Velaa empfängt uns bei unserer Rückkehr in der Tür. Sie sieht müde aus und sehr viel kraftloser als sonst. Ich vermute, dass sie die ganze Zeit an den Fenstern gewartet hat, bis wir heimkehren. Es bricht mir das Herz, die sonst so starke Frau derart am Boden zu erleben. Sie nimmt uns und die Einkäufe schweigend in Empfang, dann geht sie in die Küche, um die Taschen auszupacken.
Misa zieht ihr mit mahlendem Kiefer hinterher. Es ist klar, dass sie die Situation nicht so lassen kann.
„Komm, Wolf.“, flüstert sie und geht vor. Wir laufen in ihr Zimmer, wo Misa die Tür hinter uns schließt und sich auf ihr Bett wirft. Ich verwandele mich und trete neben sie.
„Wir müssen etwas tun. Egal was, Hauptsache irgendwas!“, beginnt Misa ohne Luftholen. Ich setze mich neben sie auf das Bett: „Und was hast du vor?“
Sie schlägt mit der flachen Hand auf die Matratze. „Wir bringen den Kerl um, der Paps entführt hat!“
„Misa!“, rufe ich: “Du kannst nicht zur Mörderin werden! Außerdem ist das zu gefährlich!“
„Das ist mir egal!“, Misa funkelt mich aus blitzenden Augen an: „Es ist mir egal.“ Sie wiederholt es langsamer und giftiger.
Ich seufze: „Lass uns wenigstens sehen, ob wir nicht etwas herausfinden können! Und was sagen wir deiner Mutter?“
Misa schüttelt heftig den Kopf: „Nichts. Sie macht sich schon genug Sorgen. Außerdem darf sie als Politikerin nicht über rostige Zäune kletternd in der Innenstadt erwischt werden. Wir sind auf uns allein gestellt.“
Misa scheint die Aussicht, nur zu zweit hinter einer Verbrecherbande herzujagen, nicht halb so viel Angst zu machen wie mir.
Misa starrt wieder in die Ferne: „Wir werden ein paar Sachen brauchen, wenn wir heute Abend aufbrechen. Und ich sollte mich verkleiden.“
„Heute Abend?!“, ich falle vor Schreck fast von der Bettkante.
Misa nickt: „Wer auch immer uns beobachtet hat, er weiß vermutlich, dass wir nach ihm suchen werden. Wir dürfen ihm keine Zeit lassen, sich zu verstecken!“
„Wir könnten ihn auch täuschen - so tun, als würden wir ihm nicht nachjagen und dann zuschlagen, wenn er sich sicher fühlt. Ein paar Tage später.“, schlage ich hoffnungslos vor.
Misa ignoriert meinen Einwand. Sie geht zu ihrem Kleiderschrank. Aus einem Fach sehr weit hinten und oben zieht sie einen schwarzen Regenmantel mit Kapuze. Sie hält ihn stolz vor die Brust.
„Was sagst du?“, fragt sie.
„Kento!“, rufe ich auf.
„Was?“, fragt Misa.
Ich stehe auf und streiche über den Stoff: „Der Mantel ist schön. Aber er hat mich an jemanden erinnert, der uns vielleicht helfen kann. Kento.“
Misa legt den Mantel ordentlich gefaltet auf das Bett: “Einer von deinen Ruinen-Wechselhäuten?“, fragt sie. Ihre Stimme klingt nicht halb so abschätzig, wie es ihre Worte vermuten lassen.
Ich schüttele den Kopf. Dann nicke ich. „Naja, er wohnt in den Ruinen. Aber wir vermuten, dass er ein Mensch ist. Niemand hat jemals gehört, dass er sich verwandelt hätte. Er kommt aus einer anderen Stadt. Niemand weiß besonders viel von ihm.“
„Klingt ja vielversprechend. Wer sagt uns, dass wir ihm vertrauen können?“, fragt Misa.
„Ich habe eine gute Menschenkenntnis!“, maule ich mit verschränkten Armen: „Wir müssen ihm ja nicht alles sagen. Aber er ist eine Art Detektiv. Er hat viele Informanten.“
Misa geht langsam durchs Zimmer. Unterwegs sammelt sie Dinge aus Schubladen ein. Eine Taschenlampe. Seile. Halstücher in Grau. Ein Messer. Woher sie das Zeug alles hat, wage ich nicht zu fragen.
„Und dieser Kento trägt schwarze Mäntel?“, ich nicke. „Und meist einen großen Hut. In Telion soll das angeblich Mode sein.“
Misas Mundwinkel zucken anerkennend nach unten: „Guter Geschmack. Fragt sich nur, wie wir ungesehen in die Ruinen und - noch wichtiger - wieder nach oben kommen.“
Ich lasse den Atem los, den ich unbewusst angehalten habe.
Wir überlegen. “Wir könnten uns an der Felswand abseilen.“, überlege ich. Dann sehe ich Misa an. „Aber das ist eine dumme Idee.“
„Eigentlich ist sie nicht so schlecht.“
Ich öffne den Mund, um zu protestieren, doch Misa hebt eine Hand und ich verstumme: „Ich kann nicht gut klettern – aber du schon. Ich könnte dich abseilen und dann die Kapelle untersuchen.“
„Nein!“, fahre ich auf: „Du gehst nicht alleine da rein! Ich – ich verbiete es dir!“ Für einen Moment vergesse ich den Standesunterschied zwischen uns beiden.
Misa sieht mich aus ihren blassen Augen an.
„Na gut.“, sagt sie schließlich: „Ich seile dich ab und warte, bis du zurück kommst.“
Mein Mund steht offen. Eigentlich bezog sich mein Widerspruch nicht nur darauf, dass sie alleine in die Kirche wollte! Aber dann sehe ich die Verzweiflung in Misas Gesicht.
„Wo sollte ich denn runter klettern?“, frage ich schicksalsergeben: „Ganz LaKitan ist von einer Mauer umgeben!“
„Ich habe schon eine Idee!“, ruft Misa. „Ich kenne eine Schwachstelle in der Mauer – früher war da mal ein Park, doch ein Teil der Klippe ist abgerutscht. Jetzt steht da keine Mauer mehr. Es ist mein Geheimversteck!“
Misa ist ganz begeistert, dass sie mich in ihr Geheimnis einweihen kann.
„Ein Teil der Klippe ist abgestürzt?“, frage ich. „Meinst du den Erdrutsch vor zehn Jahren?“
„Kann sein.“, meint Misa.
Ich habe von dem Unglück gehört. Ganze Hütten wurden damals unter Erde begraben. Natürlich stehen dort jetzt neue. Es muss auf der Seite der Klippen sein, wo auch mein eigener Lieblingsplatz auf dem Plateau liegt. Dort, wo ich von dem Liger überrascht wurde.
Ich schlucke: „Klingt ja wunderbar.“
Misa ignoriert mich und ist bereits damit beschäftigt, nach einem Seil zu suchen. „Nimm dir den Mantel. Wir wollen gleich nach dem Essen los.“
Abendessen. Velaa sitzt schweigend am Kopfende. Ihr gegenüber ist der leere Platz, wo Marc fehlt. Misa und ich sitzen nebeneinander auf der langen Seite. Misa schielt immer wieder verstohlen zu ihrer Mutter. Ich betrachte schluckend den leeren Sitz neben mir.
Es gibt eine ausländische Spezialität. Irgendein mir unbekanntes Fleisch in dünnen Scheiben auf weißen Körnern. Mit einer Nuss-Soße. Die Körner pappen zusammen und bilden in meinem Mund eine unschluckbare Masse. Auch die braune Soße hilft da nicht mehr. Ich habe das Gefühl, auf Plastik zu kauen.
Misa stochert nur mit der Gabel in ihrer vegetarischen Variante herum. Sie zerpflückt die Fleischfrucht, die tatsächlich aus Gummi zu sein scheint.
„Und? Was habt ihr beiden Chaoten morgen vor?“, fragt Velaa so fröhlich, dass es mir wehtut. Ich konzentriere mich darauf, die silberne Gabel richtig zu halten. Meine Finger verkrampfen sich. Bei Misa sieht es so einfach aus.
„Ich dachte, wir könnten ja mal in die Obstgärten gehen.“, plaudert Misa mit Leichtigkeit: „Vielleicht finden wir ein paar frühe Äpfel.“
„Schön, schön.“, sagt Velaa und betrachtet ihren Teller. Mit den manikürten Fingern knibbelt sie an einer dekorativen Rose. Sie hat nicht zugehört. Das falsche Lächeln auf Misas Lippen verblasst. Ich bin satt, aber ich kann auch nicht einfach das Essen stehen lassen. Und auf keinen Fall einfach aufstehen.
Ich spüre, wie ich drohe, die Kontrolle zu verlieren und mich zu verwandeln. Ich würde mich am liebsten irgendwo verkriechen. Ich starre auf die Gabel in meinen Händen, die vor meinen Augen verschwimmt.
Das Essen zieht sich in die Länge. Keiner spricht mehr. Ich wage es nicht, laut zu atmen. Mein Magen knurrt, obwohl ich keinen Appetit habe. Ich esse noch einen Streifen Fleisch.