Wie von selbst trugen mich meine Beine am nächsten Tag wieder in den Park. Geschlafen hatte ich in der Nacht nach unserer ersten Begegnung keine Sekunde lang. Dafür war mein Kopf viel zu beschäftigt gewesen, die schwarz gefärbten Gedanken, die hektisch umher schwirrten und stechende Schmerzen impulsartig durch meine Nervenbahnen jagten, weitestgehend im Zaum zu halten, damit ich auch ja nichts Unüberlegtes anstellen konnte.
Viel zu oft ist mein ruheloser Blick in diesen wenigen Stunden über das, im schwummrigen Lampenlicht düstere Schatten werfende, Inventar meines weitläufigen Zimmers gestrichen und hat das dunkelgrüne Etui gefunden, in dem ich meine Glasscherben für meine mentalen Aussetzer aufbewahrte. Die Möglichkeit, sie einfach zur Hand zu nehmen und meinen ohnehin schon vernarbten Armen neue Wunden hinzuzufügen, ist so überwältigend gewesen. Einen Grund konnte ich beim besten Willen nicht benennen. Vermutlich hatte mich die Begegnung mit Autumn - einem Wesen, das ich zu diesem Zeitpunkt als Sinnbild wahrer Perfektion verstanden habe - doch etwas mehr aufgewühlt, als ich es mir selbst eingestehen wollte.
Doch anstatt meine Haut wieder einmal mit Schnitten der Verzweiflung zu versehen, begann ich zu schreiben - meine Universaltherapie, die mir bisher so gute Dienste geleistet und mich vor noch mehr unnötigen Schmerzen bewahrt hatte. Vollkommen zusammenhanglos und ohne System brachte ich meine schwermütigen Gedanken zu Papier, in der Hoffnung, dass mein Kopf endlich aufhören würde zu dröhnen. Es waren einfach nur lose Worte in Sätzen, die nicht ineinander griffen, sondern achtlos aneinander vorbei redeten, als wäre der andere überhaupt nicht anwesend. Doch sie halfen mir, das Chaos in meinem Kopf zu ordnen - viel besser als Medikamente oder Selbstverletzung es jemals könnten. Dennoch hasste ich im Nachhinein jeden einzelnen Buchstaben, den ich zustande brachte, da sie sich so so grauenvoll falsch anfühlten. Wieder hatte ich ein einst noch so unschuldiges Blatt mit meinen finsteren Gedanken beschmutzt, doch ebenso wenig brachte ich es übers Herz, diese mühsamen Verschriftlichungen kurzerhand zu entsorgen. Schließlich waren sie ein Teil von mir; auch wenn sie mich eher abstießen, als dass sie ein Gefühl der Verbundenheit hervor riefen.
Doch nun saß ich hier, auf derselben Bank wie am Tag zuvor und und ließ unser erstes Treffen noch einmal revue passieren, um herauszufinden, was daran nun so verheerend auf meine geistige Gesundheit gewirkt hatte. Meine Suche verlief im Sande. Rückblickend war dies wohl der erste Anflug närrischer Verliebtheit, der mich Autumn idealisieren und mich selbst für meine zahlreichen Makel hassen ließ, wenn ich versuchte, eine Gemeinsamkeit zu finden. Niemals hätte ich erwartet, dass dieses so schöne Mädchen mich in ihrer Nähe duldete, da ich mich als viel zu wenig empfand, um ihr gerecht werden zu können. Doch sie tat es - bis heute kann ich ihr dafür nicht genug danken.
Zu lange habe ich gebraucht, um sie zu erkennen. Auf dem Geländer der kleinen Brücke, die sich über den Fluss inmitten des Parks spannte, hat sie gesessen und voller Faszination das schwarz wirkende Wasser beim Dahinfließen beobachtet. Bunte Blätter glitten auf der hauchdünnen Oberfläche dahin, als wären sie winzige Schiffchen auf dem offenen Meer. Doch zur gleichen Zeit schien das Mädchen stur ins Leere zu starren, so sehr hing ihr Blick an diesem einen Punkt fest, als wolle sie mit seiner Hilfe die Welt aus den Angeln heben. Registrierte Autumn überhaupt, was dort unter ihr vor sich ging, oder verhielt es sich ähnlich wie mit dem Boden neulich, den sie zwar eingehend musterte, jedoch einfach nicht sah?
Ein heiseres, beinahe tonloses »Hey, alles in Ordnung?« verließ meine Lippen, als ich endlich bei ihr stand. Erneut ist sie in ihrer eigenen kleinen Welt versunken gewesen - so sehr, dass das sie auf meine Worte hin zusammenzuckte und beinahe das Gleichgewicht verlor, als sie abrupt zu mir herumfuhr, um mir ihr noch immer wie versteinertes Gesicht zuzuwenden. Von Panik ergriffen, schlossen sich meine kalten Finger um ihren Arm, da ich sie bereits in die Tiefe fallen und jämmerlich ertrinken sah; wobei diese Angst angesichts der kaum bemerkenswerten Meters, der die Brücke vom Boden trennte, vollkommen unbegründet war. So verharrten wir wieder einmal mehrere Ewigkeiten lang - ich noch nicht bereit den Stoff ihres überdimensionalen Pullovers loszulassen und vollkommen verkrampft, sie weiterhin stumm und aufrecht sitzend, ohne auch nur den Anschein zu erwecken, geistig anwesend zu sein.
Von selbst löste ich mich von dem Mädchen, als sie schließlich Anstalten machte, von dem so eisigen Geländer hinunter zu klettern, um wieder auf eigenen Beinen stehen zu können. Autumn beantwortete meine Frage nicht, die vor etlichen Jahren in den Raum geworfen zu sein schien. Stattdessen blickte sie mir stur ins Gesicht und fragte: »Warum hast du das getan?« So leise und brüchig klang ihre Stimme; als würden die Tränen, die ich erst in dieser Sekunde in ihren Augenwinkeln funkeln sah, ihr das Sprechen erschweren.
Vor Wut rasende Verwirrung glomm wie ein nichtssagender Funke in meinem Innern auf und ließ mich augenblicklich in Flammen stehen. Erneut kann ich auch heute noch keine Erklärung finden, warum mich diese einfache Frage so sehr frustrierte und zerfraß. Vielleicht war es die Schwäche, die sie so plötzlich zeigte und die einfach nicht in mein bisher entstandenes Bild von ihr passen wollte. Ich könnte es aber auch einfach auf meine Menschlichkeit abwälzen; denn sind wir nicht immer geradezu furios, sollte es jemand wagen, unsere gut gemeinten Taten infrage zu stellen? »Was habe ich denn schon groß getan, außer dich vor dem Fall in die Tiefe zu bewahren?«, rutschten mir diese so schnippisch klingenden Worte heraus, ohne dass ich auch nur einen Moment über ihre potenzielle Wirkung nachdachte. Schon wenige Sekunden später bereute ich diesen Fauxpas. Schon wollte ich mich bei ihr entschuldigen, jedoch schaffte Autumn es erneut mich zu überraschen. Denn anstatt wie jeder andere Mensch auf meine so patzige Antwort zu reagieren, huschte nur ein seichtes Lächeln über ihre blassen, nahezu von Eiskristallen besetzten Lippen.
Sofort verflog alle zuvor vorherrschende Negativität meinerseits und machte diesem unbändigen Appeal Platz, den ich einfach nicht zu beschreiben imstande war. Es fühlte sich wie ein vollständiger Kontrollverlust an - als würden alle noch so wichtigen Vorgänge, die meinen Körper am Leben erhielten, eingestellt werden, um Autumn restlos in den Mittelpunkt meiner Wahrnehmung rücken zu können. Wieder hatte ich diesen unbändigen Drang mich zu äußern - wollte mich noch immer für mein unbedachtes Verhalten entschuldigen - doch weder meinem Verstand noch meiner Zunge traute ich zu, Worte hervorzubringen, die nicht vollkommen verwaschen und schief klangen.
Als ihr Lächeln versiegte, fand auch endlich meine gedankliche Blockade ein Ende. »Du bist aufgebracht«, stellte sie ebenso leise wie zuvor fest und schien nun endgültig den Kampf gegen die Tränen zu verlieren. Schon wollte ich dieses doch eigentlich so fremde Mädchen in eine tröstliche Umarmung hüllen, um ihr zu versichern, dass ich für sie da wäre, sollte sie mich brauchen, doch erneut war sie schneller als ich. Erst entfernte sich Autumn nur wenige Schritte von mir, dann eilte sie gehetzt von der kleinen Brücke, auf der wir beide zuvor noch so vertraut gestanden hatten. Erst als sie eine kleine, aber schmerzliche Distanz zwischen uns gebracht hatte, wandte sie sich ein letztes Mal an diesem Tag wieder zu mir um. »Ich sollte wohl besser gehen. An Tagen wie diesen sollte ich einfach nicht unter Menschen sein. Es tut mir leid, dich verärgert zu haben.«
Wieder blieb ich allein an diesem Ort zurück, ohne dass sie sich wirklich von mir verabschiedet, oder ich Zeit gehabt hätte, das eben Geschehene zu verarbeiten.
Autumn hat darüber nachgedacht, ihrem Leben ein jähes Ende zu bereiten. Gerade an diesem Tag ist es so offensichtlich gewesen und doch habe ich es einfach nicht wahrhaben wollen. Für mich war sie nicht mehr als ein verträumtes, viel zu vollkommenes Mädchen in dieser so bunten Welt, das mir so vertraut und fremd zugleich war. Wie hätte ein Außenstehender, wie ich nun mal eine war, schon beurteilen können, wie leer ihr Blick und wie in sich gekehrt doch ihre gesamte Haltung war, obwohl es deutlicher nicht hätte sein können? Wir waren nur zwei Seelen in einem für uns viel zu großen Universum, die auf der Suche nach etwas, was sie vermutlich niemals finden würden, einander trafen.
Schließlich war sie fort und die Zettel in meiner Jackentasche schienen schwer wie Findlinge zu werden und Löcher in meine Haut zu brennen, die unerträglich schmerzten. Sie drückten mich zu Boden und zwangen mich, mit unter dieser Last zitternden Knien nach einer Sitzgelegenheit zu suchen. Landen tat ich schlussendlich auf dem dunklen Brückengeländer, an exakt derselben Stelle, an der sie zuvor gesessen hatte. Es verletzte mich, dass dieses Mädchen mich erneut einfach zurückgelassen hatte, ohne auch nur einen weiteren Gedanken an mich zu verschwenden. So sehr, dass ich sämtliche Gedanken, die ich mir in dieser so durchzechten Nacht gemacht hatte, zu meinem heutigen Verdruss, in unleserliche Einzelteile zerriss und im reißenden Bach zu meinen Füßen versenkte. Ich hatte ihr all dies zeigen wollen, um dass sie sah, was ihre bloße Anwesenheit mit mir anstellte. Doch sie hatte sich leichtfertig dafür entschieden, zu gehen, ohne mir eine Chance zu geben.
Nur ein einziger Zettel überlebte dieses Inferno der Enttäuschung ohne zu Schaden zu kommen. Ich hatte nur einen einzige Satz auf diesen gekritzelt, den ich nicht übers Herz brachte, wegzuwerfen. Schließlich waren es ihre Worte. Sie hatte sich mir vorgestellt und geglaubt, diese simple Aussage würde genügen, um mir zu verraten, wer sie war. Doch dies tat es bei weitem nicht. So zog ich einen Stift hervor und ergänzte: »Das Mädchen mit dem schönsten aller Lächeln, das nicht einmal Tränen zerstören können.«