Ich kehre schnurstracks zu den Klippen zurück. Unterwegs pflücke ich weitere Brombeeren, und als ich die Lichtung und das Seil schließlich erreiche, habe ich eine schwere Tasche und Magenschmerzen. Ich greife das Seil und ziehe zweimal kräftig, um Misa auf mich aufmerksam zu machen.
Es kommt keine Antwort.
Mein Herzschlag wird ein wenig schneller. ››Sie hat es nur nicht gesehen‹‹, denke ich. Ich ziehe nochmals. Und nochmals.
Das Seil bleibt unbeweglich am Felsen hängen. Mein Atem wird schnell und flach.
„Misa!“, rufe ich. Meine Stimme trägt nicht weit. Ihr muss etwas passiert sein! Warum antwortet sie nicht?
„Oh nein!“, ich schlage mir vor die Stirn. Sie ist zur alten Kathedrale - allein. Sie hat mich angelogen!
Ich greife das Seil, stemme die Füße an den Berg und ziehe mich mit den Armen nach oben. Schon nach wenigen Schritten brennen meine Muskeln vor Schmerzen. Meine Finger rutschen über das raue Seil, die Knie zittern unter meinem Gewicht. Schweißüberströmt hebe ich den Blick nach oben. Wie verdammt hoch ist diese Felswand? Ich greife eine Hand nach oben, ziehe mich weiter.
Das kann ich nie im Leben schaffen! Ich werde Panik bekommen, mich verwandeln. Meine Kraft wird mich verlassen.
Aber ich muss es einfach schaffen! Für Misa.
Mit einem wütenden Knurren ziehe ich mich noch ein Stück höher.
Es ist Abend, als ich mich endlich auf die Klippen ziehe. Meine Beine und Arme brennen. Ich würde am liebsten liegen bleiben, doch es geht nicht. Ich kämpfe mich auf vier Pfoten hoch. Ich muss Misa finden!
So schnell ich kann, renne ich zu der Kathedrale. Mein Wegegedächtnis als Hund ist miserabel, doch ich kann Misas Spur riechen. Endlich bin ich in der Gasse. Vor dem Zaun steht eine Mülltonne. Misas Geruch haftet an ihr – anscheinend hat sie die Tonne genutzt, um über den Zaun zu klettern. Ich springe auf die Tonne und über den Zaun. Sie steht mitten auf dem Vorplatz, nur in dem dünnen Sommerkleid, obwohl es kalt und windig geworden ist.
„Misa?“, ich wage kaum zu reden. Meine Stimme ist heiser und rau. Misa hebt ganz langsam den Blick. Ihre Augen sind leer. Sie guckt mich nicht richtig an.
„Misa!“, ich strecke eine Hand aus und lege sie ihr auf die Schulter. Keine Reaktion: Kein Zurück zucken, kein Entgegenkommen, nichts. Ich rüttele sie. Ihr Kopf tanzt auf dem Hals. Sie streift meinen Arm kraftlos ab.
„Lass, Wolf.“
Ihre Worte sind so leise. Mein Atem wird schnell. „Misa! Sag was, bitte!“, bettele ich.
Sie zuckt nur mit den Schultern und senkt den Blick. Ich erkenne, dass sie schwankt. Im letzten Moment stürze ich nach vorne und fange sie auf. Sie ist leicht, aber ihr Körper ist so schlaff, dass es schwer ist, sie zu halten.
„Misa!“, flüstere ich. Schon wieder in so kurzer Zeit treten mir Tränen in die Augen. Was hat Jecri mit ihr gemacht? Misa in meinem Arm ist eine bewusstlose Puppe. Ich hebe sie vorsichtig hoch. Mit aller Kraft kämpfe ich gegen die Tränen. „Misa! Komm zurück.“
Ihr Kopf fällt gegen meine Brust. Ich gehe langsam weiter die Straße entlang.
Verflucht, wo muss ich hin? Ich kenne den Weg doch nicht! Und außerdem sollte ich Seitengassen nehmen - Misa darf so nicht gesehen werden. Und ich muss mich beeilen.
Eilig stolpere ich in die Richtung los, die mir richtig vorkommt. Misas Hände baumeln in der Luft wie Fluggewichte. Die Haare fallen ihr über die Stirn. Sie sieht so erschöpft aus!
Ich achte kaum auf den Weg. Meine Gedanken kreisen um Misa, mein Blick ruht auf ihrem Gesicht. Irgendwann - ich weiß nicht wie - hebe ich den Blick und sehe Misas Haus vor mir wie aus dem Boden gewachsen. Ich verstärke noch einmal meinen Griff. Meine Arme werden langsam schwach. Dann laufe ich schneller, um in der Haustür Sturm zu klingeln.
Velaa öffnet die Tür nach einer kleinen Ewigkeit, in der nur noch mein Wille zwischen Misa und dem harten Boden steht. Kraft habe ich keine mehr.
Velaa reißt die Augen auf, als sie die leblose Misa sieht. Sofort zieht sie uns beide ins Innere.
„Was ist passiert, Wolf? Was ist Misa passiert?“
Ich schüttele den Kopf. Ich kann es nicht sagen. Ich weiß es nicht. Und Velaa soll doch nichts wissen.
Endlich wird Misa aus meinen Armen genommen. Velaa legt sie sanft auf die Couch. Dann rennt sie in Marcs Arbeitszimmer, um mit Verbänden und die Hände voller Pillen, Salben und Tees zurückzukommen. Sie wirft alles achtlos auf den Boden - ich hindere ein Fläschchen mit dem Fuß daran, auf Nimmerwiedersehen unter das Sofa zu rollen.
Velaa rauft sich die Haare: „Was machen wir jetzt?“
Ich durchwühle den Haufen. „Nasses Tuch“, sage ich. Ich spüre, dass ich die Kontrolle über meine Stimmbänder verliere. Ich stehe kurz vor einer Verwandlung. Doch dafür ist keine Zeit!
Velaa schnappt sich ein Tuch und rennt wieder los. Ich durchsuche die Medikamente auf dem Boden. ››Erinnere dich, Wolf! Denk nach!‹‹, rede ich mir selbst zu.
Ich verliere doch die Kontrolle, aber ich suche als Hund weiter. Schließlich erkenne ich den Geruch wieder, und als Velaa zurückkehrt, kann ich ihr die richtige Dose anreichen.
Mit zitternden Fingern nimmt Velaa die Flasche, dann rennt sie in die Küche, um ein Glas Wasser zu holen. Sie setzt sich schließlich zu Misa auf die Kante des Sofas und hebt ihren Kopf an, um ihr vorsichtig die verdünnten Tropfen einzuflößen. Ich sitze daneben und fühle mich hilflos. Ich hätte etwas tun müssen - ich hätte Misas Plan erraten müssen! Es ist meine Schuld, dass sie jetzt wie tot auf dem Sofa liegt. Hätte ich doch bloß darauf bestanden, sie mitzunehmen!
Hätte ich bloß mehr getan!