Septembertag
Ich kann mich noch gut erinnern an die Zeit im September. Im Vorschulalter lebte ich die Woche über bei meinen Großeltern, da meine Eltern beide berufstätig waren. Ich liebte es, wenn morgens leichter Nebel aufzog und die Welt für ein paar Stunden in Watte packte. Ein Tag im September war immer etwas Besonderes. Es war der Tag, an dem ich Geburtstag hatte. Ich war immer ganz aufgeregt und fieberte diesem Tag entgegen. Morgens trafen wir (Opa, Oma und ich) uns in der Wohnküche, einem umfunktionierten Kinderzimmer, in dem das Leben stattfand. Hier wurde gegessen, geredet, gespielt, gelebt und gelacht und manchmal auch geweint. Aber solche Tage waren selten. Wenn ich genau überlege, kann ich mich an keinen einzigen erinnern.
Auf meinem besonders schön gedeckten Platz am Tisch stand eine brennende Kerze in einem verzierten Kerzenhalter aus Holz, auf dem die Zahl meines neuen Lebensjahres angegeben war. Dahinter auf der Mitte des Tisches stand der obligatorische Geburtstagskuchen. Ein reichlich mit Puderzucker bestreuter Gugelhupf, der mich schon am frühen Morgen reizte und für den meine probierfreudigen kleinen Finger sich manchen kleinen Klaps einhandelten. Aber er war für den Nachmittag gedacht und durfte nicht angerührt werden. Wie gemein! Ein kleines Geschenk lag auf meinem Teller, hübsch verpackt wartete es darauf, ausgepackt zu werden. Nachdem ich es ausgepackt hatte, kam dann die Krönung des Geburtstagsmorgens. Opa schickte mich, seine Geldbörse zu holen. In einem sich jährlich wiederholenden Ritual fingerte er einen blanken "Fünfer" heraus und schenkte ihn mir mit einem spitzbübischen Lächeln.
Und wenn es mal ganz besonders toll sein sollte, dann bekam ich einen Schein. Ganz neu und wie noch nie benutzt. Den wollte ich dann nicht anbrechen und hütete ihn wie einen kleinen Schatz. Mit dem Fünfmarkstück durfte ich dann nach dem Frühstück an die "Bude" gehen und mir etwas Süsses kaufen. "Bude", so nannten wir hier im Ruhrgebiet die kleinen Kioske, an denen man alles mögliche kaufen konnte. Die ganzen wichtigen Dinge eben: Süssigkeiten, Fußballbilder und Fillipchen für die Kinder. Zigaretten und Bier für die Erwachsenen. Auf dem Weg zur Bude zerteilte ich den Nebel mit der Hand und betrachtete die wehenden Gebilde. Es machte mir grossen Spass. Dann suchte ich mir etwas Hübsches aus, bezahlte und ging wieder zurück.
Am Nachmittag kamen dann die Nachbarskinder aus unserem Haus zum Kakaotrinken und Kuchenessen nach oben zu uns und später gesellten sich meine Eltern dazu. Beim Reflektieren und Aufarbeiten verschiedener Themen aus meinem Leben hatte ich manchmal gedacht, meine Eltern hätten mich "abgeschoben" und ich hatte zeitweise die Tendenz, ihnen dies übel zu nehmen. Heute weiss ich, dass mir nichts Besseres passieren konnte, als diese Zeit bei meinen Großeltern verbringen zu dürfen. Diese Zeit war prägend für mich. Sie war einfach, aber sehr schön.
Und an so einem Tag wie heute im September habe ich dann Opas Gesicht vor Augen. Sein Schmunzeln, seine blankpolierte Glatze, den Fünfer, den Nebel...............lange her, aber das Gefühl von damals ist noch so präsent, dass ich meine, den Fünfer in meiner Hand zu spüren....
Tolkien