Die Gestalt hatte es sich auf der Mauer bequem gemacht.
Diese war nicht besonders breit, trotzdem hatte sie es geschafft, sich so auf ihr zu positionieren, dass sie entspannt in den Himmel blicken konnte.
Halb liegend, halb sitzend betrachtete dieser Jemand den Vollmond, der von einem wolkenlosen Himmel herunterschien. Dessen Licht gab der Nacht etwas Unheimliches und Unwirkliches. Diese Stimmung wurde durch sporadisches Wolfsgeheul verstärkt, das in unregelmäßigen Abständen zu hören war.
Das Mondlicht traf direkt auf ihr Gesicht. Es war ein junger Mann von vielleicht Mitte Zwanzig, der seinen Blick nun auf die Sterne richtete.
Die Laute der Tiere schienen ihn nicht zu stören, ganz im Gegenteil – ein leicht spöttisches Lächeln umspielte meist seine Lippen, wenn sie sich erneut zu Wort meldeten. Eine unwillkürliche Geste, die darauf hindeutete, dass sich der Mauerkletterer überlegen fühlte und das Gebaren der Wölfe eher lächerlich als furchterregend empfand.
Das Geheule war nun verstummt und eine Stille breitete sich aus, die gut zu der übrigen Umgebung passte. Die Mauer, auf der sich der Fremde gemütlich gemacht hatte, war nämlich nicht irgendeine beliebige inmitten eines Gartens oder Parks. Das Gemäuer begrenzte einen alten, doch recht abseits liegenden Friedhof. Er war offensichtlich aufgegeben oder gar vergessen worden.
Vermutlich wohl eher ersteres, denn bekanntlich vergessen deutsche Behörden ja nichts, schon gar nicht Dinge, die mit möglichen Gebühreneinnahmen in Zusammenhang stehen.
Die alten Grabsteine waren überwiegend verwittert, kaputt oder nur noch in Bruchteilen vorhanden. Das Gras, unterschiedliche Sträucher und allerlei Unkraut wucherten unkontrolliert über die Gräber und Wege und zeigten, dass es hier wohl keine Angehörigen mehr gab, die diesen Ort noch aufsuchten. Vermutlich waren sie mittlerweile schlicht auch verschieden oder die Toten waren allesamt umgebettet und die alten Zeugnisse einfach sich selbst überlassen worden.
Nun, da die Ruhe zurückgekehrt war und nicht mehr durch das Geheule unterbrochen wurde, wirkte die Mine des Schwarzhaarigen eher bedrückt. Gedankenverloren strich er sich eine Haarsträhne aus dem blassen Gesicht und seufzte leise. Wie es schien, konnte er dieser friedlichen Stille nichts abgewinnen.
Auch die offensichtliche Traurigkeit konnte jedoch die Attraktivität nicht schmälern. Der Mann war recht blass, welches durch seine dunkle Haarfarbe besonders auffällig war. Da sein Gesicht sonst eine gesunde Form aufwies, also nicht besonders eingefallen oder mager aussah, lag es vermutlich einfach daran, dass der Fremde zu wenig draußen an der frischen Luft war. Und so wirkte er fast ein wenig vornehm und nicht ganz von dieser Welt, während er gleich einer Statue bewegungslos verharrte.
Weiter hatte die Person sehr buschige Augenbrauen, die seine dunkelbraunen Augen betonten. Ein genauer Beobachter konnte bemerken, dass beide Iris in unregelmäßigen Abständen einen seltsamen roten Schimmer aufwiesen. Sein Blick war nachdenklich und bedrückt.
Dieses Gefühl spiegelte sich auch auf seinen Lippen durch die leicht hängenden Mundwinkel wider. Sie waren durchschnittlich breit, von einem blassen Rosa – auch hier das Fehlen von kräftigen Farben. Auch wenn sein Aussehen durch einen schmalen schwarzen Oberlippenbart und ein freches, spitz zulaufendes Kinn etwas aufgelockert wurde, so konnte man nicht leugnen, dass ihm ein wenig mehr Farbe gutgetan hätte.
Ob sein restlicher Körper ebenfalls so blass war, war nicht zu erkennen. Weniger durch das mangelnde Licht, sondern vielmehr durch seine Kleidung.
Sie bedeckte seine gesamte Arme und Beine und war dunkel, vermutlich schwarz. Obwohl sie erahnen ließ, dass der Fremde einen gut trainierten und muskulösen Körper besaß, so war er im kahlen Mondlicht kaum mehr als ein Schemen.
Ein weiterer Grund für diesen Eindruck mochte sein, dass er Handschuhe und hohe Stiefel trug. Fast wirkte es so, als wolle er möglichst wenig von sich preisgeben. Die Finger beider Hände schienen jedoch recht lang und eher schmal zu sein; zumindest ließ die Form des dünnen Leders darauf schließen.
Am ungewöhnlichsten war jedoch eine Art Cape, welches über seine Schultern ruhte und ein dunkles Emblem trug, das in frappierender Weise an das des Comichelden „Superman" erinnerte. Die gleiche Form und das bekannte „S". Allerdings war der Buchstabe etwas kleiner, so dass rechts daneben noch Platz für ein großes „V" im gleichen Stil war.
Der Unbekannte wirkte daher eher wie jemand, der auf dem Weg zu einem Kostümball war. Dazu schien jedoch seine bedrückte Miene nicht zu passen – überhaupt wirkte er viel zu ernst, als dass er unterwegs zu einer Veranstaltung war, die Heiterkeit und ein allgemeines Besäufnis zum Ziel hatte.
Nach weiteren Minuten bewegungslosem Ausharrens kam endlich Bewegung in den Dunkelgekleideten. Als hätte ihm jemand einen Startschuss gegeben, löste er seinen Blick und langte nach dem Gegenstand, welcher neben ihm lag. Ohne zu Zögern zog er sich den Strumpf, den er nun in der Hand hielt, über seinen Kopf.