So stehe ich nun hier, mit steif gefrorenen Fingern, die einen kleinen Blumenstrauß umklammern und blicke auf ihr Grab hinunter, das so liebevoll gepflegt wird, wie kein zweites auf diesem Friedhof. Bald schon ist es ein Jahr her, dass sie mich aus heiterem Himmel verlassen hat. Mit dem letzten Tag des Herbstes ist auch Autumn für immer verschwunden. Der Tag im Wald ist unser letzter gewesen. Ob sie damals schon nicht mehr zu retten war? Habe ich meine Zeit im Endeffekt mit jemandem verschwendet, der mich am Ende doch nur mit einem gebrochenen Herzen und leeren Gedanken zurückgelassen hat?
Dieser kurze Moment, in dem ich gedacht habe, dass nun endlich alles gut werden würde, hat sich von einer Sekunde auf die andere in Luft aufgelöst. Nur weil sie hat egoistisch sein müssen und ohne mich an einen besseren Ort gegangen ist. Ich bin doch da gewesen - ich hätte ihr helfen können, hätte sie nur etwas gesagt. Zusammen hätten wir sie befreien können von all den Gedanken, die sie Tag für Tag zu peinigen schienen. Doch anstatt sich selbst zu helfen, hat sie nur mir beim ewigen Lamentieren zugehört, während meine Negativität sie immer weiter in den Abgrund gezerrt hat. Was nur hat sie an meinen Problemen als so viel wichtiger empfunden, dass sie sich mir einfach nicht hat öffnen wollen, wie ich es ihr gegenüber tat? Was hat wirklich hinter dieser so bezaubernden Fassade geschlummert, dass es im vollkommen falschen Moment hervortrat und alle Hoffnung vernichtete?
Das Letzte, was ich von ihr gesehen habe, ist ein einfacher Brief gewesen, der am Tag ihres Todes vor meiner Haustür gelegen hat. Er war an mich adressiert, jedoch ist auf der Rückseite kein Absender vermerkt gewesen. Und dennoch ist mir vom ersten Moment an klar gewesen, wer diesen Brief geschrieben hat. Wer außer Autumn sollte mir schon auf diesem Weg eine Nachricht zukommen lassen? Sofort bin ich begierig gewesen zu erfahren, was dieses Mädchen mir hat so umständlich beibringen müssen, anstatt es einfach bei unserem nächsten Treffen frei heraus zu sagen. Ich bin so ungeduldig gewesen. Jede Sekunde, in der Autumn nicht bei mir gewesen ist, war die reinste Hölle für mich. So habe ich den weißen Umschlag nahezu in Fetzen gerissen, um nicht das von mir erwartete Liebesgeflüster, sondern diese Hiobsbotschaft zu empfangen..
Nicht einmal in ihrem Abschiedsbrief hat Autumn erklärt, warum sie mich allein gelassen hat. Dort hat einfach nur gestanden, dass es ihr leid tue, ich allen Grund hätte, sie zu hassen und nicht in Trauer versinken solle, da ich so viel mehr als nur sie verdient hätte. Diese Zeilen habe mich so unglaublich wütend gemacht. Warum hast du es denn getan, Autumn? Nenne mir doch zuerst den Grund, bevor du mir vorschreiben willst, wie ich mich nun verhalten soll.
Es hat einige Zeit gedauert, ehe sich dieser brennende Schmerz in meinem Inneren entwickelte, der vom Hass auf ihre Tat herrührte und heiße Tränen über meine Wangen rinnen ließ, bis diese taub wurden. Ich habe dieses Mädchen über alles geliebt - wie hat sie mich nur einfach verlassen können?
Auf ihrer Beerdigung habe ich nach den Antworten auf all meine Fragen gesucht. Nur ihre Eltern und ich sind dort gewesen. Was für ein einsamer Mensch Autumn doch gewesen sein muss.
Sie scheinen wirklich herzensgute Menschen zu sein. Ich denke nicht, dass meine Erzeuger mich unter Tränen und mit solch einer elterlichen Liebe bestattet hätten, hätte ich mir einfach selbst das Leben vor ihren Augen genommen. Schade, dass ich sie zu solch einem Anlass kennenlernen musste. Sie haben mir so leid getan. Vermutlich teilen wir denselben Schmerz, mit dem wir alle kaum umgehen können. Schließlich haben sie an diesem schwarzen Tag ihr einziges Kind, ich meine Muse verloren. In beiden Fällen hätte Autumn so viel bewirken können. Doch sie hat sich dagegen gesträubt, in die Rolle unseres kleinen Lebensretters gezwängt zu werden. So hat sie uns einfach verlassen, ohne sich angemessen zu verabschieden.
Doch noch immer halten wir sie auf unsere ganz eigenen Weisen fest, obwohl sich der erste Jahrestag ihres Todes sich schleichend nähert. Wer sonst sollte ihr Grab so liebevoll instand halten? Vermutlich besuchen sie die Todesstätte ihrer Tochter jeden einzelnen Tag und beweinen das verlorene Leben, das hätte geführt werden können, hätte sie sich helfen lassen. Fühlen sie sich ebenso leer wie ich? Als wäre ihr Leben durch ihren Tod in zwei Hälften - das Davor und das Danach - zerrissen worden und zum Stillstand gekommen? Schuld und Scham lassen neue Tränen über mein Gesicht rinnen. Sie kommen immer wieder hierher, obwohl der Schmerz sie, ebenso wie mich, erdrücken muss. Für mich, ist dies das erste Mal, dass ich seit ihrer Beerdigung wieder an ihrem Grab stehe. Viel ist in der Zwischenzeit nicht passiert. Ich bin einfach nur zu feige mich dem zu stellen, was mich sowieso all die Zeit über belastet.
Schon allein ihren Geburtsnamen zu sehen, der in diesen dunklen Stein auf ewig eingemeißelt worden ist, bringt mich an den Rand des Wahnsinns. Dort liegt Autumn, kein Mädchen, mit dessen Namen ich nicht das Geringste verbinden kann. Es ist einfach alles zu viel für mich. Wie halten ihre Eltern das nur tagtäglich aus?
Ein weiteres Mal hole ich den Zettel hervor, den bereits tiefe Papiernarben und durchnässte Stellen zieren. So oft habe ich ihn schon wegwerfen oder in Flammen aufgehen lassen wollen, um endlich einen Schlussstrich ziehen zu können. Doch ich kann es nicht. Egal wie oft ich es auch versuche. Trotz der relativ kurzen Zeit, die wir miteinander gehabt haben, hat sie einen Großteil meines Lebens ausgemacht. Autumn hat sich gemeinsam mit der Hoffnung in mein Leben geschlichen und ist am Ende einfach gegangen, bevor sie sich hat an mich binden müssen. Seitdem fühle ich mich so leer. Als wäre aller Lebenssinn einfach mit ihr zusammen verschwunden.
Meine Hände zittern unter dem sich allmählich nähernden Zusammenbruch, während der erste Schnee des Jahres beginnt, die Welt um mich herum zur Ruhe zu betten. An jedem einzelnen Buchstaben bleiben meine Augen hängen, als ich versuche die Worte zu verstehen, die dort Schwarz auf Weiß niedergeschrieben worden sind.
Autumn.
Das Mädchen mit den schönen Augen, das ich im Park auf einer Bank habe sitzen sehen.
Mit dem schönsten aller Lächeln, das nicht einmal Tränen zerstören können.
Das niemand, selbst wenn man überall nachfragte, zu kennen schien und immer wusste wo ich war, als würde sie nur für mich existieren.
Das stets auf der Flucht vor sich selbst zu sein schien.
Autumn - die mich im Winter allein ließ.