Die Winterferien endeten, ohne dass sich etwas geändert hätte und auch die Osterfeiertage kamen und gingen.
Ich hatte die Hoffnung, dass Tiger sich melden würde, aufgegeben. Ich hatte auch aufgehört, an irgendeine abwegige Möglichkeit zu glauben, die es ihm unmöglich machte, Kontakt zu mir aufzunehmen.
Ich dachte in meiner verblendeten Hoffnung daran, dass ihm etwas hätte passiert sein können, dass das Flugzeug entführt worden wäre oder schlimmer noch – abgestürzt. All das schob ich nun beiseite und stellte mich der unvermeidlichen Wahrheit. Er hatte mich belogen und ausgenutzt.
Ich bemühte mich, ihn zu vergessen und versuchte, aus meiner Liebe Hass werden zu lassen. Doch das war leichter gesagt als getan.
Und so versuchte ich, einfach nicht daran zu denken. Ich löschte die Fotos von meinem Handy – alle bis auf eines. Ich konnte es nicht. Mein Finger blieb steif über der Löschen-Taste schweben und rührte sich kein Stück. Mein Herz war noch nicht so weit.
Noch schaffte ich es nicht, sein lachendes Gesicht ganz aus meinem Leben zu verbannen.
5 Wochen hatte ich nichts von ihm gesehen oder gehört. 5 Wochen, die mich dem Wahnsinn näher gebracht hatten als dem Leben. 5 Wochen, von denen ich 4 wie ein Geist in der Schule saß.
Von meinen Mitschülern hatte nur einer nach Tiger gefragt, aber von mir keine Antwort erhalten. Mein Verhalten, mein Desinteresse und meine Trauermiene mussten ihnen als Erklärung genügt haben.
Ich ging nur zur Schule, um mich von der Stille zuhause abzulenken. Stille bedeutete Zeit zum Nachdenken und nachgedacht hatte ich beileibe wirklich genug.
Ich schlief schlecht, wachte immer wieder nachts auf und suchte nach ihm. Griff nach meinem Handy, weil der Nachhall eines Traumes mir vorgaukelte, es hätte geklingelt, nur um dann schwarz und unbeachtet zu sein.
Ich zerbrach innerlich, doch nach außen konnte ich es nicht zeigen. Meine Eltern würden mich sonst einweisen lassen.
Und so versuchte ich, normal weiterzumachen. Irgendwie so zu tun, als wäre alles normal. Doch das Essen schmeckte nicht, die erste Frühjahrssonne hatte keine Farbe und erst recht keine Wärme für mich, Lachen klang falsch und misstönend in meinen Ohren, die Fröhlichkeit anderer Leute machte mich aggressiv.
Am liebsten hätte ich niemanden um mich gehabt. Ich hoffte und betete förmlich, dass dieses Gefühl, was mich quälte, endlich nachließ.
Liebeskummer, so nannte es Emily.
Ich litt zum ersten Mal daran und hätte niemals für möglich gehalten, was für eine Qual das sein konnte.
»Wollen wir nicht mal einen kleinen Ausflug machen? Das Wetter soll sehr schön werden dieses Wochenende und ihr habt doch jetzt Osterferien.« Meine Mutter versuchte, die Stimmung beim Abendessen etwas aufzulockern, die leider meinetwegen immer recht gedrückt war. Ich hielt mich aus allen Gesprächen raus, antwortete kaum und aß wie ein Spatz.
»Wir könnten mal wieder in den Kletterpark fahren oder zum Picknicken an den See?« Mein Vater und auch Lilli nickten, doch ich zuckte nur die Schultern.
»Ich habe keine Lust. Fahrt ihr ruhig.«
»Benjamin, so geht das nicht weiter, weißt du? Du verkriechst dich total, wirst immer dünner und siehst blass aus. Meinst du nicht, dass so ein Tag Abwechslung dir gut tun würde?«
Wieder zuckte ich nur die Schultern. Wie hätte ich ihnen sagen sollen, dass es mir nicht um die Aktivitäten ging, die mir nicht zusagten? Sondern, dass ich keinen Bock auf Gesellschaft hatte? Ich wollte allein sein. Ihr Gerede, das Lachen, das Familiespielen nervte mich.
»Na mir egal, was wir machen.«, drückte ich schließlich heraus und stocherte weiter in dem Gemüse herum, das ich sonst immer als Erstes aufaß.
»Aber dann fahren wir an den See, oder? Es soll schon richtig warm werden, hab ich gehört und dann ist es da doch viel schöner als im Wald voller Mücken.« Lilli plapperte, während sie sich immer weiter Essen in den Mund schob und meine Eltern machten ebenfalls Pläne.
Ich hörte kaum zu.
Ein Ausflug an den See im Frühjahr oder Sommer, davon hatte ich geträumt, es mit Tiger zu unternehmen. Ich hatte mir in meiner verknallten Naivität vorgestellt, wie toll er in einer Badehose aussehen würde und wie viel besser erst noch, wenn er diese dann ausgezogen hätte.
Ich war so dumm!
»Kann ich hochgehen? Ich möchte nichts mehr essen.« Mein Teller sah so aus, als hätte ich noch gar nichts gegessen und meine Mutter sah mich besorgt an, nickte dann aber.
Meine Mutter hatte Recht. Es konnte tatsächlich nicht so weitergehen und ich bemühte mich sehr, von meinem Emo-Trip runterzukommen, doch wann immer ich ein Lachen hörte oder gar ein knutschendes Liebespaar sah, wollte ich eine Axt mitten reinwerfen.
Seufzend machte ich mich auf meinem Bett lang.
Auf einen Familienausflug hatte ich ungefähr so viel Bock wie auf Zähneziehen, doch meine Mutter würde mich morgen eigenhändig aus den Federn ziehen und mich vielleicht zum Wachwerden auch noch unter die Dusche stellen. Ich musste mich wohl oder übel fügen. Ich zog mir meinen MP3-Player ran und setzte die Kopfhörer auf. Seit Tiger mir gesteckt hatte, dass er als Kind Fan der Backstreet Boys war, hörte ich diesen Boyband-Mist wirklich hoch und runter. Ein Wunder, dass mein MP3-Player, der sonst etwas rockigere Sachen spielte, nicht schon in den Streik getreten war.
Ich merkte nicht, dass ich einschlief. Auch nicht, dass meine Mutter in der Nacht noch einmal ins Zimmer gekommen sein musste, um mir die Kopfhörer abzunehmen und mich zuzudecken, doch als ich am Morgen erwachte, fand ich alles genauso vor.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es gerade 8 Uhr war. An einem Samstag war das sehr früh in diesem Haus und selbst meine Eltern waren da noch nicht auf den Beinen. Lilli eh nicht. Die schlief bis Mittag, wenn man sie nicht weckte.
Verkatert und frierend stand ich auf, um zu duschen. Meine Mutter würde mich ohnehin nicht zuhause bleiben lassen, da konnte ich mich also ebenso gut menschlich herrichten. Seit dem kleinen Abenteuer, was Tiger und ich in der Dusche hatten, bemühte ich mich immer, schnell fertig zu werden. Ich wollte nicht zu lange darin bleiben. Ein ebensolcher Graus war mir zu Anfang mein Bett. Doch ich konnte ja schlecht auf dem Boden schlafen.
Erste Geräusche drangen aus der Küche und der Duft von Kaffee war zu riechen. Im Bademantel verließ ich das Zimmer.
»Morgen«, murmelte ich und entdeckte meine Mutter, die scheinbar einen Frühstücksteig anrührte.
»Guten Morgen, Schatz. Möchtest du Pfannkuchen?« Meine Mutter war so eine Glucke. Doch ich nickte. Ich hatte Appetit auf die leckeren Frühstückspfannkuchen und die würden mich auch von innen wärmen. Mir einen Kaffee eingießend stellte ich fest, dass wir noch allein waren.
»Die hol ich gleich aus dem Bett. Ich möchte vor Mittag zum See fahren. Schau mal, es scheint sogar jetzt schon die Sonne.« Die gute Laune meiner Mutter am Morgen war anstrengend und ich gähnte.
Während ich mit dem Pfannenwender bei den Eierkuchen stehen blieb und Frühstück machte, trabte meine Mutter los und weckte sowohl meinen Vater als auch meine verpennte Schwester mit rigoroser Art. Mir kam latent der Vergleich, dass sie etwas von einem Rhinozeros hatte – und das nicht, weil sie ein bisschen runder um die Hüften war.
»Maaaaann, ein bisschen länger hättest du mich schon schlafen lassen können... es is‘ ja noch nich‘ ma‘ Neun!«, nörgelte Lilli und strich sich die wirren Haare aus dem Gesicht. Mein Vater war es aufgrund seines Jobs gewöhnt, pünktlich aufzustehen. Der hatte bereits lesend im Bett gelegen und noch etwas gedöst.
»Lass die Pfannekuchen ja nich‘ anbrennen, Benny«, ermahnte Lilli mich und ich klatschte einen der Besagten auf einen Teller.
»Entweder du isst, oder du hungerst, verstanden?« Ich schob ihr den Teller hin und goss neuen Teig in die Pfanne. Sich aufregen, dass sie noch pennen wollte, aber essen, das ging immer.
Nachdem alle mit Pfannkuchen versorgt und gesättigt waren, begann meine Mutter wieder, zu scheuchen. Sie wollte ein paar Sandwiches für das Mittagessen am See machen und wir sollten uns in der Zwischenzeit anziehen und fertigmachen.
Da ich schon geduscht war, schlüpfte ich in meinem Zimmer nur in Jeans, Shirt und einen Pullover. Während ich das tat, strich das kleine Pendant, was Tiger mir zum Valentinstag geschenkt hatte, über meine nackte Brust.
Der kleine Manga-Tiger war ein Talisman und so sehr ich verletzt war wegen dem, was der echte Tiger mir offenkundig angetan hatte, ich konnte es nicht ablegen. Ich trug es immer, sogar zum Duschen und Schlafen. Meine Finger schlossen sich um das grinsende Tierchen und einmal mehr stach mich mein Herz.
Tiger fehlte mir und nach all der Zeit, die nun vergangen war, wünschte ich mir noch immer nichts sehnlicher, als ihn wiederzusehen, seine Stimme zu hören, seinen Duft zu riechen.
Schwer atmend straffte ich den Rücken und zog den Pulli über den Kopf. Heulen konnte ich mir gerade gar nicht leisten. Ich hatte keine Lust, Lilli wieder einen Anlass zum Spott zu geben. Denn auch wenn sie sich damals entschuldigt hatte für ihre Stänkereien, hieß das nicht, dass es maßgeblich besser geworden war. Für sie war ich immer noch nur ein kleiner Homo, der es gern mit Männern trieb.
Meine Mutter wuselte in der Küche und schien für eine ganze Kompanie Mittagessen machen zu wollen, während Lilli in ihrem Zimmer Radau machte und mein Vater im Bad gerade seinen Bartstoppeln auf den Leib rückte.
Ich hockte mich auf die Sofalehne und blätterte lustlos in einer Illustrierten. Es konnte sich nur noch um Stunden handeln, ich kannte das schon.
»Lilliana, jetzt werd‘ endlich fertig, Mensch. Wie lange dauert das denn noch?«, zeterte meine Mutter schließlich doch, als wir alle bereits – mal wieder – nur auf das kleine Prinzesschen Pummelfee warteten.
»Passt das Shirt besser zu der Hose?«
Mir ging ein Licht auf. Am See gab es einen Ruderclub und diesem gehörte auch Lillis Schwarm Roman König an. Sie hoffte, ihn zu sehen und machte deswegen so einen Aufstand. Meine Mutter klatschte ihr schließlich ein Shirt hin, das sie dann auch wirklich anzog.
»Dann kann es ja losgehen. Dirk, nimm den Korb, der ist schwer. Benny, ab mit dir.« Sie schob uns alle nach draußen in den wirklich warmen Sonnenschein. Ich trat auf die Straße und wartete, dass mein Vater aus der Einfahrt fuhr, während Lilli schon eingestiegen war und meine Mutter das Garagentor schloss.
Ich achtete nicht darauf, ob Leute auf dem Gehweg standen und hörte deswegen im ersten Moment auch die Stimme nicht, die mich ansprach. Bis ich verstand, wie sie es tat.
»Bunny?«