Der Wald lichtete sich und die allumfängliche Dunkelheit wich dem fahlen Schein des Mondes. Auch wenn dieser lähmende Bann, dieses allgegenwärtige Grau, all die natürlichen Farben aufzusaugen schien, brachen sich die silbernen Speere des nächtlichen Himmelskörpers auf den Unebenheiten des Bodens. Aufgezogener Nebel schlierte und wand sich bei jedweder Bewegung, die sie wie ihre Pferde auf den Weg zur Garnison taten.
Die Luft war noch kühl und feucht und so schimmerte ihr Rüstzeugs im fahlen Schein. Wie leibhaftig gewordene Gespenster vergangener Zeitalter wandelten sie hindurch. Niemand sprach oder flüsterte auch nur ein Wort. Es herrschte bedrückende Stille. Ein Laut spaltete die Ruhe wie ein Peitschenhieb.
»Dort.« Wolff zeigte mit seinem gezogenem Schwert voraus. »Die Garnison. Hoffentlich blieben unsere Leute unbeschadet.«
Die Wälle thronten wie mahnende Schatten im Zwielicht. Keine Bewegungen, weder Feuer noch Fackeln zeugten von Leben in dieser.
Sie fielen vom Trab in leichtem Galopp und wollten, nein mussten endliche ankommen. Sie spürten nicht nur die Lähmung an ihren Gliedern zerren; seit nunmehr zwei Tageswenden sind sie nahezu rastlos und durchweg geritten. Ihre Körper und vor allem die ihrer Tiere verlangte es nach Erholung.
Alanel beließ seine fünf Begleiter bei der Wurzel. Sie würden das Loch mit dem Aushub verschließen und Spuren beseitigen. Er wollte allein, ohne menschliches Gefolge zuerst das Ausmaß des Hauses bemessen. Die gegenwärtige Schwäche seines Volkes durfte er niemandem offenbaren, auch wenn es dem gesamten Land gleich erging. Dies war ebengleich der Grund, weshalb er Si'mon weiter in Richtung Westen entsandt.
Es war nur ein Gefühl. Die Verbundenheit zu Ma'rit und dessen Denkweisen lehrte ihn, dass jedwedes Leben seinen Platz im Kreislauf habe und weder Lynke noch Lynka eine Voranstellung genießen sollte. Es war gut so und vermutlich gar bedeutend, dass sein, wie auch das Volk der Menschen zeitgleich erstarkten.
Sein Umfeld änderte sich nicht im geringsten, alles schien gleich und seit Langem unberührt, doch irgendetwas war anders. Als er einen weiteren Schritt tat, spürte er es. Ein kaum wahrzunehmendes Kribbeln auf der Haut. Es war nicht unangenehm, kannte er immerhin dieses Gefühl.
Er war sich von diesem Augenblick an vollkommen sicher. Der geschändete Wurzelstrang Erebors war wieder geeint und seine Kraft rann ihr hindurch. Es handelte sich bei den einzelnen Häusern um direkte Ableger des jeweiligen Volksbaumes und waren somit von gleicher Art. Würde Erebor sterben, seine Macht ginge in einen oder gar allen seiner Abkömmlinge über.
Erebor schenkte seinen Schützlingen, den Lynken, drei und so begründeten sie neben dem Hain des Urbaums ebenso viele weitere Häuser. Eribar hingegen, der Vaterbaum der Lynkas barg nur einen Ableger.
Alanel stand wie gebannt, seine Augen weiteten sich der Erkenntnis. Sein Atem ging rasseln und seine Gesichtszüge hingen schlaff. Kein Muskel wollte ihm gehorchen, bis er aussprach, was er gedanklich aneinander reimte. »Verrat. Oh beim Namen des Baumes. Erst die Wurzeln zu den Häusern und danach ...« er sprach nicht weiter und sank wie ein Kind auf die Knie. Seine Arme umschlungen diese und wippte vor und zurück.
»Wer will bloß sein eigenes Volk im Verderben wissen?«, flüsterte er matt.
Etwas oder jemand nährte sich ihm - vorsichtig und lauernd. Er schloss die Augen und versuchte sich trotz seines konfusen Zustandes zu konzentrieren. Seine Lippen deuteten ein Lächeln und erkannte das die schäbige Tat nun vollends vereitelt war.
Erebor begann einen Teil seiner Kraft zu seinem Ableger zu leiten, zum Haus der Schwingenreiter. Noch bevor er die Augen öffnete, wusste er, was ihm Nahe war. Er hörte den ächzenden Ruf eines Aar - eines Königs Aars.
Sie trug ein durchgehend braunes Federkleid und ihre Brust war Weiss besprenkelt. Sie war faszinierend und ihre gelbgoldenen Augen zeugten von ungeahnter Weisheit und Intelligenz.
Alanel schätzte sie so dastehend auf eine Halblänge, ihre Spannweite konnte er nur erahnen.
»Königs Aar. Ich erbitte deinen Beistand und deine Hilfe. Suche Si'mon, Sohn und Erben der Ly'an, Tochter Lynkes. Zeige ihm, dass meine Erkundungen erfolgreich waren.«
Si'mon musterte Kylion zum wiederholten Male. Dieser hielt sich bei allen Belangen stets im Hintergrund und beobachtete. Er lauschte Gesprochenem, behielt indes jeglichen Kommentar für sich.
Was der Mann ungeachtet seines offensichtlichen Wesens nicht zuverbergen vermochte, war seine ureigenste Art. Sobald der Trupp anritt, drängte er sich an vorderster Stelle. Im Grunde genommen oblag es Si'mon voran zu reiten, so jedoch genoss er den Vorteil, einen jeden seiner Begleiter im Blick zu haben. Wie ihm bereits zum wiederholten Male auffiel, verhielt Kylion sich nicht wie die übrigen. Er verstand es sein Pferd zu führen und so wie er seine Hände hielt, schien ihm der Umgang mit Waffen ebenfalls nicht fremd.
Als Erntehelfer kam er noch vor Wolff und seinen Männern in Senkenthal an und mochte seither seiner Vergangenheit zu entfliehen. Vermutlich hatte er in seinem bisherigen Leben hinreichend Kriegs- und Kampferfahrungen sammeln müssen, sodass ihm die einfache Landarbeit als eine Art Ausgleich galt. Er war ein Anführertyp und würde mit Wolff über ihn reden.
Kylion führte den Trupp linker Hand um den See herum, immer auf Sichtweite des Abhanges. Sein unsteter Blick verriet Si'mon, dass er Ausschau hielt.
»Herr, wir werden bald rasten müssen, wollen wir nicht Gefahr laufen im freien Feld einer Patrouille zu begegnen.«
Si'mon holte auf und lenkte sein Pferd neben das Kylions. »Ich vermute, dass ihr diese Gegend besser kennt als wir anderen. Wohin führt uns der Weg?«
Sein rechter Arm hob sich und er deutete auf den Horizont. Seine Worte klangen bedrückt. »Zu jenem Weiler, den Gerald bereits erwähnte. Nahe dessen führt eine weitere Furth hinüber zur Insel.«
Si'mon hob die Linke und legte sie auf Kylions Unterarm. Er stellte ihm keine Fragen, er schuf Tatschen. Sein Begleiter zuckte nicht einmal und seine Mine verriet keinerlei Gefühlsregung.
»Da ist mehr als ihr vorgebt zu sein. Auch seid ihr mehr, als ihr vorgebt zu sein. Ich habe euch lange genug beobachten dürfen und es ist offenkundig, dass ihr etwas zu verbergen versucht.«
Ein Seufzer entrang seinen Lippen. Die Augen schlossen sich und er senkte den Kopf. Si'mon behielt Recht der Annahme, doch bevor jemand anderes seine Geste womöglich richtig deuten konnte, verfiel er in bekanntes Verhalten. Dennoch, etwas in ihm schien gelöst und Si'mon hob die Brauen. Kylion saß nicht mehr ganz so steif im Sattel als noch Augenblicke zuvor.
»Verwehrt mir nicht den Weg zum Weiler, ich bitte euch. Ich muss die Gelegenheit nutzen.«
»Ihr wart dort zuhause«, stellte er nüchtern fest und erhielt ein kaum wahrnehmbares Nicken.
»Meine Familie ... meine Frau und meine Tochter. Als dieser unsagbare Krieg begann, ließ ich alle zurück, die ich je geliebt habe. Ich muss wissen, ob noch jemand da ist.«
Anstatt zu antworten, rief er für einen jeden gut hörbar laut aus. »Wir reiten zum Weiler und werden dort rasten. Bei Tagesanbruch betreten wir die Insel.«
Aus dem Augenwinkel erhaschte Si'mon ein glitzern in Kylions Augen. Waren das Tränen? Er senkte rasch die Lieder und hauchte ein einziges Wort.
»Danke.«