Überrascht sah ich in Greys Gesicht. Meinte er das Ernst?
„Warum solltest du dich bei mir entschuldigen?“ Meine Stimme war nur ein heiseres Krächzen.
Nervös fuhr sich Grey mit der Hand durch seine dunkelbraunen Haare so dass sie noch mehr in alle Richtungen standen als sonst. Alec Grey ist nervös, kam mir in den Sinn. War das überhaupt möglich?
Bis zu unserem unglücklichen zusammen treffen hatte ich Alex Grey selten gesehen. Im Hauptquartier der Rebellen sah man ihn eher selten, wenn nicht sogar tagelang nie. Woher sollte ich dann wissen ob es nicht möglich war das ein Mann wie Grey auch mal nervös oder sogar unbehaglich zu Mute war?
„Ich fühle mich… nun ja… ich hätte dich nicht so zurichten sollen“ stammelte er nervös. Ah, da lag der Grund!
„Weil ich ein Mädchen bin“ stellte ich trocken fest. Kurz wirkte er als hätte ich ihm eine Ohrfeige gegeben. Fast hätte ich gelacht, wenn meine Rippen dort wo er zugetreten hatte nicht immer noch schmerzen würden. Ich seufzte und schob mich mit den Armen vorsichtig höher, um aufrechter zu sitzen doch abermals protestierte Alec. Als er mich verdroschen hatte war er mir irgendwie sympathischer!
„Ich werde schon nicht sterben nur weil ich mich aufsetze“ murmelte ich und ließ mich wieder in die Kissen sinken. „Es ist nicht gerade angenehm sich zu unterhalten, wenn man liegt“
Grey seufzte ergeben. „Okay, aber dann lass mich dir helfen“ Er bückte sich über mich und zog die Kissen hoch. Wieder drang sein unbeschreiblicher Duft in meine Nase während er mir half mich aufzusetzen. „Besser?“ wollte er von mir wissen als er sich wieder von mir löste und zurücktrat.
„Besser, danke“ bedankte ich mich. „Nun, wolltest du dich nur entschuldigen?“
Ich beobachtete wie Grey sich einen Stuhl näher an mein Bett zog und sich daraufsetzte.
„Ich wollte sehen wie es dir geht“ sagte er geradeheraus.
„Du wolltest wissen wie es der Frau geht, die versuchte dich zu töten?“ skeptisch verzog ich das Gesicht. „Du weißt, dass das seltsam klingt?“
„Klingt es das?“ antwortete er mit einer Gegenfrage.
Ich nickte. „Ein anderer hätte mich getötet. Auf der Stelle“
Einen Moment herrschte Stille im Raum, nur das stete piepen der Herzmaschine war zu hören. Gedankenverloren betrachtete er mich.
„Ich kann kein junges Mädchen töten“ stellte er fest.
„Es könnte irgendwann deinen Tod bedeuten“ warnte ich ihn. Ich wusste selbst nicht ob ich es noch einmal probieren würde. Wozu auch? Meine Mutter war wahrscheinlich schon längst tot. Doch trotzdem: Wer weiß schon was die Zukunft bringt?
„Wirst du es wieder probieren?“ wollte er wissen und sah mich mit seinen schokoladenbraunen Augen an. Ich schmolz wortwörtlich dahin und spürte wie meine Wangen Knallrot wurden.
„Ich… Ich glaube… nein, dass… würde keinen Sinn ergeben. Ich… bin nicht lebensmüde weiß du. Das hier hat mir gereicht. Ehrlich. Doch wer weiß schon was die Zukunft bringt? Vielleicht werde ich doch noch mal lebensmüde?“ stammelte ich und versuchte irgendwie meine Würde zu bewahren. Nun war es an Grey mich belustigt zu betrachten.
„Wie alt bist du eigentlich?“ wollte er wissen.
„Ist das eine Frage, die man einer Frau stellt, Mr. Grey“
Alecs Mund verzog sich zu einem Lachen. „Nun, Miss Jones. Es tut mir wirklich leid, wenn ich sie gekränkt habe, aber ich würde doch des Anstands wegen gerne wissen mit was ich es zu tun habe“
Des Anstands wegen? Was sollte das nun bedeuten? „Nun, Mr. Grey“ begann ich. „Ich wüsste zwar nicht wieso mein Alter im Bezug des Anstands wichtig wäre aber da es ihnen so wichtig zu sein scheint sage ich ihnen mein Alter: Ich habe im Frühjahr das einundzwanzigste Lebensjahr erreicht. Das heißt ich bin dem Gesetz nach Volljährig. Sind sie nun zufrieden?“
Ein teuflisches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Mehr als zufrieden, Miss Jones“ sagte er und erhob sich elegant von seinem Stuhl. „Sobald deine Wunden verheilt sind beginnen wir mit deiner Ausbildung“
„Ausbildung? Was für Ausbildung?“ Perplex sah ich zu Alec, doch er lächelte bloß. Er öffnete die Tür und winkte den Wachmann, der vor der Tür stand in das Zimmer. Es war der Leibwächter, der damals im Büro vor dem Bücherregal gestanden hatte, erkannte ich als er durch die Tür trat und neben Grey stand. Hier im Licht der Rohrlampen waren sich die beiden noch ähnlicher.
„Nymeria? Darf ich dir meinen Bruder Jamie vorstellen?“ Er wies auf den jungen Mann neben sich der eine jüngere Ausgabe von ihm selbst war und mir höflich zu nickte. „Wir werden abwechselnd deine Ausbildung übernehmen“
Der junge Mann namens Jamie hatte denselben perplexen Gesichtsausdruck in diesem Moment wie ich.
„Und was für eine Art von Ausbildung soll das sein?“ wollte ich wissen.
Alecs lächeln wurde breiter. „Kampfausbildung natürlich. Wie willst du sonst deine Mutter retten?“
„Ich wüsste da etwas: Fall doch einfach tot um und die Sache ist geritzt“ murmelte ich trotzig. Die Augen des Rebellenführers funkelten gefährlich.
„Du glaubst doch nicht wirklich das Amanda Fox deine Mutter einfach so gehen lässt sobald ich tot bin? Sie wird einen neuen Gegner finden, den sie tot sehen will und mit dir hat sie die perfekte Waffe. Wer würde ein Mädchen wie dich schon für eine Killermaschine halten? Richtig niemand. Sie wird dich immer weiter Morden lassen bis alle ihre Gegner oder du selbst tot bist. Dann sucht sie sich einen neuen der die Drecksarbeit macht“ erklärte er mir mit messerscharfer Stimme. Ich sank betreten tiefer in die Kissen. Das was er sagte Klang einleuchtend.
„Warum bist du dir so sicher das ich dir nicht eines Tages doch ein Messer in die Brust jage? Woher weißt du das ich dir loyal bin? Mit deinem Vorhaben bindest du dir vielleicht selbst eine Schlinge um den Hals?“ erinnerte ich ihn.
„Warum warnst du mich die ganze Zeit vor dir selbst, Mädchen? Vielleicht weil du mich nicht umbringen willst?“ antwortete er mir mit einer Gegenfrage.
Darauf wusste ich nun keine Antwort mehr.
„Dann hätten wir das ja nun geklärt“ meldete sich Jamie zu Wort. „Dein Heiler hat mir gesagt das du nächste Woche hier wieder raus darfst. Ich werde mich also auf die Suche nach einer Wohneinheit für dich machen“ sagte er zu mir gewandt und schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln.
„Eine… ich bekomme eine Wohnung? Allein?“ Sprachlos blickte ich zu ihm auf.
„Ja, allein. Willst du lieber auf den Gängen schlafen? Oder auf dem Dach? Ich würde dir das allerdings nicht empfehlen“ scherzte er und schüttelte den Kopf bevor er sich zur Tür wandte. „Ich werde schon etwas Nettes für dich finden. Es wird kein Luxusapartment sein, aber es wird reichen“
„Ich erwarte eine Penthouse Suite mit Whirlpool und Blick auf den Fox Tower ist das Klar?“ rief ich ihm scherzend nach. Sein Lachen hallte durch den Gang bis die Tür sich schloss.
Nun war ich wieder mit Alec Grey allein der mich abwartend betrachtete.
„Das heißt ihr beginnt eure Wahnsinns Idee schon nächste Woche?“
Er bestätigte meine Theorie mit einem nicken.
„Dann sehen wir uns nächste Woche“
„Willst du mich loswerden?“ Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln.
Ich seufzte. „Wenn du mich schon so fragst: Ja ich will dich loswerden. Ich bin müde und will schlafen“
„Dann mach die Augen zu und schlaf“
„Ich kann nicht schlafen, wenn mir jemand zusieht“ entgegnete ich genervt. „Hast du nichts zu tun? Musst du keine Rebellion planen?“
Er seufzte und wandte sich zur Tür. Als er die Türklinke in die Hand nahm drehte er sich noch einmal lächelnd zu mir. „Schlaf gut, Nymeria“
Zu beginn der darauffolgenden Woche stand wie versprochen Jamie bei mir im Krankenzimmer. In seinen Armen trug er ein Bündel Kleider: Unterwäsche, schwarze Jeans, ein schwarzes T-Shirt, eine schwarze Lederjacke und dazu noch schwarze Schnürstiefel. Wie durch ein Wunder passten mir alle Kleider.
„Also entweder du hast ein magisches Auge für Konfektionsgrößen oder du hattest Glück beim Raten“ bemerkte ich als ich angezogen aus dem Bad trat.
„Ich hatte wohl Glück“ lachte er und zwinkerte mir zu.
Zusammen verließen wir den Krankenflügel und stiegen eine breite Marmortreppe hinauf. Schon nach der zweiten Treppe war ich außer Atem. Jamie legte ein Wahnsinns Tempo vor und ich musste schauen ihm nachzukommen.
Als er mich schnaufen hörte drehte er sich besorgt zu mir und blieb stehen. „Alles in Ordnung?“
„Ja“ schnaufte ich wie ein Walross und hielt mir meine stechende Seite. „Ich bin nur ein wenig aus der Puste“
Skeptisch hob er eine Augenbraue. „Ein Wenig? Du siehst aus als hätte ich dich einen Marathon laufen lassen“
„Ich bin nur ein wenig aus der Übung sonst nichts“ Entrüstet ging ich weiter doch schon bei der nächsten Treppe musste ich wieder stehen bleiben. Meine Seite fühlte sich an als würde jemand mit einem Messer hineinbohren.
„Soll ich dich tragen?“
„Wage es ja nicht?“ zischte ich und kämpfte mich die letzten Stufen hinauf. Oben angekommen tanzten Sterne vor meinen Augen und ich klammerte mich an das Treppengeländer.
„Wir sind da“ stellte Jamie fest und bot mir seinen Arm, den ich zähneknirschend annahm. Vor uns trennte eine dieser großen Flügeltüren, die mich an Krankenhäuser erinnerten, den Gang vom Treppenhaus. Jamie öffnete die schwere Tür und führte mich durch den leeren Gang. Links und rechts von uns sah ich nummerierte Türen. Sie begannen mit der Nummer sechsundfünfzig.
„Du hast die Wohneinheit sechsundsechzig am Ende vom Gang“ erklärte er mir und zog einen Schlüssel aus seiner Jeanstasche. Am Schlüsselbund erkannte ich die eingravierte schwarze Nummer: sechsundsechzig prangte groß darauf. Wir blieben vor der Tür stehen und nach einer Umdrehung schnappte das Schloss auf.
„Et voila: dein Reich“ verkündete Jamie lächelnd und bat mich einzutreten.
Nervös trat ich über die Schwele. Die Wohnung war klein und spartanisch eingerichtet. Der erste Raum war ein kleines Wohnzimmer in dessen Mitte ein graues zweier Sofa stand. Jamie trat hinter mir in den Raum und schaltete das Licht ein. Links von mir war eine weitere Tür. Unwillig trat ich darauf zu und stieß langsam die Tür auf. Ein Doppelbett füllte den Großteil des Zimmers. Weiße Bettlaken lagen feinsäuberlich darauf. Ich drehte mich wieder zu Jamie. Hinter ihm erkannte ich eine weitere Tür die einen Spaltbreit offen Stand. Durch den Spalt erkannte ich eine kleine Wohnküche.
„Wo ist denn hier ein Badezimmer?“ hörte ich mich fragen.
„Hier im Schlafzimmer“ Jamie trat zu mir und zeigte an das Ende des Raums. Neben dem kleinen Kleiderschrank war eine weiter Tür die ich zuvor nicht gesehen hatte. Ich nickte und drehte mich wieder zu Jamie.
„Wo wohnst eigentlich du?“ wollte ich wissen und sah zu ihm hoch. Einen Moment sah er mich erstaunt an.
„Im… im nächsten Stockwerk. Mein Apartment ist Nummer sechsundsiebzig“ stammelte er und schaute auf die Uhr. „Ich werde dich jetzt allein lassen. Morgen komm ich wieder und hol dich ab. Okay? Wir sehen uns morgen, Nemo“ verabschiedete er sich und ließ mich allein zurück in dieser Fremden Wohnung. Ich fühlte mich so allein wie niemals zuvor.