„Du willst Papa gar nicht finden!“, schreit Misa unter Tränen. „Komm, Wolf!“
Schluchzend rennt sie aus dem Wohnzimmer. Ich bleibe wie angewurzelt stehen und sehe ihr hinterher. Dann zu Velaa.
„Pass auf sie auf. Nun lauf schon!“, ruft mir Misas Mutter zu.
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Auf vier flinken Pfoten erreiche ich Misa an der Tür und gemeinsam stürmen wir nach draußen. Misa weint und hat das Gesicht mit den Händen bedeckt. Ich laufe neben ihr her und wedele traurig mit dem Schwanz auf Halbmast. Drei Straßen lang rennt Misa blindlings drauf los, dann wird sie endlich langsamer. Es ist früh morgens, die Straßen sind leer. Die Sonne geht grade auf. Als wir schließlich einen verlassenen Park erreichen, lässt sich Misa erschöpft auf eine Bank fallen und wischt sich Tränen aus den Augen. Als ich weit und breit keine Menschen sehe, setze ich mich neben sie und lege eine Hand auf ihre Schulter.
Misa sieht mich an: „Warum will Mutter nicht die Polizei rufen? Was will sie denn sonst tun?“ Tränen laufen über Misas blasse Wangen.
Ich zucke mit den Schultern: „Ich habe keine Ahnung - aber deine Mutter wird ihre Gründe haben.“ Misa schnaubt. „Marcs Verschwinden macht sie genauso fertig wie dich.“, fahre ich trotzdem fort.
Misa seufzt tief und zieht die Knie heran, bis ich ein zitterndes Bündel Elend neben mir sitzen habe. Ich rücke ein winziges Stück näher, um ihr den Rücken zu reiben. „Vermutlich muss deine Mutter an ihren Wahlkampf denken oder so.“, rate ich.
„Ja, natürlich.“, schnieft Misa. „Wenn die Wähler erfahren, dass ihr Mann entführt wurde, werden sie glauben, dass man sie erpresst. Vermutlich wird man das auch tun!“, Misa bricht von Neuem in Tränen aus. „Paps ist eine Geisel!“
Ich mahle mit dem Kiefer. Was sage ich denn jetzt?
„Das bedeutet doch, dass er noch am Leben ist, oder?“, frage ich. Ganz falsch. Misa heult wie ein Wolf auf. Ich zucke zusammen. Als Hund könnte ich sie besser trösten.
Plötzlich kippt Misa zur Seite und im nächsten Moment lehnt sie an meiner Schulter. Ich lege einen Arm um ihre Schulter - sie ist so zerbrechlich! Schon durchdringen die ersten Tränen den Hemdstoff an meiner Schulter. „Wieso muss so etwas passieren? Wieso mir? Wieso waren wir gestern so lange weg?“, Misas Stimme ist gedämpft. Ich schweige, denn ich weiß keine Antwort. „Warum habe ich mich mit Paps gestritten?“, flüstert Misa mit zitternder Stimme.
Ich drücke sie an mich: „Es wird alles gut. Wir - wir finden einen Weg!“
Misa nickt in meine Schulter, dann kommen neue Schluchzer hoch. Sie krallt sich in meine Oberarme, als könnte ich ebenfalls verschwinden.
Als Misas Gesicht aus meiner Schulter auftaucht, ist die Sonne bereits vollständig aufgegangen. Ihre Augen sind wieder trocken und sie setzt sich aufrecht hin, um ihre Haare mit den Fingern zu kämmen.
Ich zupfe unauffällig meine Kleidung zurecht. Noch immer sind wir allein im Park.
„Meintest du das ernst?“, fragt Misa unvermittelt.
„Was?“, antworte ich mit einer Gegenfrage.
„Du hast gesagt, wir würden einen Weg finden. Meintest du das ernst?“, Misas Augen leuchten. „Versuchen wir, Paps zu finden?“
Ich lege den Kopf schief: „Wenn er entführt ist, könnte das gefährlich werden!“
Misa zuckt mit den Schultern. „Das kümmert mich nicht!“
Ich schlucke. Ich hatte sie doch nur trösten wollen!
Gegen Mittag verlassen wir das Haus ein zweites Mal, diesmal unter etwas fröhlicheren Umständen. Misa hat sich bei ihrer Mutter entschuldigt und jetzt wollen wir ein paar Besorgungen machen. In erster Linie geht es darum, Lebensmittel zu kaufen, eben die normalen Wochenendeinkäufe. Aber Misa will auch nach einer Spur von Marc suchen. Deshalb laufen wir alle Läden ab, die Marc vielleicht besucht haben könnte, und ich muss jedes Mal nach seinem Geruch forschen. Dadurch, dass wir riesige Umwege machen, kaufen wir auch viel mehr, als eigentlich geplant. Bald sind wir mit drei schweren Taschen beladen. Zwei schleppt Misa, die dritte trage ich als Hund. Manchmal wären Hände doch sehr praktisch.
Die Stadt ist eine verwirrende Mischung aus Farben, Gerüchen und Lauten. Ich bin hier schon mehrfach mit Misa gewesen, und nie habe ich mich an die vielen Menschen gewöhnt. Meine Leine in der Hand geht Misa mit schnellen Schritten durch das Gewimmel. Ich halte mich so dicht an ihrer Seite, dass ich sie beinahe aus dem Gleichgewicht bringe. Aber überall sind Beine, Räder und schwere Taschen. Nur in Misas unmittelbarer Nähe bin ich vor Tritten geschützt.
Misa trägt eine Sonnenbrille, doch ich kann trotzdem ihre Entschlossenheit und Sorge in der Haltung des Mundes erkennen. Ich fühle ihre Anspannung.
Hilflos wittere ich. Bratwürstchen. Parfum. Leder. Kleidungsstoffe - Seide, Kaftan. Ein Brötchen mit Käse und Ei. Taubendreck. Holz von der Gitarre, die ein Straßenkünster in der Nähe spielt. Das Metall und Gummi von Karren, Fahrrädern, Wagen.
Misa geht zu der Ecke, wo ein Supermarkt liegt. Sie kniet sich hin und bindet meine Leine an die Metallstangen, denn Hunde sind im Geschäft nicht erlaubt. Sie streicht mir über den Kopf: "Finde was, Wolf. Bitte." Ihre Worte sind so leise, dass selbst ich Mühe habe, sie über dem Lärm der Straße zu hören. Ich blinzele ihr zu und wuffe zweimal.
Misa steht auf und geht äußerlich selbstsicher in den Laden. Ich bemerke, wie angespannt sie ihre Tasche umklammert hält.
Ich lege mich auf den Boden, um näher an möglichen Geruchsresten zu sein. Ich wittere, doch ich kann Marc nicht mehr riechen. Es ist zu viel Zeit vergangen. Und vielleicht war er nicht einmal hier!
Als Misa aus dem Geschäft kommt, fliegt ihr Blick sofort zu mir. Doch ich kann nur hoffnungslos den Kopfschütteln. Es ist eine unauffällige, kleine Geste, die nur Misa erkennt. Ansonsten würden sich die Leute noch Sorgen machen, weil ein Hund mit dem Kopf schüttelt.
Misa seufzt und bindet meine Leine los: „Ich habe alles. Also zurück!“
Mit unserer Beute wollen wir uns grade auf den Heimweg machen, da spüre ich ein Kribbeln im Fell. Auch Misa wird langsamer, also habe ich nicht einfach einen Flohbiss. Wir halten an und Misa tut, als würde sie die Taschen neu sortieren. Ich sehe mich unauffällig um.
Aus einer schmalen Gasse bemerke ich eine Bewegung. Als ich genauer hinsehe, erkenne ich eine schlanke Gestalt, die uns beide beobachtet. Ich starre den Fremden an. Es ist ein Mann, hochgewachsen und schlank. Ein weißes Hemd mit weiten Ärmeln und eine schwarze Hose. Ich erhalte einen Eindruck von langen, weißen Haaren, da bemerkt die Gestalt meinen Blick und verschwindet in einem Blinzeln. Ich habe nicht einmal eine Ahnung, in welche Richtung sie sich entfernt hat.
„Los, hinterher!“, ruft Misa und prescht los. Ich bleibe stehen und stemme mich in den Boden, doch sie zieht mich mit. „Du hast doch nicht etwa Angst, Wolf?“
Natürlich habe ich Angst. Der Mann ist vermutlich gefährlich! Die Gasse ist jedoch leer, als wir ankommen. Misa sieht sich verständnislos um. Ich schnuppere den ganzen Boden ab.
Und knurre: Lilienblüten! Wie in der Wohnung. Diesmal ist der Geruch viel intensiver und frischer. Er schlägt mir förmlich entgegen und verursacht mir Übelkeit. Sogar Misa verzieht das Gesicht. Die Lilien riechen unnatürlich süßlich.
Dann sieht sie etwas und läuft zu dem schwarzem Metallzaun, der das Ende der Gasse verschließt. Dahinter liegt ein verkommener Vorplatz und ein hässliches, schwarzen Gebäude. Misa zieht etwas von einer Metallspitze des Zauns.
„Die alte Kapelle!“, flüstert sie nachdenklich. Der Gestank nach Lilien nimmt mir förmlich den Atem.
Misa hält mir einen schwarzen Kleiderfetzen vor die Nase: "Riech!"
Ich schnuppere und fahre zurück. Lilien! Ich niese.
Misa hebt eine Augenbraue: „Alles klar, Wolf?“
Ich reiße mich zusammen uns schnuppere nochmals. Unter den Lilien, ganz schwach, rieche ich Desinfektionsmittel und Holunderbeerentee. Marcs Eigengeruch. Ich belle einmal.
Misa zieht den Fetzen zurück: „Es ist eine Spur, oder?“, fragt sie aufgeregt. Ich sehe mich um und nehme menschliche Form an, als ich sehe, dass uns niemand beobachtet.
„Es riecht nach Marc. Aber es ist zu gefährlich. Der Typ muss noch in der Kapelle sein, oder in der Nähe!“ Ich halte inne und schnuppere nochmals: „Cereceri – der Mann ist nicht allein!“
Misa zeiht mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an, dann nickt sie: „Wir brauchen einen Plan.“
Ich falle zurück auf vier Pfoten und wuffe zweimal. Misa nimmt meine Leine wieder auf.
Auf dem Rückweg ist sie schweigsam.