Ich schließe die Augen, rolle mich zusammen und warte auf den Aufprall. Viel zu schnell rase ich dem Boden zu. Der Wind erzählt mir vom Verstreichen meiner letzten Sekunden. Kleine Regentropfen fallen mit mir, scheinbar unbewegt.
Dann schlage ich auf. Die Luft wird aus meinen Lungen gepresst. Ich habe das Gefühl, dass der Boden unter mir nachgibt.
Dann höre ich Stimmen. Lärm. Etwas greift in mein Schulterfell und zieht. Ich schlage die Augen auf, als die Schmerzen aus meiner Schulter mich erreichen. Die Welt bewegt sich. Fährt von mir weg. Erst nach ein paar Sekunden kapiere ich, dass mich jemand über den Holzboden zieht, am Fell. Ich bewege die Pfoten und springe auf, um mich dieser Art des unfreiwilligen Transports zu entziehen. Als ich herum wirbele, sehe ich in ein menschliches Gesicht. Sehr jung.
„Komm!“, sagt eine Stimme. Sie gehört zu dem Gesicht. Als ich verwirrt stehen bleibe, winkt der Mensch mit beiden Armen: „Komm mit, schnell!“
Ich mache einen Schritt zurück. Was ist passiert? Warum lebe ich noch?
Etwas zischt an mir vorbei und bohrt sich in das Holz vor meinen Pfoten. Ich zucke zusammen. Die Ablenkung nutzt der Mensch, um nach vorne zu hechten und mein seitliches Halsfell zu greifen. Ich jaule auf und schnappe nach dem Arm, doch er ist grade außerhalb meiner Reichweite. Der Mensch zieht mich weiter. Wieder saust etwas knapp an meinem Kopf vorbei. Diesmal erhasche ich einen Blick auf das Objekt.
Es ist ein Messer. Ein plumpes, rostiges Wurfmesser. Im Bruchteil eines Augenblicks verstehe ich, dass ich noch nicht entkommen bin. Obwohl ich nicht weiß, wie ich überlebt habe. Ich mache einen Satz nach vorne und meine Pfoten tragen mich jetzt von selbst vorwärts. Der Mensch fällt beinahe auf den Boden, doch er kann sich im letzten Moment fangen. Im nächsten rennen wir nebeneinander über die rutschige Holzbrücke. Meine Pfoten und die Schuhe des Menschen neben mir bilden einen festen Rhythmus. Mein Rückenfell kribbelt. Ich spüre den Blick des Ligers auf mir ruhen. Doch das Kribbeln lässt nach. Die gewundene Straße führt um die Klippe herum, und Felsen schieben sich zwischen mich und den Liger-Cereceri. Schließlich werden die Schritte neben mir langsamer, ebenso mein Herzschlag. Auch ich bremse mich ab und hechele hingebungsvoll. Der Mensch stützt sich auf den Knien ab und keucht genauso laut wie ich.
Ich mustere meinen Retter. Lackrote Schuhe mit einem kleinen Blümchen am Klettverschluss. Weiße Söckchen, die bis zu den Knien gehen. Ein kurzes Kleid, rot mit senkrechten rosa Streifen, dessen Saum bis knapp über die Knie fällt. Über dem Kleid eine weiße Bluse. Dünne, hellblonde Haare mit rötlichen Spitzen verdecken das Gesicht, obwohl ein schmaler Haarreif sie im Zaum halten sollte.
Mein Retter ist ein Mädchen. Von der Größe her könnte sie vielleicht 14, 15 Jahre alt sein. Und ihre Kleidung ist eindeutig die einer Reichen.
Ich mache einen Schritt zurück und starre sie an. Das Mädchen dreht den Kopf und grinst mich unter den regennassen Haaren an. Sie ist recht hübsch, obwohl sie sehr mager ist.
„Das war knapp, was?“
Ich nicke. Selbst, wenn ich grade kein Hund wäre, könnte ich nicht sprechen. Ich kann meine Augen nicht von ihr nehmen. Jetzt steigt mir auch der Geruch in die Nase: Vanille, Kirschblüten und ein Hauch Honig. Aber kein Hauch von Tier, wie es die Cereceri an sich tragen. Sie riecht nur nach Mensch.
Das Mädchen wendet sich leicht um und sieht auf die Straße. Sie streicht sich blonde Strähnen hinter das Ohr. Ihr Lächeln verblasst: „Die Einkäufe sind hin. Das gibt Ärger.“
Ich folge ihrem Blick. Man kann noch grade sehen, wo ich gelandet bin. Dort liegt eine Tasche auf dem Holz, deren Inhalt sich langsam auf der Schräge verteilt. Es sind Kleider und Stoffe. Vermutlich haben sie meinen Sturz abgefedert. Das Mädchen muss sie dorthin geworfen haben, wo ich aufgeschlagen bin.
Ich erlange endlich die Kontrolle über meinen Körper zurück. „D-danke.“, krächze ich.
Das Mädchen dreht sich um. Ihr Blick ist ein wenig erschrocken, als ich plötzlich kein Hund mehr bin. Dann formt ihr Mund ein kleines O. „Du blutest ja!“
Sie deutet auf meine linke Kopfhälfte. Vorsichtig taste ich und spüre die Feuchtigkeit des Regens. Doch meine Fingerspitzen sind rosa, als ich sie betrachte. Ich taste weiter, und als ich mein Ohr berühre, brennt es. Ein langer Riss durchzieht die Ohrmuschel. Blut tropft heraus, versaut vermutlich meinen weißen Kragen oder die Schulter der braunen Weste. Aber es kann nicht viel sein.
„Es geht schon.“, sage ich ausweichend: „Es heilt schnell.“ Ich überlege, wann ich mich verletzt habe. Dann fällt es mir ein: Als ich mich unter dem Liger hindurch geduckt habe. Er war sehr viel schneller, als ich angenommen hatte.
Das Mädchen tritt vor und greift nach meiner rechten Hand: „Wenn du mitkommst, gebe ich dir ein Pflaster.“
Ich will widersprechen, doch sie zieht mich mit sich, bevor ich zu Wort komme. Die Straße hinauf, auf die obere Stadt zu. „N-nein!“, rufe ich: „Ich – Ich kann nicht!“
Das Mädchen bleibt stehen, lässt meine Hand jedoch nicht los: „Es ist okay. Ich wohne ganz nah am Eingang der Stadt. Wir verarzten dein Ohr und du bist wieder fort, bevor jemand es mitkriegt. Vertrau mir!“
Ich sehe in die erstaunlich großen, blauen Augen in dem schmalen Gesicht. Sie lächelt schief, aber in ihren Augen steht Einsamkeit. Ihr Griff um meinen Arm ist schwach. Ich könnte mich losreißen, wenn ich wollte. Die Kraft, mit der sie mich aus der Reichweite der Wurfmesser gezerrt hatte, ist erloschen. Aber sie hat mein Leben gerettet.
Ich mache einen zögerlichen Schritt in Richtung Stadt. Das Lächeln des Mädchens wird breiter. Ich vertraue ihr.
Aitlyn-LaKitan ist wie eine fremde Welt. Es ist so groß und gleichzeitig so klein. Die Häuser sind riesig. Die Straßen breit. Fenster sind manchmal so groß, dass man die ganzen Erdgeschosse einsehen konnte. Überall sind Menschen und fremdartige Geräte auf Rollen, in den unterschiedlichsten Formen. Auf manchen sitzen Menschen, andere werden von Pferden oder kräftigen Pferde-Cereceri gezogen. Auch ein paar Tiger- und Bärenmenschen sind in der Masse. Mit gesenktem Kopf folgen sie ihren Herren. Sie bemerken mich nicht. Die Luft ist voller Lärm und voll fremder Gerüche.
Ich fühle mich winzig zwischen den riesigen Häusern. Ich verstehe kaum etwas, so viel prasselt auf mich ein. Als Hund trotte ich dicht an den Fersen meiner Retterin. Der Weg zu ihrem Haus, das so nah sein soll, erweist sich als scheinbar ewig lang. Ich atme Staub ein. Fieberhaft bemühe ich mich, die roten Schuhe des Mädchens nicht aus den Augen zu verlieren. Und nicht von jemanden über den Haufen gerannt zu werden. Ich wünsche mir, ich könnte auf die Wellblechdächer wechseln und hoch über der Menge laufen. Aber es gibt keine Wellblechdächer. Mein Herz klopft. Als Mensch würde es mir schwer fallen, nicht plötzlich auf die Pfoten zu fallen. Doch das Mädchen hat angehalten, kurz bevor wir in Sichtweite des großen Tores gekommen sind, durch das man den oberen Teil der Stadt erreicht. Sie hatte verschwörerisch um die Ecke gesehen:
„Es ist vielleicht besser, wenn du als Hund mitkommst. Unauffälliger, du verstehst? Die Menschen kennen sich alle untereinander.“
Ich habe genickt. Genau wie in den Ruinen. Dort kennt auch jeder jeden. Deshalb war es so seltsam, dass ich den alten Mann nicht erkannt habe, der im Griff des Ligers hing. Es kommt mir schon vor wie ein Traum.
Dann folgte ich dem Mädchen durch das Tor. Jedes Haar angespannt und aufgerichtet. Das Tor war die erste große Prüfung für meine Nerven. Ich habe den Blick gesenkt, auf keinen Fall durften die Wachen meine Augen sehen, die so unverkennbar menschlich sind. Doch beide streifen mich nur mit beiläufigen Blicken. Sie sehen meine Begleiterin an.
„Fräulein Luminor!“ Einer hob die Hand an seine Mütze. Das Mädchen nickte und wir passierten ohne Probleme. Tauchten ein in die verwirrende Vielfalt der oberen Stadt.
Ich folge ihr weiter. Hier drängen sich fast so viele Menschen wie in den engen Gassen der Ruinen. Ich habe längst die Orientierung verloren.
Plötzlich ertönt eine Stimme: „Misa!“
Das Mädchen zuckt zusammen und bleibt stehen. Ich stolpere beinahe in ihre Kniekehlen. Vom Boden sehe ich hoch, ein Mann kommt auf uns zu. Er wühlt sich durch die Menge, in förmliche, schwarze Kleidung gekleidet. Von seinem Gesicht sehe ich nur einen beeindruckenden, schwarzen Vollbart und eine blasse Stirn. Er streckt Misa eine Hand entgegen. Sie schüttelt sie mit lang ausgestrecktem Arm und zwingt den Mann so, auf Abstand zu bleiben.
„Schön dich zu sehen! Was tust du hier?“, fragt der Mann.
„Ich war nur spazieren.“, antwortet Misa. Ihre Stimme ist ein bisschen höher als normal wäre. Sie ist nervös. Doch ihrem Gesprächspartner scheint nichts aufzufallen. Sie stellt keine Gegenfrage. Der Blick des Mannes wandert über Misa zu mir. Ich schlage schnell den Blick nieder.
„Seit wann hast du einen Hund?“, fragt er erstaunt. Mein Herz schlägt schneller. Ich wurde entdeckt!
Misa zuckt mit den Schultern. „Wir passen für einen Bekannten in Telion auf ihn auf.“ Sie kniet sich zu mir und ich sehe eine deutliche Röte in ihren Wangen aufsteigen. Sie kann genauso schlecht lügen wie ich. Freundlich krault sie mir die Ohren: „Nicht wahr, Wolf?“
Sie schöpft Atem, solange sie mich ansieht. Als sie wieder aufsteht, tätschelt sie mir den Kopf: „Ist er nicht niedlich?“
Der Mann nickt. Seine Augen tauchen über dem Bart auf, als er zu mir herunter blickt. Er scheint zu lächeln: „Wolf? Ein ungewöhnlicher Name.“
Misas Hand auf meinem Kopf erstarrt in der Bewegung, ganz kurz, bevor sie sich weiter bewegt. Doch der Mann wendet seine Aufmerksamkeit von mir ab: „Wie auch immer, ich muss leider weiter. Grüß deine Mutter von mir, ja?“
„Natürlich, Herr Fidschi!“, antwortet Misa. Der Mann verschwindet im Gedränge. Misa atmet erleichtert auf.
„Komm weiter.“, flüstert sie mir zu. „Wir sind fast da!“
Und tatsächlich: Zwei Ecken weiter stehen wir plötzlich in einer Einfahrt aus Kieseln, mit kleinen Zierbüschen geschmückt. Ein großes Haus aus hellem Stein steht dahinter, halb hinter hellgrünen Bäumen verborgen. Die Fenster sind riesig, von weißem Holz durchzogen, sodass kleine Vierecke entstehen. Das Innere ist vor den Blicken durch helle Vorhänge verborgen. Ich folge Misa zur Haustür.
Ein Ruinenhund im reichen Viertel.