»Was fürchtest du am meisten?«, fragte Autumn mich wenige Tage später, als wir uns ein zweiten Mal vollkommen zufällig trafen. Mir fiel auf, dass sie denselben deprimierend grauen und überdimensionalen Pullover wie die letzten Male trug - er verbarg ihren Körper beinahe gänzlich und ließ sie zu einer unförmig und verloren wirkenden Existenz mutieren ließ, die nicht so recht in mein Bild dieses wundervollen Menschen passen wollte. Ohne wirklich über meine Worte nachzudenken, antwortete ich mit einem leise hervorgepressten »Dass ich niemals ich selbst sein kann.« Diesmal bereute ich meine Worte nicht. Es fühlte sich richtig an, ihr etwas doch so Intimes von mir preiszugeben. Schließlich wollte ich sie so dringend näher kennenlernen, doch dieses Mädchen machte einfach keine Anstalten, sich mir mit all ihren Eigenheiten vorzustellen. Damit war ich gezwungen, wieder einmal den ersten Schritt zu tun.
Reinste Verwirrung lag in ihrem sonst so allwissend wirkenden Blick, als hätte sie nicht erwartet, so leichtfertig eine kryptische Antwort hingeworfen zu bekommen. »Was genau meinst du damit?«, war eine Frage, von der ich geglaubt hatte, sie niemals aus ihrem Munde hören zu müssen. Und doch stand sie nun im Raum und wollte mich zu genaueren Ausführungen über Dinge bringen, über die ich nur so ungern sprach. Ein nahezu tonloses Seufzen entwich mir aus reinen Frustrationsgründen heraus. Ich hasste es, meine eigentlich für sich selbst stehenden Äußerungen anderen Personen verständlich machen zu müssen. Sie würden es eh nie vollständig verstehen - dazu müssten sie schon in meine Gedankenwelt eintauchen können. In meinem Kopf sorgten diese Erklärungen nur dafür, dass ich glaubte, niemand würde über mich und meine Worte genauer nachdenken oder die dahinterstehenden Bedeutungen erfassen können. Außerdem brachte es mich dazu, dass ich an mir als Autor zweifelte, da ich nie genug Worte fand, um meine Gedanken beschreiben zu können.
Es verstrichen einige Momente schweigend, ehe ich imstande war, passende Formulierungen in meinem schmerzenden Kopf zusammen zu basteln - wie immer, wenn meine Gedanken meinten, über die übliche Sprachkompetenz hinausgehen zu müssen. »Ich weiß nicht, ob du verstehen wirst, was ich meine«, begann ich schließlich stockend, »doch ich weiß nicht, wie ich es dir auf eine andere Weise erklären soll.« Ohne es beabsichtigt zu haben, legte ich eine Kunstpause ein, griff ein letztes Mal voller Verzweiflung nach den richtigen Worten, um sie für diesen Moment widerstandslos in meiner Gewalt halten zu können, ehe ich begann, einer Fremden in etwa das Persönlichste zu sagen, was ich jemals herausbringen würde: »Wenn du in den Spiegel blickst, siehst du sicher eine Person, die du im ersten Moment schon als dich selbst erkennst, egal in welchem Licht oder unter welchen Umständen. Vielleicht bist du nicht zu hundert Prozent zufrieden mit deinem Äußeren - schließlich findet jeder mindestens einen kleinen Makel an sich selbst -, doch das spielt ja keine Rolle, oder? Du bist du - an dieser Tatsache kann niemand etwas ändern.
Nun, bei mir ist das alles anders. Jedes Mal, wenn ich mein Spiegelbild betrachten muss, sehe ich eine vollkommen fremde Person vor mir, die mir in nicht einem Punkt gleicht. Dann fühlt es sich an, als würde ich an diesem Anblick ersticken müssen - so unerträglich ist für mich der Schmerz, diese Person, die sich als ich ausgibt, aber niemals ich sein wird, ansehen zu müssen. Darum meide ich Spiegel. In meinem Zimmer habe ich sie alle schon unter Decken begraben, was aber nur noch mehr den Eindruck macht, als würde diese Fremde dort weiterhin lauern und darauf warten, dass sie die Kontrolle übernehmen kann. Trotzdem fühle ich mich in diesem Raum halbwegs sicher, da ich dort beinahe ich selbst sein kann. Andere Räume sind dagegen die reinste Qual. Von tausend Spiegeln aus schaut mich diese Person an und macht mir so viele Vorwürfe. Nicht einmal Fenster sind sicher. Auch sie erinnern mich schmerzlich daran, dass alles an mir einfach falsch ist.
Genauso wenig identifiziere ich mich mit dem, was alle anderen Menschen in mir zu sehen glauben. Sie nennen mich begabt oder intelligent, doch das kann einfach nicht sein, wenn sie nur diese fremde Person ansehen und nicht mich. Sie meinen, mich zu kennen und interpretieren doch alles vollkommen falsch. Sie können mich einfach nicht sehen. Obwohl ich ihnen schon so oft gesagt habe, das sie mich einfach nur noch Vic nennen sollen, benutzen sie doch meinen vollen Namen, der fast genauso sehr schmerzt, wie der Anblick meines Spiegelbildes. Ich fühle mich wie abgesondert. Als würde eine Fremde mein Leben führen, während ich darauf warte, endlich frei sein zu können. Immer schon ist es so gewesen. Alles nur, weil dort im Spiegel kein Junge, sondern ein Mädchen stand.«
Ein unbeschreibliches Gefühl erfüllte mein Innerstes, als ich mir all dies von der Seele redete, was sich über so lange Zeit hinweg angestaut und auf mir gelastet hatte. Es fühlte sich so befreiend und gleichzeitig so verdreht an, Autumn etwas zu erzählen, was noch nie zuvor von mir in Worte gefasst worden ist. Sie hörte stumm zu, unterbrach mich dabei kein einziges Mal und schwieg sogar noch, nachdem ich geendet hatte - vermutlich, um das Gesprochene auf sich wirken zu lassen. Schließlich brachte das Mädchen ein leises »Ich verstehe dich« hervor und blickte mich wieder an, als könnte sie mir direkt in die Seele blicken.
Ein nervöses, so zynisch klingendes Auflachen entfuhr mir, als müsste ich der Tragik, die diese Situation innewohnt, noch besonderen Ausdruck verleihen. »Das glaubst du also?«, fragte ich viel zu leise, da mich meine düsteren Gedanken wieder einmal zu erdrücken drohten, »Bisher hat mich noch niemand wirklich verstanden.« Doch anstatt von meiner plötzlichen Kälte abgestoßen zu sein, schlich sich ein bittersüßes Lächeln auf ihre Lippen. »Aber es ist eben so. Ich mag mich selbst im Spiegel erkennen, doch ich weiß wie es ist, von außen heraus verurteilt und in eine Schublade gesteckt zu werden, ohne eine Chance zu bekommen, sich aus dieser wieder zu befreien. Ich bin schon so oft die ›Neue‹ gewesen, dass ich nicht einmal mehr sagen kann, wohin ich nun eigentlich ursprünglich gehöre.«
Ihre Worte verenden in einem heiseren Kichern, das so erzwungen klingt, als wäre es ihre Art ihre Tränen zu kaschieren. »Ist das nicht seltsam? Wir beide fühlen auf dieselbe Weise und doch sind wir so verschieden, dass wir in vollkommen unterschiedlichen Welten leben. Trotzdem sitzen wir hier beieinander und sind die Einzigen, die den jeweils anderen verstehen können.« So gut ich konnte, ahmte ich ihr nur noch halb so strahlendes Lächeln nach. »Dann ist es wohl so etwas wie Schicksal gewesen, dass wir uns getroffen haben.«
Autumn schüttelte jedoch nur mit dem Kopf, womit auch ihr Lächeln verschwand. »Ich glaube nicht an das Schicksal. Was aber nicht heißen muss, dass es nicht existiert. Ich kann mich nur nicht mit etwas abfinden, was Menschen erfunden haben, um all die schrecklichen Dinge zu erklären, die sie grundlos tun.« Ihren Kommentar ließ ich ohne Erwiderung im Raum stehen, so schwer wog die Melancholie, die sich nun zwischen uns ausbreitete. Stattdessen wendete ich meinen Blick dem eintönigen graubraunen Boden zu, der eher nach der Seite des Herbstes aussah, die viele so verabscheuten - kahl, deprimierend und von den Tränen des wolkenverhangenen Himmels aufgeweicht. »Ich glaube nicht, dass eine Bushaltestelle der richtige Ort für diese Art von Gespräch ist.« Viel zu deutlich spürte ich, wie sich ihr stechender Blick in meine Haut brannte und dort etliche Wunden neben alten Narben hinterließ. »Warum nicht? Wenn wir es totschweigen, wird es nie besser werden«, erwiderte sie schnippisch.
Schweigen herrschte eine viel zu lange Zeit lang. Bevor ich dann endlich den Mut aufbrachte, auf ihre so scharfzüngige Bemerkung zu antworten, horchten wir beide auf, da wir den nächsten Bus näher kommen hörten. Autumn sprang auf, obwohl ich doch derjenige war, der nun gehen musste, und sah mich mit vor plötzlicher Aufregung funkelnden Augen an. »Lass’ uns das nächste Mal an einen besonderen Ort gehen, ja? Kein überfüllter Park und keine staubige Bushaltestelle mehr. Nur du und ich irgendwo, wo man zu hundert Prozent ehrlich miteinander sein kann.«
So endete auch diese Begegnung - doch dieses Mal war ich es, der sie allein dort zurückließ. Im Bus setzte ich mich auf einen der so vielen freien Plätze und kramte den bereits lädierten Zettel aus meiner Hosentasche, um ihn schleunigst ergänzen zu können.
»Autumn - das Mädchen, das niemand, selbst wenn man überall nachfragte, zu kennen schien und immer wusste wo ich war, als würde sie nur für mich existieren.«