Die alte Kathedrale liegt verlassen da. Es ist ein kleines, hässliches Gebäude, jedenfalls nach den Maßstäben der Reichen. Für einen Ruinenbewohner wäre es ein Palast.
Man sieht das Gerüst aus schwarzem Holz, mit dem die Kirche erbaut wurde. Die Lücken wurden mit rotem Lehm ausgefüllt, der inzwischen bröckelt. Die Fenster sind staubig und blind, viele sind zerbrochen. Der Vorplatz, durch den Metallzaun abgeschirmt, ist mit Müll, trockenem Laub und zerbrochenem Glas übersät. Ein unangenehmer Geruch nach Verwesung und Alter liegt in der Luft. Doch selbst von meinem Beobachtungsposten auf den Mülltonnen aus kann ich noch etwas mehr riechen. Lilien. Kian Jecri ist hier. Ich betrachte das verlassen erscheinende Gebäude flach auf dem Bauch liegend von dem Dach einer Mülldeponie aus Holz hervor. Noch habe ich wenig bemerkt, doch im Dachgeschoss scheint Licht zu brennen. Ich sehe frontal auf die Tür, über der ein kleines Fenster im dreieckigen Dach ist. Weiter hinten, dort, wo die Kirche beinahe über die Klippen hinaus ragt, erhebt sich ein kleiner Kirchturm, der eher breit als hoch ist. Ein paar Vögel kreisen um das löchrige Dach. Sie nisten zwischen fehlenden Lehmziegeln. Die Doppeltür ist Flügeln nachempfunden, goldenen Schwingen, deren Federn sich so eng verhaken, dass kein Luftzug hindurch dringen kann. Zwei etwas hervorgehobene Federn dienen als Türgriffe.
Aber hinter dem blinden Fenster scheint etwas zu leuchten. Ab und zu verändert sich das Licht, als würde sich ein Schatten vor das Fenster lehnen.
Ich muss abwarten. Solange ich nicht weiß, wie viele Menschen und Cereceri sich in dem Gebäude aufhalten, wäre ein Eindringen Selbstmord. Obwohl - das wäre auch der Fall, falls Comodos, der Liger, in der Kirche ist. Ich bin ihm wohl kaum gewachsen!
Es ist kalt, der Wind schneidend. Und das im Sommer! Auf den Klippen ist es häufig windumtost, anders als in den Ruinen. Meine Finger sind kalt. Ich wechsele die Form, um mich mit meinem Fell zu schützen. Witternd suche ich nochmals nach Gerüchen.
Eine schwache Spur von Comodos. Mein Nackenfell stellt sich auf. Aber ich kann ebenfalls Marc riechen. Der Geruch ist undeutlich. Vielleicht ist Marc noch hier, vielleicht nicht. Alles, was ich im Moment tun kann, ist warten.
Ich höre ein Geräusch und fahre zusammen. Schritte! Jemand ist in der Nähe.
Ich ziehe mich geräuschlos zurück, bis ich an die Wand stoße. Vom Boden aus bin ich immer noch sichtbar, obwohl ein kleines Vordach mich jetzt vor Blicken von der Kirche schützt. Zu meinem Glück, denn die Flügeltüren öffnen sich, ein breiter Lichtstrahl fällt nach draußen.
Eine Gestalt klettert auf der anderen Seite über den Zaun, nur einen Steinwurf von mir entfernt. Ich schnappe nach Luft, ungeachtet der Gefahr: Es ist Misa!
Sie trägt nur ein dünnes, weißes Kleid. Ihre Augen sind fast geschlossen, als würde sie schlafen. Barfuß läuft sie über den Vorplatz, mitten zwischen Dreck und Scherben.
Ich winsele leise. Alles in mir drängt danach, ihr zu folgen. Doch in dem leuchtenden Rechteck der Tür erscheint eine schlanke Gestalt.
Ich rieche den Lilienduft, bevor ich die unverkennbare, förmliche Kleidung erkenne. Es ist die gleiche Gestalt, dünn, hoch aufragend, mit Rüschenhemd und schwarzer Hose, die uns schon gestern beobachtet hat. Kian Jecri tritt einen Schritt aus der Tür. Schwarze Lackstiefel. Seine Haare sind schlohweiß und so lang, dass sie über seine Hüfte fallen. Die Hände, die er nach Misa ausstreckt, sind schlank und fein, wie die einer Frau. Sie ergreift seine Hand ohne Zögern. Ein breites Grinsen teilt das blasse, spitze Gesicht.
Ohne, dass ich es will, dringt ein Knurren aus meiner Kehle. Misa! Wie kann dieser Kerl es wagen, sie anzufassen?
Er legt einen Arm um Misas Hüfte und zieht sie sanft in das Licht aus dem Inneren. Beide werden zu schmalen Schatten. Ich springe auf die Pfoten und presche los. Warum tut Misa nichts? Warum wehrt sie sich nicht?
Meine Pfoten rutschen über das Kopfsteinpflaster. Ich kümmere mich nicht um die Scherben. Meine Krallen kratzen über die Steine.
Die Türen fallen ganz langsam zu. Jecri schließt sie nicht selbst, niemand schließt sie, außer dem Wind. Ich lege die Ohren an und rase zwischen den Flügeln hindurch, bevor sich die Federn ineinander haken und die Türen zufallen.
Das Innere der Kirche ist leer.
Ich sehe mich verwirrt um. Wo ist Misa? Ich rieche die Lilien, ihr Geruch hängt überall in der Luft. Doch vor mir liegt nur eine kleine Halle, vielleicht von der Größe von zwei Räumen. Durch die Fenster fällt genug Licht, um eine allgemeine Leere zu entdecken.
Da erst merke ich, dass der Fußboden im vorderen Teil der Kirche ebenfalls fehlt. Ich trotte darauf zu, ducke mich jedoch. Hier führt eine Leiter ins Dachgeschoss. Ich schnuppere, kann aber keine frischen Gerüche entdecken. Aber Comodos war hier. Kian Jecri ebenfalls, und Marc und Misa.
Ich trete an das runde Loch in der vorderen Hälfte der Kirche. Es geht in die Tiefe, doch von dort weht mir Lilienduft entgegen. Anscheinend ist es eine Art Aufzug.
Ich trete an den Rand und kann unter mir die Plattform sehen, sowie drei Gestalten. Misa, Kian Jecri und Comodos. Mein Fell sträubt sich, als ich den dunkelhäutigen Cereceri erkenne. Geduckt warte ich, bis die Plattform unten angekommen ist und die drei aussteigen. Mit einem sanften Sirren kommt der Aufzug wieder nach oben.
Ich atme mehrmals tief durch. Dann trete ich auf den Boden. Ich zögere – wird sich der Aufzug jetzt automatisch absenken?
Anscheinend reicht mein Gewicht, um den Mechanismus in Gang zu setzen. Es geht in eine düstere Tiefe.
Schließlich kommt ein schmaler Lichtspalt auf Pfotenhöhe in Sicht, der sich langsam verbreitert. Dahinter wartet eine große Höhle, mit Tropfsteinen an der Decke und wahllos verteilten, leeren Käfigen.
Von Jecri, Comodos oder Misa ist nichts zu sehen. Ich springe aus dem Aufzug und suche nach Misas Duftspur.