Sie nannten mich Nemo, das Mädchen mit dem Herz aus Stein. Doch sie kannten mich nicht, sonst hätten sie mich nie so genannt. Sie konnten ja nicht wissen warum ich so kaltherzig wurde. Ich kam aus dem Schatten der Nacht, der mir bisher so vertraut war wie ein alter Freund während ich durch die nächtliche Stille schlich, die das Gebäude umschloss wie ein Kokon. Doch heute hatte er mich verlassen. Heute würde ich sterben.
Das wusste ich bereits als er den Raum betreten hatte, in dem ich mich versteckt hielt. Er war zu stark, zu schlau und ich zu unvorbereitet. Meine Hoffnungen brachen in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Ich verstand sofort, dass ich aus diesem Schlamassel nicht mehr lebend herauskommen würde. Dieses Mal hatte ich mir den falschen Gegner ausgesucht. Und doch hatte ich gekämpft. Nun war ich eine Gefangene. Auf seltsame Art und weise war ich neugierig: Was würde er mit mir anstellen? Wird er mich töten? Ich wusste nur das ich lange nicht mehr durchhalten werde. Meine Kräfte ließen mich langsam im Stich.
Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Alles war umsonst gewesen. All diese Vorbereitung, Geheimnistuerei und vor allem die schlaflosen Nächte: Alles für die Katz. Ich hätte mich Ohrfeigen können würden meine Arme nicht von einem Muskelprotz auf meinem Rücken festgehalten werden. Eben dieser Muskelprotz hatte auch mein heißgeliebtes Messer an sich genommen, ein ca. fünfzehn Zentimeter langer Dolch mit schwarzem Griff. Ein Andenken an meinen toten Vater. Der Kürzere steckte gut versteckt im Schaft des rechten Stiefels, doch ich sah bis jetzt keinen Weg an diesen ranzukommen. Der Leibwächter des Rebellenführers hielt meine Arme im eisernen Griff. Schmerzen durchzuckten mich bei jeder Bewegung und ich verzog unwillkürlich das Gesicht.
Dunkle Augen beobachteten mich. Ich spürte wie sie langsam über mein Gesicht wanderten und dabei an dem brennenden Schnitt an meinem Schlüsselbein hängen blieben den ich ihm verdankte. Mein Schwarzes Shirt hatte sich schon vollgesogen mit Blut und doch spürte ich immer noch wie die warme Flüssigkeit aus der Wunde lief. Meine Schulter pochte und brannte. Nicht mehr lange und du hast es hinter dir, dachte ich tapfer und hob meinen Kopf.
Ein dunkles Augenpaar traf auf meine. Unwillkürlich zuckte ich zurück. Ich hatte gehört das Alec Grey einschüchternd ist. Gleich zu Beginn als ich mich den Rebellen angeschlossen hatte wurde mir gesagt das Grey absolute Loyalität erwarte und jeden Regelbruch bestrafe. Auch mit dem Tod. Der Anführer der Rebellen sei eine eiskalte Killermaschine. Dass er ein guter Kämpfer war hatte ich heute Nacht am eigenen Leib erfahren. Es war als hätte er jeden meiner Bewegungen vorausgesehen und ohne jegliche Anstrengung abgewehrt. Von seiner Ohrfeige dröhnte mir immer noch der Schädel.
„Das war nicht sehr schlau, Mädchen" hatte er mir ins Ohr geflüstert als ich mit dröhnendem Schädel auf dem Boden erwachte. Grey drehte mich auf den Bauch und bückte sich lässig über mich. Ein Geruch umnebelte mich den ich schwer einordnen konnte. Es war ein herber männlicher Geruch. Nun, nachdem ich mich kurzzeitig von meinem Schock aufs Kreuzgelegt worden zu sein erholt hatte, versuchte ich weiter herauszufinden was es gewesen war. Doch diese leuchtend Schokoladebraunen Augen, die mich zu durchbohren schienen, ließen keinen ansatzweise richtigen Gedanken zu. Alles was ich denken konnte war, dass es verdammt blöd von mir war heute Nacht in seinem Zimmer einzudringen, ohne mich richtig vorzubereiten. Es war voreilig gewesen. Die Zeit drängte und ich wurde unruhig. Nur noch ein Name auf meiner Liste fehlte. Und dieser war Alec Grey. Der Mann vor mir.
Es war einfach zu leicht gewesen in seine Räume zu gelangen. Wenn etwas zu leicht war, war es zum Scheitern verurteilt, pflegte meine Mutter zu sagen. Ich hätte auf sie hören sollen. Der Gedanke an meine Mutter lies mich erschauern. Es tut mir leid, dachte ich. Es tut mir leid, dass ich dich nicht retten konnte.
„Wie heißt du?" durchbrach eine Stimme die Stille und das Gewirr an Gedanken in meinem Kopf. Für einen Moment verstand ich nicht wer mit mir sprach, bis mein Blick auf das Gesicht des Rebellenführers fiel, der mich mit hochgezogener Augenbraue abwartend anstarrte. „Wie heißt du, Mädchen?" Seine Stimme war samtweich und zeitgleich hart wie Stein. Ich schluckte, um den Kloß loszuwerden, der in meinem Hals festsaß. Das Atmen fiel mir schwer. Beim Sturz musste ich mir eine Rippe angeknackst haben. Blut floss aus meiner Nase und der Geschmack füllte meinen Mund.
„Nemo" krächzte ich. Ich beobachtete wie sein Mundwinkel zuckte. Er fand es lustig. Ein Mädchen das nach einem Fisch benannt war. Einem Fisch aus einem alten Kinderfilm. Einem Film aus einer längst vergangenen Zeit.
„Nemo" wiederholte er und neigte sich näher zu mir. Der Druck auf meinen Rücken wurde schwerer. Unwillkürlich neigte ich mich näher über den Tisch. Ich spürte die harte Tischkante, die sich unter meiner Brust in meinen Rippenbogen bohrte. Atmen wurde zur Qual. Stechender Schmerz durchzuckte mich. Vor meinen Augen flimmerte es. Wieder drang der eigenartige Geruch von Moschus und etwas Holzigem in mein Bewusstsein. Sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt. Ich schätzte Grey auf Mitte Dreißig. Sein Gesicht war oval mit einem scharfkantigen Kinn, das von einem Dreitagebart bedeckt wurde. Unter seinen Augen waren tiefe Schatten, doch das ließ ihn nicht weniger attraktiv Aussehen. Seine braunen Locken standen ihm nach unserem kleinen Kampf wild in alle Richtungen und gaben ihm einen wilden Ausdruck. Seine Augen, die ich jetzt aus unmittelbarer Nähe sah, hatten zur Iris hin einen Stich ins Grüne. Das lässt sie so glänzen, stellte ich verwundert fest. Seine Hand schloss sich um den Kragen meines Shirts und zog mich näher zu sich so dass sein warmer Atem über meine geschundene Wange strich wo er mich geschlagen hatte. „Sag mir deinen Namen, Mädchen" flüsterte er.
„Ha...habe ich doch. Sie... sie nannten mich Nemo" keuchte ich unter Schmerzen. Mein Atem war nur noch ein röcheln. Vor meinen Augen tanzten Sterne. Bitte lass es endlich enden, dachte ich flehend. Was will er den noch von mir?
„Wer ist ‚sie'?" wollte Grey wissen und ließ locker. Der Schmerz in meiner Brust und meinen Armen ließ nach. Immer noch tropfte Blut aus meiner Nase. Grey hob plötzlich seine Hand. Unwillkürlich zuckte ich zurück. Schmerz durchzuckte meine Oberarme und so hielt ich still als seine Hand einen Blutstropfen von meiner Oberlippe wischte. Seine Berührung war sanft und jagte Schauer über meinen Rücken.
„Meine Familie" murmelte ich und senkte meinen Blick. „Mein richtiger Name ist Nymeria. Nymeria Alayne Jones"
Meine Worte hallten durch die Stille. Abwartend beobachtete ich wie ein Tropfen Blut auf der polierten Holzoberfläche des Tisches landete. Und dann noch einer. Und noch einer.
„Wer hat dich geschickt?" durchbrach seine Stimme die Stille. Ich hob den Kopf und wieder trafen seine Augen auf meine. Das Blut zog eine Feuchte Spur zu meinem Mund. Der Eisen Geschmack füllte meinen Mund. Bevor ich sprach fuhr ich mir mit der Zunge über die Lippen.
„Kanzlerin Fox"
Er nickte. „Amanda Fox hat mir ihren kleinen Fisch geschickt. Um was zu tun? Mich zu töten? Das ist dir Misslungen"
Ich schluckte. „Das ist mir Misslungen" gab ich zu. „Aber meine anderen Hausaufgaben habe ich gemacht" fügte ich trotzig hinzu. Er sollte ruhig wissen wozu ich fähig bin. Ich beobachtete genüsslich wie Alecs Augenbraue langsam hochwanderte. Ja, Grey. Das war ich. Dein kleiner Fisch! Verblüfft sah er mir ins Gesicht als er verstand was ich damit meinte. „Du hast die anderen Rebellenführer umgebracht? Du ganz allein?" Ich nickte zur Antwort und verzog bei dem Schmerz das Gesicht.
„Wie? Wie ist das möglich?" wollte er wissen, nickte kurz seinem Leibwächter zu und neigte sich zurück. Ich spürte wie das Gewicht von meinem Rücken verschwand und meine Hände frei gegeben wurden. Erleichtert lehnte ich mich zurück. Bei jeder Bewegung durchzückte mich der Schmerz wie Wellen von eiskaltem Wasser. Messer die sich unbarmherzig in meinen Brustkorb bohrten.
„Man nennt mich nicht ohne Grund Nemo" murmelte ich. „Ich bin klein, flink und vor allem still" Ich stöhnte vor Schmerz als ich versuchte die Arme zu heben. „Nun, zumindest wenn ich nicht verprügelt wurde" gab ich zu.
Greys Mundwinkel zuckte wieder belustigt. „Erzähl mir alles"
„Das ist eine lange Geschichte" murmelte ich.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute mich abwartend an. „Ich habe Zeit. Wenn es sein muss die ganze Nacht"
„Ich bin mir aber nicht sicher ob ich das überlebe" witzelte ich und stöhnte als ich zu lächeln versuchte. Der Rebellenführer winkte einen seiner Männer zu sich. „Hol einen Heiler" Der Mann nickte und eilte aus der Tür.
„Danke" murmelte ich.
„Nichts zu danken. Nun kommen wir zu deiner Geschichte"
Mein Blick wanderte stumm durch das Zimmer. Zwischen mir und Alec Grey stand ein massiver Holztisch, auf dem sich ein Laptop und eine Schreibtischlampe befanden. Der Laptop war zugeklappt und die Schreibtischlampe auf mein Gesicht gerichtet. Hinter Greys Stuhl erkannte ich im Halbdunkeln zwei bullige Männer, die sie unverwandt anstarrten. Einer war blond und hatte Graue stechende Augen. Der andere hatte dieselbe gebräunte Hautfarbe und schokobraunen Augen wie Grey. Ihre Vorfahren müssen von den sogenannten Sommerinseln kommen, schoss es mir durch den Kopf. „Nun? Wirst du uns deine Geschichte erzählen oder willst du noch länger mein Büro betrachten?" scherzte Grey doch seine Stimme hatte einen ungeduldigen Unterton. Ich seufzte und wandte meinen Blick weg von dem vollgestopften Bücherregal hinter den Leibwächtern. Wer hätte gedacht das ein Mann wie Grey soviel liest?
„Wisst ihr, es ist nicht so leicht. Mit was soll ich beginnen? Damit das meine Vorfahren vor zweihundert Jahren gegen den Impfstoff protestierten und dabei ihr Leben ließen? Wenn interessiert das schon? Der Impfstoff wurde doch der Hälfte der Menschheit injiziert und nun sind wir hier: In Paradies City" Ich lachte laut. „Vor der Mauer lauert der Tod sagen sie. Zombies und Aas fressende zottelige Monster. Woher sollen wir wissen ob das stimmt? Vielleicht wollen sie uns nur nicht aus ihrer perfekten Welt lassen? Sie wäre ohne Bewohner ja nicht mehr perfekt" Mein lachen klang hohl. Mit von Tränen gedämpfter Stimme fuhr ich fort. „Mein Vater kämpfte sein ganzes Leben gegen die Kanzlerin und ihren idealen. Vor einem Jahr starb er. Erschossen von einem Getreuen der Kanzlerin" Ich stockte. Meine Augen füllten sich mit Tränen. „Am nächsten Tag brachen sie die Tür auf und brachten mich und meine Mutter in den Palast" Meine Stimme war nur noch ein flüstern, doch ich erzählte weiter. „Sie sperrten sie in eine der Unterirdischen Verliese. Mich brachten sie zur Kanzlerin. Sie versprach mir uns frei zu lassen..., wenn ich dafür ihre Kopfgeldjägerin werde. Sie gab mir eine Liste. Eine Liste von Zehn Namen. Sobald alle auf dieser Liste tot wären, würde sie mich und meine Mutter freilassen"
Mein Blick traf auf Greys. „Und ich war der letzte Name auf deiner Liste" stellte er nüchtern fest.
Ich nickte steif. „Den anderen Neun habe ich im Schlaf den Hals aufgeschlitzt"
Sein Mundwinkel zuckte. „Dein Pech das ich nicht geschlafen habe. Oder mein Glück?"
„Es war unverschämtes Glück" Ich seufzte. Flehend hob ich den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. Seine Schokobraunen Augen trafen auf meine Haselnussbraunen „Ich habe das alles nur für meine Mutter getan. Das müsst ihr mir glauben. Ich wollte das nicht. Ich muss sie retten" flehte ich als Stimmen auf dem Gang ertönten.
Die Tür öffnete sich und ein paar Männer bekleidet mit weißem Kittel traten in den kleinen Raum. Zwischen sich schoben sie eine Liege.
„Um deine Mutter werden wir uns kümmern. Doch zuerst müssen wir uns um dich kümmern" Grey betrachtete mich durchdringend. „Der kleine Fisch muss wieder gesund werden, erst dann kann er wieder durch den Ozean schwimmen und große Fische ärgern"
Ein schiefes Lächeln erschien auf seinem Gesicht während er zusah wie mich die Männer vorsichtig auf eine Liege hoben. Bei jeder Bewegung durchzuckte mich der Schmerz. Als ich auf der Liege lag drehte ich meinen Kopf und sah zu Grey der mich mitleidig betrachtete. Ich streckte ihm zur Antwort die Zunge raus bevor einer der Männer mir eine Spritze in die Armbeuge drückte.
„Wir sehen uns bald wieder, Nymeria Alayne Jones" hörte ich ihn sagen bevor ich das Bewusstsein verlor und ihm Nebel verschwand.