestrahlend die Hand eines Mannes, der ebenfalls breit grinsend in die Kamera sah und triumphierend einen Pokal in die Höhe hielt. Die Gravur war nicht zu erkennen, aber der Triumph und Stolz leuchtete in seinen Augen. Im Hintergrund waren weitere, verschwommene Schemen zu erkennen, aber Josh konnte den Blick nicht von dem strahlenden Gesicht des Mannes abwenden.
„Ist das …?“ fragte er zögerlich und sah kurz von dem Foto auf. Seine Mutter nickte und ein wehmütiges Lächeln erschien auf ihren Zügen.
„Das war in unserem letzten Jahr.“
Josh legte das Foto beiseite, nicht ohne einen letzten Blick in das Gesicht zu werfen. Er langte erneut in die Kiste und brachte dieses Mal einen Stapel Akten ans Licht. Stirnrunzelnd überflog er die Seiten, aber konnte keines der schräg geschriebenen Worte entziffern. Eine Menge Fachbegriffe reihten sich aneinander, Pfeile waren quer über die Seiten gezeichnet und eigenartige Bilder prangten am Rand. Abbildungen von Skeletten und Gehirnen, wie er sie bisher nur aus dem Fernsehen kannte. Er betrachtete sie einen Moment, versuchte zu verstehen, warum solche Aufnahmen neben Jugendfotos seiner Mutter lagen und legte sie schließlich verwirrt bei Seite.
Als nächstes nahm er ein Notizbuch in die Hand. Die Schrift war die Gleiche wie in den Akten und ebenso schwer zu lesen. In der ersten Zeile jeder Seite stand ein Datum und eine Überschrift. Langsam blätterte er das Büchlein von hinten nach vorne durch, bis ein Foto zwischen dem vergilbten Papier erschien. Wieder zeigte das Bild seine Mutter, dieses Mal ein paar Jahre älter und auf dem Arm hielt sie mit seligem Lächeln ein kleines Baby. Der Junge grinste sie mit zwei Zähnen glücklich an und versuchte eine ihrer langen Haarsträhnen zu greifen.
„Das habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen“, murmelte seine Mutter und nahm ihm das Bild aus der Hand. Sie strich liebevoll darüber und legte es auf den Bilderrahmen. Josh blätterte weiter, bis er zur ersten Seite gelangte.
Valentin Kellitz, stand dort in geschwungenen Lettern. Mit tief gerunzelter Stirn ließ er das Tagebuch sinken und sah seine Mutter auffordernd an.
„Was ist das hier?“, fragte er mit tonloser Stimme.
„Ich dachte, dies sei der einfachste Weg dir alles zu erklären“, begann seine Mutter, aber Josh schüttelte aufgebracht den Kopf. Seine Verwirrung wich kaltem Zorn und er sah abschätzig in die Kiste. All diese Erinnerungen an einen Mann, der sie ihm Stich gelassen hatte.
„Warum hebst du das Zeug meines Vaters auf?“, zischte er plötzlich aufgebracht und warf das Tagebuch achtlos neben die Fotos. Seine Mutter sah ihn traurig an und wollte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter legen, aber Josh zuckte zurück.
„Er hat uns verlassen, er hat dich verlassen und mit einem kleinen Kind allein gelassen! Wie kannst du noch an ihm hängen?“, fragte er fassungslos. Als er klein gewesen war, hatte er oft nach seinem Vater gefragt. Er hatte nicht verstanden, weshalb er im Gegensatz zu all seinen Freunden keinen besaß und erst später begriffen, dass er sie verlassen hatte. Seine Familie im Stich im Stich gelassen hatte, um sein eigenes Leben weitab der Verantwortung zu genießen. Kein einziges Mal hatte er sich bei seinem Sohn oder seiner Frau gemeldet, nicht mal eine Karte zu Weihnachten oder seinem Geburtstag hatte er je erhalten und dennoch hob seine Mutter den ganzen Plunder auf? Sie hätte den Mist wegwerfen, nein, verbrennen sollen!