Das Haus ist atemberaubend und beängstigend. Schon der Eingangsbereich ist so groß wie unsere Hütte in den Ruinen. Durch die weiße Tür kommt man in einen kurzen Flur, an dessen Ende nochmals eine Tür steht. Die Wände sind aus Glas, und ein kleines, dreieckiges Dach bedeckt diesen Vorbau. Es ist, als müsste man erst drei Prüfungen bestehen, um das Haus zu betreten: Die Einfahrt mit dem weißen Zaun, die vordere und die hintere Eingangstür.
Der Raum zwischen beiden Türen ist leer, bis auf fremdartige, weiße Blumen, die direkt vor den Fenstern stehen. Beinahe, als wäre man draußen. Nur ohne den Wind.
Misa muss die zweite Tür aufschließen und bedeutet mir mit einem Finger auf den blassen Lippen, leise zu sein. Als würde ich auch nur das geringste Geräusch von mir geben! Als die Tür mit einem sachten Quietschen aufschwingt, zucke ich zusammen, als hätte ich mich gestochen. Hinter Misa trete ich vorsichtig über die Schwelle.
Wow. So einen großen Raum habe ich noch nie gesehen! Und dann auch noch so hell, in weiß und hellblau. Ich bleibe vor dem Teppich stehen, um mit meinen dreckigen Pfoten keine Flecken darin zu hinterlassen. Es ist ein langgezogener, weißer Teppich. Der ganze Raum ist noch recht schmal. Das Haus ist nach hinten hin viel größer, als ich von außen sehen konnte. Hier ist Platz für mehrere Reihen Kleiderbügel und Schuhregale, ein paar Podeste mit Statuetten darauf und Bücherregalen. Und an der gegenüberliegenden Seite sind nicht etwa Fenster, die das Ende des Raumes anzeigen, sondern ein weißer Kamin. Zwei Türen gehen an den Wänden ungefähr in der Mitte ab, sie stehen einander genau gegenüber.
Ich schlucke und betrachte den vergoldeten Kronleuchter, von dem weiße Bänder wehen. Obwohl es hier keine Fenster gibt – dafür Bilder an den Wänden – ist der Raum hell und freundlich. Ich würde gerne den Regen aus meinem Fell schütteln, doch ich würde nur alle möglichen Dinge beschmutzen.
Ich sehe Misa ängstlich an. Ihr Gesicht ist angespannt: „Kein Ton! Komm mit!“
Sie führt mich auf die Mitte zu und dort durch die rechte Tür. Dahinter liegt ein breiter Flur, von dem drei Türen abgehen – allesamt nach Links, also zum hinteren Teil des Hauses. Die rechte Seite wird von großen Fenstern eingenommen. Vor einigen stehen Sofas oder kleine Tische. Außerdem gibt es eine erschreckend große Anzahl an Topfpflanzen und Ziervasen.
Ich schnuppere neugierig. So viele Gerüche! Porzellan, Birkenholz, ein Hauch von Desinfektionsmittel. Der Boden ist aus Holzdielen, die unter einem weißen Teppich verborgen sind. Die Türen sind ebenfalls hell, und in jede ist ein kleines Fenster im oberen Teil eingelassen, durch das man in den dahinter liegenden Raum sehen kann. Durch die großen Fenster sehe ich den verregneten Garten. Doch der Himmel scheint langsam klar zu werden. Bald kommt die Sonne wieder.
Misa bleibt vor einer Tür stehen. Ich habe mich auf der Fensterseite des Teppichs gehalten und muss springen, um den weißen Stoff nicht zu berühren. Als Misa die Tür öffnet, wanke ich ein Stück zurück. Der Geruch nach Desinfektionsmittel ist hier überwältigend. Und der Raum leuchtet förmlich vor hellem Weiß und sanftem Grün. Ich sehe eine Liege, mehrere verspiegelte Wandschränkchen, eine Topfpflanze – und einen Mann in weißem Anzug, der sich überrascht umdreht. Ich verschwinde hinter der Tür.
„Misa?“, fragt der Mann. Er hat eine beruhigende Stimme und wirkt freundlich. Trotzdem wird Misas Stimme wieder nervös und hoch: „Oh. Hallo Paps. Ich wollte nur mal sehen, wie es dir geht.“
Schwere Schritte nähern sich der Tür, dann kann ich den Fremden auf der anderen Seite des Holzes riechen. Das ist also Misas Vater?
Seine Stimme nimmt einen strengen Unterton an: „Misatyra Luminor! Ich merke es, wenn du flunkerst!“ Mit einem Ruck reißt er die Tür aus und streift dabei beinahe meine Pfoten. Ich weiche zurück, doch im Flur gibt es keine Verstecke.
Nur für einen Bruchteil treffen sich unsere Blicke, aber die klugen, braunen Augen des Mannes blitzen auf: „Ein Cereceri! Misa, bist du wahnsinnig?“
„Tut mir leid, Papa! Er ist auf die Straße gefallen und beinahe gestorben! Ich wollte ihn nur kurz verarzten, und dann -!“ Sie stellt sich vor mich, doch ihr Vater schiebt sie zur Seite und geht in die Hocke. Eine Hand schiebt er unter mein Kinn und hebt meinen Kopf an, so dass ich ihn ansehen muss.
Mit prüfendem Blick mustert er mein Ohr und fasst es dann mit zwei Fingern, um die Wunde genauer zu begutachten. Ich wage kaum, zu atmen und starre in das breite Gesicht, dass mir plötzlich sehr nah ist. Misas Vater hat dunkelblonde Haare, die jedoch langsam schütter und grau werden. Ein paar Lachfalten im Gesicht, einen breiten Mund, der viel zu lächeln scheint. Die Augen sind braun, aber ihr Blick ist schneidend und scharf. Ein Geruch nach Salben und Verbänden geht von ihm aus.
„Das ist nur ein kleiner Riss. Eventuell könnte man es nähen – ein Stich. Aber das ist wirklich kein Grund, um ein solches Risiko einzugehen, Misa.“
Das Mädchen seufzt leicht: „Ja, Paps. Tut mir leid.“ Ich suche ihren Blick, aber sie weicht mir aus.
Ihr Vater dafür sieht mir in die Augen, während er sich erhebt: „Dann komm mal mit.“
Ich tapse hinter ihm in das helle Zimmer. Alles ist weiß. Die weiche Liege, die Drehstühle und das Holz des Tisches mit der Glasplatte. Sogar das Regal ist weiß, und das abstrakte Bild an der hinteren Wand. Auch hier kein Fenster zu einem hinteren Teil des Gebäudes. Durch die weiße Tapete zieht sich ein mintgrüner Streifen auf menschlicher Kopfhöhe einmal um den ganzen Raum.
Misas Vater geht zu einem der vielen Schränkchen und öffnet es. Er nimmt ein Fläschchen heraus und dann eine Packung Pflaster. Ich setze mich vor den runden Teppich, der in der Mitte des Raumes liegt – warum sind hier eigentlich so viele Teppiche? Dieser hier ist mintgrün, passend zu dem Streifen an der Wand.
Ich kauere mich zusammen und schnuppere nervös. Es riecht nach Blut und nach vielen, vielen fremdartigen Pflanzen. Und nach toten Dingen, die in Alkohol eingelegt sind. Brr! Vermutlich lauern hinter einer der Schranktüren große Glubschaugen in einem Glas!
Misas Vater dreht sich um und betrachtet meinen eingezogenen Kopf mit belustigt hochgezogenen Augenbrauen: „Hey, Kleiner. Du brauchst keine Angst zu haben!“ Er kniet sich direkt auf den grünen Teppich vor meine Nase und lässt mich an seiner Hand schnuppern, bevor er mich breit anlächelt. Sympathischer Mann, wenn er doch kein reicher Arzt wäre!
„Wie heißt du?“, fragt er freundlich.
„Ich habe ihn Wolf getauft!“, ruft Misa von der Tür: „Passt zu ihm, oder?“
Marc verdreht die Augen: „Er ist ein Hund, kein Wolf.“ Er dreht sich wieder mir zu. „Vermutlich eine Retriever-Unterart. Und du hast sicher einen anderen Namen?“
Ich nicke und gehe ein paar Schritte zurück, bevor ich mich verwandele. Sowohl Misa als auch ihr Vater starren mich neugierig an, als ich plötzlich als Mensch vor ihnen hocke. Ich räuspere mich, um meine Stimmbänder zu prüfen: „Ich heiße Phosphor. Phosphor Pyron.“
Misas Vater streckt eine Hand aus, die ich sehr vorsichtig ergreife. „Marc Luminor. Freut mich.“
Ich schlucke. Muss ich jetzt noch etwas sagen? In den Ruinen gibt es solche Rituale nicht, aber hier oben soll es sie geben.
Ich lächele hilflos, und Marc Luminor wendet sich wieder meinem Ohr zu: „Dann lass mal sehen, Phosphor.“
Ich lasse es geschehen, dass Marc sanft das Blut abtupft und dann ein paar Tropfen in die Wunde fallen lässt, die ein bisschen brennen. Doch ich bin da schlimmeres gewohnt. Als letztes kommt ein Pflaster darauf, dass aus einem Gitter dünner, weißer Streifen besteht. Versuchsweise laufe ich als Hund durch das Zimmer und wackele mit den Ohren. Da ich Halb-Schlappohren habe, flattern mir die Ohren um den Kopf, dass Misa lachen muss. Auch Marc grinst, als ich reumütig zurück zur Tür schleiche – jetzt haben sich doch Pfotenabdrücke über den ganzen Teppich verteilt!
Marc wirft einen kurzen Blick aus der halb geöffneten Tür: „Das Ohr müsste bald heilen, dann kannst du das Pflaster abziehen. Wir warten noch, bis es aufgehört hat, zu regnen, dann bringt Misa dich zurück zum Tor.“
Ich wedele zustimmend mit dem Schwanz – schon jetzt möchte ich mir nicht vorstellen, was meine Mutter sagen wird, wenn sie erst herausfinden, wo ich herkomme. Vermutlich etwas in der Art von: ››Da ist die Tür, Phosphor!‹‹.
Misa hat mich mit ins Wohnzimmer genommen. Es ging den Gang weiter, durch den wir auch das Arztzimmer betreten hatten, bis zum Ende und dann durch eine große Tür. Das Wohnzimmer ist ganz mit Teppich ausgelegt, also bekam ich erst einmal ein Handtuch, um mich zu trocknen. Jetzt sitze ich als Mensch auf dem breiten Sofa und bemühe mich, die hellen Kissen nicht zu berühren oder etwas kaputt zu machen. Misa sitzt mir gegenüber, beinahe in einem großen Ohrensessel versunken und fragt mich aus, was über der Holzbrücke passiert sei.
„Und du hast keine Ahnung, wer dieser Liger war?“ Über den Rand ihrer Tasse sehen mich die blassen, blauen Augen an.
Ich schüttele den Kopf und beschnuppere unauffällig das braune Gebräu in meiner eigenen Tasse. Es riecht heiß und...fremd. Nicht unbedingt schlecht.
„Und er hatte wirklich einen Toten dabei?“, Misas Augen sind sehr groß.
Ich nicke: „Ein alter Mann.“
„Unglaublich. Und dann hat er dich angegriffen und du bist heldenmütig auf die Felswand gesprungen!“
Heldenmütig? Wohl eher wahnsinnig vor Angst. Ich nicke wieder.
„Wieso bist du abgestürzt? Und trink, der Kakao ist nicht vergiftet!“, Misa lacht fröhlich.
„Ich habe Panik bekommen. Da kann ich nicht kontrollieren, ob ich mich verwandele.“, sage ich und nehme vorsichtig einen Schluck aus der Tasse, um Misas neugierigem Blick zu entgehen. Solche Zugeständnisse sind unangenehm!
Misa schüttelt den Kopf, während ich neugierig dem süßen Geschmack des Kakaos nachfühle.
„Hast du ein Glück gehabt, dass ich Kleider einkaufen war!“
„Apropos Einkäufe:“, meldet sich Marc vom Flur, wo er Staub von den Bilderrahmen wischt: „Ich kann mich nicht erinnern, dass draußen auf der Straße irgendein Geschäft wäre!“
Misa zuckt zusammen. Sie antwortet: „Ich brauchte mal frische Luft.“
Dann grinst sie mir verschwörerisch zu: „Und ich liebe die Aussicht aufs Moor.“, flüstert sie.
Ich nicke: „Besonders bei Regen!“
Für einen Moment vergesse ich, dass ich unter Reichen bin.