Die Tage mit Tiger verstrichen wie ein Traum. Er verbrachte viele davon bei uns, da er es nicht wagte, mich als seinen Freund zu seinen Gasteltern mitzunehmen. Er wollte ihnen damit nicht zur Belastung werden. Meine Eltern hingegen gewöhnten sich schnell an den Dauergast, der problemlos bei mir übernachten durfte. Denn nur bei mir konnten wir zusammen sein.
Und das taten wir. Ich kostete jede Sekunde mit ihm aus und hätte mir nicht zu träumen gewagt, dass Liebe so sein könnte. So heiß, süß, aufregend, atem- und schlafraubend. Irgendwann war es so natürlich, mich ihm nachts hinzugeben und morgens an seiner Schulter aufzuwachen, dass ich schreckliche Angst bekam, was mit mir werden würde, wenn er erstmal wieder in London wäre. Ich schob diesen Gedanken weit von mich, doch wurde förmlich mit der Nase darauf gestoßen, als in der Schule das Theater losging und die Mädchen anfingen, rosa Krimskrams zu basteln und noch mehr zu tuscheln als eh schon.
Der Valentinstag stand vor der Tür! Wir hatten schon Februar! Tigers Zeit hier lief ab.
Diese Erkenntnis traf mich so hart, dass mir schlecht wurde.
»The end is near, hm?«, murmelte er, als er sah, wie blaß ich wurde. Ich konnte ihn nicht ansehen, ich hätte sonst losgeheult. Da aber niemand in der Schule wirklich wusste, was zwischen ihm und mir tatsächlich lief, wollte ich es darauf nicht ankommen lassen. Die Fragen wollte ich mir ersparen. Eine Tatsache, die mich nach wie vor überraschte. Ich hätte damit gerechnet, dass Lilli ihre Tratschklappe in ihrer Stufe deswegen aufreißen und über uns abziehen würde, aber scheinbar war es ihr zu peinlich, einen Schwulen als Bruder zu haben, dass sie lieber schwieg. Für Tiger und mich war das umso besser. Nur Charlotte wusste Bescheid und sie deckte uns, wann immer es nötig wurde.
»Das ist so unfair...«, presste ich zwischen den Zähnen hervor und er legte unter dem Tisch seine Hand auf meine.
»Imagine, I would be an american... so it’s just London. I’ll come and visit you during Easter holidays, if you want me to.«
Ich wandte nun doch meinen Blick und hätte ihn nur zu gern geküsst. Doch wir saßen im Klassenzimmer und es gab zuviele Zeugen.
»Nein! Ich will dich nicht nur in den Ferien...«
Er lächelte und drückte meine Hand. Seine Augen sahen wie geschmolzener Honig aus, als würde es ihm ebenso nahe gehen, nur dass er nicht jeden Moment zu heulen anfangen würde.
»Me too. I wish I could just take you with me.«
Seufzend ließ ich mich an die Stuhllehne sinken und starrte an die Decke. Es würde uns nichts übrig bleiben, als eine Fernbeziehung über den Kanal zu führen und uns in den Ferien zu sehen. Doch hatte sowas eine Zukunft? Konnte das gutgehen, wenn man sich wochenlang nicht sah? Tiger war Londonner, er lebte in einer Stadt am Puls der Zeit. Er konnte jeden Tag soviele neue Leute kennenlernen wie ich in 10 Jahren in dem Kaff, in dem ich lebte. Was bildete ich mir ein, in seiner Welt zu sein?
»I love you, you know.«, hörte ich ihn flüstern und zog die Mundwinkel hoch. »So I’ll do whatever it takes to keep you in my life.«
In dieser Nacht fiel es mir nicht so leicht, unbeschwert an seiner Seite einzuschlafen. Stattdessen marterte mich mein Hirn mit den Zukunftsvorstellungen, wie es ohne ihn sein würde. Langweilig, grau, lieblos, ohne Lachen und kalt. Mein Bett kam mir mittlerweile schon unerträglich groß vor, wenn er mal eine Nacht zuhause schlief und nicht hier war.
Der verdammte und verhasste Valentinstag fiel auf einen Freitag und so war die Schule in heller Aufregung deswegen. Überall sah man sie, die mutigen Mädchen, die versuchten, ihrem Schwarm aus der Oberstufe oder einer anderen Klasse etwas zuzustecken. Der Brauch, jemandem Schokolade zu schenken, den man mochte – wie es in Japan üblich war – verbreitete sich auch zunehmend an unserer Schule. Meine Laune war im Keller, denn Ende Februar begannen die Winterferien, was bedeutete, das Halbjahr endete und Tiger würde im nächsten Flieger nach London sitzen.
»Stop making this Grinchface. Where is my beautiful Bunny?«, hörte ich Tigers Stimme an meiner Seite. Er griff nach meinem Arm und zog mich in einen leeren Gang. Dort küsste er mich wie damals in der Umkleide, hart und fordernd. Ich seufzte und spürte sofort, wie mein Körper in Flammen stand. Doch meine Vernunft war stärker.
»Was tust du?«, keuchte ich und sah mich hektisch um. Er hob mein Kinn an, damit ich ihn ansah.
»Stop whining. I won’t leave just because I go back home. We’re Tiger and Bunny, two naturally antagonized critters, which became friends and lovers, ok?«
Ich nickte und drückte meine Nase an seine Schulter. Tiger und Hase – Feinde, die zu Liebenden wurden. Ein albernes und kitschiges Bild von ihm und mir und dennoch gefiel es mir.
»But that’s not what I wanted. I got this for you...« Es geschah einer der seltenen Momente, in denen Tiger errötete und nicht ich, als er die kleine Schachtel aus der Tasche zog und mir in die Hand drückte. Verwundert öffnete ich sie und zum Vorschein kam ein kleiner Anhänger, vielleicht so groß wie der Nagel meines Mittelfingers, an einer silbernen Kette, die mir locker bis auf die Brust fallen würde.
»I know that’s completely foolish, because you‘re a boy and such a silly pendant is more of girlie stuff, but... I wanted you to always carry your tiger with you.«, stammelte er so undeutlich, dass ich mich derart auf sein Gerede konzentrieren musste und im ersten Moment vergaß, mir den Anhänger anzusehen. Es war ein kleiner Tiger im japanischen Comicstil.
»I have my own Bunny with me, you see?« Er öffnete den Reißverschluss seiner Kapuzenjacke und tatsächlich baumelte vor seiner Brust und dem dunklen Shirt deutlich ein ebenso großer Anhänger mit einem Kaninchen. Ich blickte überrascht von dem Anhänger in meiner Hand zu seinem und dann in sein Gesicht. Er war rot um die Nase und sah sehr unsicher aus, etwas, dass ich von ihm gar nicht kannte.
»Will you be my Valentine?«, flüsterte ich deswegen und er nickte lächelnd, trat einen Schritt an mich heran und küsste mich, ohne Rücksicht darauf, ob uns jemand sah oder nicht. Den Rest des Schultages verbarg ich den kleinen Tiger sicher unter meinem Pullover.
Wer kennt es nicht, dass die Zeit zäh wie Kaugummi ist, wenn etwas nervt, aber wie Wasser rinnt, wenn man glücklich ist.
Der letzte Schultag und die Zeugnisausgabe war der schwärzeste Tag in diesem noch jungen Jahr für mich und ich wollte am Morgen gar nicht erst aufstehen. Tigers Rückflug nach London ging tags drauf schon vormittags und deswegen würde er diese letzte Nacht nicht bei mir schlafen. Man kann sich sicher vorstellen, dass er und ich demnach unsere letzte gemeinsame Nacht in vollen Zügen ausgekostet hatten. Insgesamt hatten wir beide vielleicht 2 Stunden geschlafen, weil keiner genug bekommen konnte vom anderen. Ich konnte mich vor Muskelkater kaum rühren, doch jedes Ziehen, jedes Zwicken war eine köstliche Erinnerung an zuvor erlebte Freuden, sodass ich alles klaglos in Kauf nahm. Tiger war hundemüde und wirkte erst nach einer kalten Dusche wie ein richtiger Mensch, doch auch er beschwerte sich nicht. Nach einem Katerfrühstück bestehend aus einem Buttertoast und einer Tasse extrastarkem Kaffee schlichen wir zur Schule.
Meine Eltern hatten sich bereits an diesem Morgen von Tiger verabschiedet und meine Mutter hatte sogar ein paar Tränchen in den Augen, denn sie hatten ihn ins Herz geschlossen. Sogar Lilli hatte für einen Moment ihre Abneigung abgelegt und ihm in mehr schlechtem als rechtem Englisch eine gute Heimreise gewünscht.
Wir hatten nur noch diesen Tag zusammen. Die Schule würde nach der zweiten Stunde aus sein und dann wollten wir irgendwas unternehmen, spazieren gehen, irgendetwas, bei dem wir noch ein letztes Mal allein sein würden.
In Sichtweite der Schule griff Tiger plötzlich nach meiner Hand und ließ sie nicht mehr los. Ich sah ihn verwundert an, doch er zwinkerte mir zu.
»Tired to hide us, that’s all«, beantwortete er meinen Blick knapp und wir betraten den Schulhof. In der Tat erzielte seine Aktion den gewünschten Effekt, dass ziemlich viele Köpfe rumgingen.
»Du weißt schon, dass ich nach den Ferien immer noch auf diese Schule gehe, oder?«, murmelte ich und merkte, dass ich unter den vielen neugierigen Blicken leicht errötete. Er lachte und zog mich etwas an sich.
»Das haben sie in zwei Wochen wieder vergessen, believe it.« Ich lächelte. Er hatte Recht. Unsere Stunden waren gezählt, da wollte ich keine einzige davon mehr mit Theaterspielen verschwenden. Unter den Tuscheleien der Mädchen und dem angefressenen Blick meiner Schwester, die ich in der Raucherecke entdeckte, betraten wir das Schulhaus, begaben uns zu unseren Klassenraum und trafen auf Charlotte. Diese lächelte.
»Oha... ist es jetzt offiziell?«
Tiger grinste. »Das war es all die Zeit. Nur nicht für alle zum Sehen.« Wie um das zu unterstreichen, zog er mich leicht an sich ran, beugte sich rüber und drückte mir einen hörbaren Schmatzer auf die Lippen. All die Mädchen, die vier Monate lang versucht hatten, bei ihm zu landen, starrten uns an wie Aliens mit 4 Köpfen, 7 Beinen und einem Arsch als Gesicht. Dieser Blick – der war unbezahlbar. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich plötzlich wohl und war stolz, dass dieser begehrte Typ der Junge an meiner Seite war und nicht an einer von den Mädchen.
»Freust du dich auf zuhause, Charlotte?«, fragte ich sie, um mich von den starrenden Hexenfratzen abzulenken, die sich in den anderen Gesichtern bildeten.
»Yes. And no. I’ve made some brilliant friends here. Ich werde euch alle so vermissen«, antwortete sie mit einem eher traurigen Gesichtsausdruck. Tiger nickte, denn ihm ging es natürlich ähnlich. Nur hatte Charlotte sich in der Zeit nicht auch noch verliebt.
Frau Schütz kam mit unserem Klassenlehrer angewatschelt und in den nächsten 45 Minuten ließen wir alle Momente mit unseren beiden Austauschlern Revue passieren, Fotos aus AG’s gingen herum, an denen sie mal teilgenommen hatten und es wurde reichlich gelacht. Sie hatten sich gut eingelebt. Eines der Themen war die Wendung bei Tiger und mir und so sagte er noch einmal vor der versammelten Klasse, dass er schwul sei und es auch schon war, als er hier ankam. Das ersparte mir die bösen Blicke dennoch nicht. Es standen wohl nicht alle wie Emilia auf Yaoi.
Mit unseren Zeugnissen und Tiger mit einigen Kleinigkeiten bepackt, die ihm die Klasse zum Abschied geschenkt hatte, verließen wir das Schulgebäude in weitere Ferien, die wir nicht zusammen verbringen konnten.