Das erste Mal, als ich sie sah, hat sie auf einer von allen anderen vergessenen Bank am Rande des Parks gesessen. Ihr Blick war stur dem Boden vor ihren Füßen zugewandt, die Haare, die die Farbe von Almendrillo hatten, fielen in sanften Wellen wie ein Vorhang in ihr Gesicht, der sie vor den Augen neugieriger Fremder schützte. Nur durch den schmalen Spalt, wo der Scheitel den dunkelbraunen Samt teilte, habe ich ihr Antlitz wage erahnen können. Bis heute stelle ich mir die Frage, was sie dort eigentlich, über diese lange Zeitspanne hinweg, so angespannt betrachtet hat. Hat sie etwa den, durch den immer wiederkehrenden Nieselregen und dichten Nebel schlammig gewordenen, Boden unter all den bereits gefallenen Blättern gesucht? Oder einen tieferen Sinn in all den schillernden, so einzigartigen Farbvariationen gesehen, den es nun zu ergründen galt?
Was auch immer ihren Blick so gefesselt haben mag, ist heute vollkommen belanglos. Nur aus einem Grund ist es mir ihre Blickrichtung in Erinnerung geblieben - sie hat mich dazu gebracht, den ersten Schritt zu tun. Hätte ich schon zu diesem Zeitpunkt gewusst, wie alles enden würde, hätte ich sie wohl links liegen gelassen und wäre meines Weges gegangen. Zumindest rede ich mir dies tagtäglich ein. Vermutlich würde ich alles noch einmal genauso machen. Einfach um mich meiner törichten Faszination noch ein weiteres Mal voll und ganz hingeben und den Dingen ihren Lauf lassen zu können, ohne über jede Handlung und deren Konsequenz nachdenken zu müssen.
Sie hat einige Momente achtlos verstreichen lassen, ehe sie sich meiner Anwesenheit gewahr zu werden schien und ihren Blick von der einfachen Schönheit des Herbstes löste, um sich mir zuzuwenden. Für den Bruchteil eines Augenblicks fürchtete ich, sie würde mich, gereizt von meiner voreiligen Annäherung, aus ihrem Ein-Mann-Universum verbannen und nie wieder dorthin zurückkehren lassen. Wer würde es ihr verübeln? Schließlich war ich nur ein Fremder, die sich ohne einen Anflug von Höflichkeit auf ihre Bank, genauer noch direkt neben sie, gesetzt hatte und nun dreist ihre Aufmerksamkeit forderte.
Doch dieses seltsame Mädchen schaute mich einfach nur an, ohne auch nur ein Wort an mich zu verlieren. Unverwandt und beinahe wissend ruhte ihr Blick aus großen leeren Augen auf mir, ohne dass sie auch nur einmal - meiner nicht allzu genauen Beobachtungsaufgabe nach - blinzelte. Es war kein unangenehmes Starren, das deine Haut jucken und dein Herz flattern ließ, wie es in so vielen anderen Situationen der Fall gewesen wäre. Jeder andere Mensch, der mich auf diese unnachgiebige Weise angestarrt hätte, hätte mich schnellstmöglich aus dieser Szenerie flüchten lassen. Doch dieses Mädchen hielt mich mit ihren Blicken gefangen, die schamlos nach meinem Innersten zu fahnden schienen, um eben dieses aus meinem Körper reißen und genauestens analysieren zu können. Gelang es ihr? Kannte sie mich bereits, als wären wir seit Jahren befreundet, ohne dass ich auch nur ein Wort mit ihr gewechselt hatte?
Das von leuchtendem Grün durchzogene Karamellbraun ihrer Augen wurde von dem fahlen Sonnenlicht an diesem allzu herbstlichen Nachmittag entzündet, so dass sie mich regelrecht zu blenden schien. Für den Rest ihres, nun nicht mehr durch ihre dunklen Haare verdeckten, Gesichtes hatte ich keinen Blick mehr. Wie könnte ich es auch wagen, mich einfach von diesen strahlend leeren Augen, die dennoch wirken, als würden sie zu viel verbergen müssen, abzuwenden, die mich so sehr in ihren Bann zogen und mich zu verschlingen drohten?
Jegliches Zeitgefühl schien schlagartig zu schwinden. Es hätten ganze Jahrzehnte oder doch nur wenige Sekunden vergehen können - es spielte keine Rolle. Dies war das erste Mal in meinem Leben, dass ich den Blickkontakt mit einem mir gänzlich unbekannten Menschen über so lange Zeit hinweg aufrecht erhalten konnte, ohne zum Wegschauen gezwungen zu werden. Menschen direkt ins Gesicht blicken zu müssen, war eine Qual für mich, die jedes Mal mit einem gewaltigen Maß an Scham und Unbehagen verbunden war. Doch nun kam dieses Mädchen daher und fesselte mich mit ihren so faszinierenden Augen, als wäre ich nur eine wehrlose Fliege in ihrem endlosen Spinnennetz. War sie ebenso gebannt von mir wie ich von ihr? Wohl kaum - schließlich sah sie nur eine Person mit langweiligen blaugrauen Augen und hellen chaotischen Haaren vor sich. Warum also dauerte dieser eine Moment, in dem wir einfach nur den jeweils Anderen anblicken, solch eine Ewigkeit an?
Sie war die Erste, die leichtfertig diesen Kontakt unterbrach und ihre Aufmerksamkeit wieder dem Boden zuwandte. So oft habe ich mich rückblickend gefragt, warum sie dies tat und beschloss, meine Anwesenheit einfach wieder aus ihrem Bewusstsein zu streichen. Ich war überzeugt davon, dass sie zu diesem Zeitpunkt das Interesse an mir und dieser bisher still verlaufenden Begegnung gänzlich verloren hatte. Selbst jetzt kann ich von diesem Gedanken noch nicht recht ablassen, auch wenn sie mir einige Zeit später in einem Brief, gebeichtet hat, dass sie diese Situation als ebenso irritierend empfand und uns beide durch ihre Reaktion befreien wollte. Sie ist solch einfühlsamer Mensch gewesen. Doch auch diese Offenbarung kann mich nicht davon abbringen, ihr so abruptes Wegschauen noch immer als mein persönliches Versagen zu betrachten.
So verging wieder einiges an Zeit, in der wir nur nebeneinander her existierten, als würden ganze Welten und nicht nur wenige Zentimeter zwischen uns liegen. Sie starrte zu Boden und ich in den Himmel, als würde ein jeder von uns versuchen, Antworten auf die unzähligen Fragen, die unsere Gedanken einnahmen, in vollkommen verschiedenen Richtungen zu suchen. Jede einzelne Wolke, die an mir vorüberzog, wurde von mir genauestens inspiziert, als könnte mir auch nur eine von ihnen offenbaren, wie all dies enden würde. Doch das Himmelszelt bewahrte stures Schweigen, ebenso wie die Erde unter unseren Füßen, womit weder der Eine noch der Andere fand, wonach er ursprünglich gesucht hatte.
Ebenso, wie das Mädchen als erste die Kontrolle über sich und die Situation erlangte, war sie auch diejenige, die dieses elende Parallelspiel unterbrach, ohne auch nur ein einziges Mal aufzublicken. »Du fragst dich sicherlich, wer ich bin und was ich hier genau mache.« Sie hatte keine Frage, sondern eine nüchterne Feststellung in den Raum geworfen. Dies irritierte mich so sehr, dass all die Worte, die bereits versucht hatten, sich ihren Weg über meine Zunge hin zur grenzenlosen Freiheit zu bahnen, im Keim erstickt wurden.»Nein, ich-«, ist meine viel zu übereilte Reaktion gewesen, die ich nicht einmal imstande war, zu vervollständigen, da ich mich aus einem unerfindlichen Impuls heraus weigerte, sie anzulügen. Natürlich fragte ich mich wer sie war und was sie hier an diesem Ort tat, an dem sie gleichzeitig so deplatziert und doch so perfekt in Szene gesetzt wirkte. Welchen anderen Grund hätte ich sonst gehabt, mich zu einer völlig Fremden zu gesellen?
Sie gab ein nicht definierbares Geräusch von sich. Es hätte sowohl ein verächtliches Schnauben als auch ein belustigtes Glucksen sein können. Verwirrt von diesem einen so simplen Laut blickte ich sie an, doch sie befand es nicht für nötig, sich auch nur im Geringsten zu erklären. Stattdessen erhob sich das Mädchen wortlos und drehte mir den Rücken zu, als wäre ich schon längst aus ihrer kleinen Welt ausradiert worden. »Für dich bin ich Autumn - das Mädchen mit den schönen Augen, das du im Park auf einer Bank hast sitzen sehen.« Bleiern und doch klangvoll wurden ihre so feierlich gesprochenen Worte vom Herbstwind davon getragen und für immer in meinem Gedächtnis verwahrt. So gern hätte ich sie in diesem Moment gefragt, woher sie denn wusste, dass ihre Augen einer der wichtigstens Gründe gewesen ist, dass ich so lange neben ihr sitzen geblieben bin. Doch sie hatte bereits ihre Schlüsse aus dieser einzelnen Begegnung geschlossen und war von dannen gezogen, ohne mir auch nur ein Wort des Abschieds zu hinterlassen. Sie war mir ein Rätsel, von Anfang an. Wieder sollte ich erst später erfahren, dass ihrer so allwissend klingenden Aussage ein einfaches Pauschalisieren zugrunde lag - alle Menschen würden auf diese Weise auf sie reagieren, hatte sie mir gegenüber gemeint.
Noch eine lange Zeit sollten meine Gedanken bei diesem faszinierenden und doch seltsamen Mädchen sein. Dennoch weigerte ich mich ihr nach zu blicken, als sie an diesem Tag verschwand. Ich hätte mich nur wieder einmal selbst angewidert; schließlich hatte ich sie schon viel zu lange mit unverhohlenem Starren gestraft.
Autumn - ob dies wirklich ihr Name war? Viele Eltern tendieren doch heutzutage dazu, sich kreativ in der Identität ihrer Kinder zu verewigen und sie im selben Atemzug zu einzigartigen Geschöpfen zu machen, da Individualität für sie das höchste Gut ist. Der Name passt zu ihren Augen, war jedoch alles, was mir dazu einfiel, während sich ein versonnenes Lächeln auf meine Lippen stahl und ich mich auf meiner nun einsamen Bank zurück lehnte, um erneut dem Himmel entgegen zu blicken.