VERGANGENHEIT
„Mein Bruder! Er steht draußen vor der Tür" brummte Francesco Cattaneo ungehalten.
„Was?" rief Hubert perplex. „Wie kannst du..."
In diesem Augenblick ertönte die Türklingel.
Der Blonde warf seinem Freund einen liebevollen Blick zu. „Zieh dir lieber was über. Auch wenn Marco nicht auf Männer steht, so gefällt mir der Gedanke nicht, dass ER dich so nackig sieht. Dieses Privileg gehört nur mir". Er gab dem anderen noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange, ehe er sie hinüberrollte und rasch aus dem Bett stieg.
„Un momento"
Der Italiener öffnete hastig seinen Kleiderschrank und griff nach einem Frottier- Bademantel, in den er schnell hineinschlüpfte. Mit einem leisen Seufzen verknotete er den Gürtel und ging aus dem Schlafzimmer. Er schloss die Türe hinter sich und schlurfte über den Flur.
Schon konnte Hubert die Stimme von Marco hören. Irgendwelche italienische Wörter wurden in schneller Abfolge ausgesprochen. Ein langsameres Sprechen hätte dem Deutschen jedoch auch nicht geholfen, da er leider kein Wort dieser Sprache kannte. Außer vielleicht das, was jeder Möchtegern- Tourist so konnte: Pizza Funghi, Mille grazie, Prego, Buona sera oder Arrivederci.
Während er nun seinerseits aus dem Bett kroch und sich beeilte, seine Klamotten von gestern wieder anzuziehen und mit der Hose anfing, kam ihm unwillkürlich das Bild von Mario in den Sinn: typisch Italiener, typisch Hetero, ein wenig südländischer Macho. Zumindest in seinen Augen. Vielleicht war er diesbezüglich auch überempfindlich und die Frauenwelt sah das etwas anders. Oder sie standen sowieso auf so ein Gebaren. Wer wusste das schon so genau. Auf jeden Fall verstanden sich beide Brüder vorzüglich, so unterschiedlich sie auch waren. Und auch Hubert konnte Marco gut leiden.
Gemeinsam der beiden Brüder war diese Panik vor der Sonne. Ein Urlaub am Meer mit Francesco – undenkbar. Er wurde nicht müde zu behaupten, dass seiner Haut der Pigmentstoff fehlte und er deshalb überhaupt nicht braun wurde. Und das war in der Tat so – sein Freund war immer käsig weiß und besonders im Sommer fielen sie auf, wenn sie abends unterwegs waren. Genau das gleiche beim anderen Cattaneo – die gleiche Leier, die gleiche Phobie, die gleiche ungesunde Hautfarbe.
Aber irgendwie biss sich doch da auch die Katze in den Schwanz, wenn man jegliche Sonneneinstrahlung mied wie der Teufel das Weihwasser, dann konnte der Mensch auch keine Farbe bekommen, oder?
Während Hubert nun seinen Hals im den Kragen seines T-Shirt steckte, dachte er weiter über die beiden Italiener nach.
Besonders bei Mario, aber auch bei seinem Partner spürte er manchmal etwas Fremdartiges, was ihn beunruhigte. Etwas hinderte ihn aber daran, es offen anzusprechen, obwohl das sonst nicht seine Art war. Deren Ausstrahlung war manchmal seltsam fremd, fast raubtierhaft oder bedrohlich. Immer nur für einen kurzen Augenblick. Ein seltsamer Glanz in den Augen und eine spürbare lauernde Anspannung, die plötzlich kam und ebenso schnell wieder verschwand.
Hubert schüttelte den Kopf. Eindeutig falscher Zeitpunkt, um jetzt darüber nachzudenken. Er zog sich noch als letztes die flauschigen Socken über und beeilte sich, zu den anderen rüberzugehen.
Kaum hatte Marco ihn entdeckt, grinste er ihn frech an. „Oh, hallo, Huberta".
Es war deutlich zu sehen, dass er großen Spaß an seinem „Running Gag" hatte. Die anderen Männer jedoch weniger.
„Hör auf" fauchte sein Bruder. „Wie oft muss ich dir noch sagen, dass Hubert mein Mann ist, nicht meine Frau!".
Marco hob beschwichtigend die Hände. "Tut mir leid. Ich wollte keinen verärgern. In Ordnung, Hubert?"
Dieser wunderte sich, dass der Italiener so schnell klein beigab. Das war nicht unbedingt typisch für ihn, aber vielleicht hing es mit dem Gespräch zusammen, die die beiden gerade geführt hatten.
„Schon okay". Im Prinzip konnte er ihm nicht böse sein. „Vergiss einfach zukünftig ‚Huberta', wie wäre das?"
„Ich versuche es" versprach der andere, ehe er zögernd fortfuhr: „Ich bin froh, dass mein Bruder dich gefunden hat. Du tust ihm gut. Er ist viel ruhiger geworden, seit er dich kennt".
„Ach was, glaub ihm nicht alles, was erzählt" wimmelte Francesco ab. „Der jüngste der Cattaneos ist nur unheimlich neugierig, eine alte Tratschtante dazu und will sich außerdem von seinem Liebeskummer ablenken".
Hubert sah, wie der Schwarzhaarige heftig den Kopf schüttelte. Dabei fiel ihm eine Haarsträhne ins Gesicht, die er energisch beiseite schob. Zu heftig diese Reaktion für seinen Geschmack.
Die Ablehnung seiner Angebeteten schien Marco mehr zuzusetzen, als er zugeben wollte. Zumindest war das Huberts Vermutung. Er hatte sehr wohl mitbekommen, wie der Bruder immer und immer wieder versuchte, bei Ivonne zu landen, und nicht wirklich weiterkam. Fast konnte er ihm ein wenig leid tun.
„Ich sagte dir ja schon, warum ich vorbeigekommen bin" verkündete ihr Gast, während er sich an Francesco wandte, ohne auf den kleinen Seitenhieb einzugehen. Eine etwas abrupte Art und Weise, das Thema zu wechseln.
Auf den fragenden Blick von Hubert erklärte sein Liebhaber: „Mein Vater möchte uns beide sehen. Also mich und Marco".
„Und dafür schickt er ihn her? Wieso ruft er nicht einfach an?"
„Der alte Herr ist etwas eigen, wie ich dir gegenüber ja schon öfters angedeutet habe. Von der modernen Technik hält er nichts" erklärte ihr Besucher.
„Aber ein Telefon wird er ja wohl haben"
„Haben heißt nicht benutzen" seufzte sein Gesprächspartner. „Solche Dinge pflegt Vater persönlich mitzuteilen, und er wusste ja, dass ich ihn gestern besuchen wollte. Glaubt mir, ich habe weiß Gott besseres zu tun, als euch bei eurem morgendlichen Tête-à-Tête zu stören". Er drehte seinen Kopf zu Francesco und erklärte: „Aber er möchte uns beide schon heute Abend gegen sechs Uhr sehen, Bruder".
„Hat er gesagt, um was es geht?"
„Nein, aber ich denke, das übliche".
„Was ist das denn?" wollte Hubert neugierig wissen.
„La famiglia, mein lieber Deutscher. Er möchte unbedingt Großvater werden und sorgt sich um den Fortbestand unseres ... Blutes. Er wird uns wieder den ganzen Abend in den Ohren liegen und darauf drängen, endlich zu heiraten und Nachwuchs zu zeugen".