Obwohl die Feierlichkeiten weiterhin anhielten, ward es tiefe Nacht. Es gab keinerlei Anlässe mehr, ausgenommen der Reifeprüfungen, zusammen mit den Angehörigen festlich beisammen zu sein. Ly'an hatte sich ins Ratshaus zurückgezogen, in jenem sie mit ihren engsten Verwandten lebte. In diesem befanden sich nebst Empfangsräumen auch die Bibliothek und der große Saal.
Fünf Stufen führten hinauf zum Zugang des Hauses, welcher seit Beendigung der Prüfungen von zwei bewaffneten Posten bewacht wurde. Sie nickten und öffneten Delavar das mit Steinholz verstärkte Tor. Das gesamte Gebäude wurde einst errichtet, dem Großteil des Volkes eine gesicherte Rückzugsmöglichkeit zu bieten. Obwohl aus weißem Stein und Holz erbaut und mit allen erdenklichen Friesen versehen, diente dies rein der Optik. Dahinter verbargen sich massive Mauern, die anzurennen sich als äußerst schwer herausstellen würden.
Gegenüber des Einganges führte eine Treppe hinauf zum zweiten Stockwerk, in jenem mehrere Gästezimmer nebst der Bibliothek untergebracht waren. Letztere erstreckte sich über gesamt zwei Etagen. Auch vor diesem Aufgang stand ein Bewaffneter und musterte den Schwertmeister entschieden, sich gewahr, dass dieser ihm nichts anzuhaben vermochte. Delavar verzog missgünstig die Brauen, gab sich jedoch nicht die Blöße, auf das gebotene Verhalten zu reagieren. Innerlich wallte sein Blut. Er kannte den Posten und es galt sein Wort, diesen in die Umgrenzung zu verbannen.
»Die Herrin erwartet euch ...«, er neigte den Kopf leicht nach rechts, um die Richtung anzuzeigen. »... im großen Saal.«
Was ging vor sich? Wachen vor allem bewaffnete wurden ausschließlich vom Schwertmeister befehligt, allen voran seiner eigenen Blutlinie.
Anstatt eines Kommentars würdigte er dem Posten einzig mit missbilligender Miene, wendete sich nach links und schritt auf die zweiflügelige Tür zu. Diese öffnete sich, noch bevor er die Hand ausstreckte.
Ly'an stand mit auf dem Rücken verschränkten Armen auf einem kleinen Balkon, der auf den inneren Hof des Hauses ausgerichtet war. Sie hielt ihre Lider geschlossen. Ihre sonst sanften Gesichtszüge lagen verborgen hinter einer Maske konzentrierten Ausdrucks.
»Herrin, der Schwertmeister ist eingetroffen.«
Rüde drängte jener sich vorbei in den Saal. »Ich kann für mich selbst reden, du Narr«, erfolgte die Schelte.
Eine weitere ausdruckslose Falte stahl sich auf ihre sonst ebenmäßige Stirn. »Blei, wo du augenblicklich stehst, Delavar.« Den verhallenden Schritten nach tat er wie geheißen. »Dies ist in Gänze mein Haus und der einzigen Person, der es zusteht sich forsch zu benehmen, bin alleinig ich.«
Ly'an trat herein, legte ihre schlanken und zartgliedrigen Hände auf die Lehne des vor ihr stehenden Stuhles und zog diesen zu sich heran. Ohne den musternden Blick von dem unvorbereiteten Schwertmeister zu nehmen, setzte sie sich und faltete die Hände aufgelegt ineinander. Delavars Mine verblieb ausdruckslos, dennoch entging ihr nicht, wie aufgewühlt er dastand und um Fassung ring.
»Unsere Väter waren es, die die entzweiten Linien vereinen wollten«, begann sie und bedeutete mit einem Wink ihrer Linken, dass er sich setzen dürfe. »Doch dann kam es anders, anders als erwartet. Eine alles bedrohende Macht erhob sich unweit eures Hains und löste einen allumfassenden Völkerkrieg aus.«
»Ly'an, was soll das. Ich kenne die Geschichte«, unterbrach er sie und wollte auffahren, doch Angesprochene sog tief Luft in die Lungen und verzog ungehalten die Augen.
»Du verletzt die Gastfreundschaft meines Hauses bereits zum dritten Male. Sei so gut und hör ... mir ... zu.«
Einige Herzschläge lang musterte sie den Schwertmeister und wartete auf ein Gegenargument. Schließlich nickte sie. »Die Wiedervereinigung blieb bedingt des Krieges aus. Unser aller Leben, auch wenn lediglich im Einflussbereich Erebors, verdanken wir Freunden. Die Naïns folgten dem Ruf des Berges und verteidigten ihr eigenes Heim. Die Hüter des Waldes gerieten selbst in arge Bedrängnis und niemand weiß um deren Verbleib.«
Delavar verschränkte gelangweilt die Arme vor der Brust und schnaubte. Ly'an jedoch übersah die verfrorene Herausforderung und fuhr unbeirrt fort. »Die Menschen waren es, die uns zur Seite standen, als aller Hoffnung bereits am Ende schienen. Auch waren sie es, die die in die Enge getriebenen Lynkas befreiten und hier her führten. Ihnen haben wir es zu verdanken, dass Erebor seinen schützenden Bann um diesen Hain errichten konnte.«
Sie stockte und schluckte, Erinnerungen quälten ihren Geist. Tränen sammelten sich funkelnd in ihren Augen, welche sie mit einem zarten Schütteln des Kopfes versuchte hinfort zublinzeln.
»Woher rührt dieser abgrundtiefe Hass auf jene? Unsere Vorfahren waren es, die sie einst mit zu diesen Ufern nahmen, um gemeinsam ein neues Leben zu beginnen. Wir lebten viele Jahreswenden Seite an Seite. Woher nimmt Arion, dein Ziehsohn, die Unverfrorenheit ein ihm unbekanntes Volk zu bezichtigen gar zu beleidigen, wenn nicht durch deine Worte?«
Anstatt zu antworten, schnaubte er wiederholt und wendete trotzig den Blick. »Die Naïns flohen. Zurück in ihre Berge. Nicht weil sie ihr Berg rief, sondern aus Furcht. Was deine teueren Menschen anbelangt ... ha ... nur, weil ausgerechnet du es warst, die einen von ihnen liebte, sprichst du freundschaftlich von diesen. Unsere Vorfahren nahmen sie lediglich mit, um sich an ihnen zu erfreuen oder im Falle eines Krieges vorauszuschicken. Sie sollten uns dienen, nichts weiter.«
»Genug davon«, donnerte das Oberhaupt und hieb mit der flach ausgestreckten Linken auf den Tisch. »Woher, Delavar, nimmst du diesen Hass? Was nahmen dir die Menschen?«
Wieder antwortete er nicht auf ihre Frage ... wie erwartet. Nichtsdestoweniger sah er ihr ins Antlitz und stellte die Seine. »Sag du mir, Ly'an, was du hier beabsichtigst. Wozu die Wachen? Noch dazu jene, die durch mein Wort in die Umgrenzung verbannt wurden. Wir benötigen sie nicht, Erebor ist Schutz genug.«