Prolog
Es ist warm am U-See. Sonnenhungrige sonnen sich auf den Liegewiesen, Kinder spielen vergnügt im seichten Strand. Draußen fahren Tretboote über den See. Segler segeln. Ein rotes Tretboot mit der Nummer 57 schwankt. Vier Jugendlichen sind an Bord.
Montag 15:32[1]: Eine Meldung geht ein: Kind von Boot ins Wasser gefallen.
Sofort wird Alarm ausgelöst. Der Junge versinkt im U-See. Freunde und Verwandten springen hinterher – vergebens. Taucherstaffeln aus den umliegenden Städten werden angefordert. Mehrere Boote suchen den See ab. Zwei Hubschrauber suchen die Umgebung ab. Auf dem Parkplatz entsteht Chaos. Entsetzte Besucher verlassen den See, neue wollen hinzu. Nichts geht mehr.
Um 19:30 geht die Meldung ein, dass etwas in 10 Meter Tiefe gefunden wurde.
Erster Akt
Zeit und Ortswechsel.
Es ist 17:30 als sich die Autobahnraststätte füllt. Viele weiße Kleinbusse mit einen roten Streifen stehen in Schlange. Einige sind ausgestiegen um mit anderen zu reden. Die Personen tragen rot. Vorne weg fährt ein Amarok, auch in weiß lackiert mit besagten Streifen. Sein Blaulicht blinkt, der Adler und die gelbe Schrift „LRG“ reflektieren im Licht einer Lampe. Aus dem Kofferraum nimmt der Fahrer eine Fahne heraus. Der Beifahrer hat ein Klemmbrett und einen Stift in der Hand. Langsam schreitet er jeden Wagen ab. Immer mehr der Kleinbusse machen das Blaulicht an und stecken Fahnen in eine Halterung. Kurz redet er mit den Personen in oder vor den Bussen, dann geht er zum nächsten Wagen. Die Dämmerung setzt ein.
Es ist 17:34 und die Autobahnraststätte ist voll. Alle freien Parkplätze sind belegt. Vor einigen stehen sogar auf der Fahrbahn Autos. Der Beifahrer hat nun alle wichtigen Leute gesprochen. Er überprüft noch mal jedes einzelne Fahrzeug und gibt das Ok.
Es ist 17:39: Der Beifahrer hat sich neben den Fahrer gesetzt und schließt die Tür. Alle offenen Türen werden auch geschlossen. Ein Funkspruch wird abgesetzt.
Es ist 17:40. Die Motoren Starten. Die Autos setzten sich in Bewegung, rollen langsam vom Parkplatz. Im Takt blinkt das Blaulicht, die Fahnen für den Konvoi flattern stürmisch.
Der Konvoi fährt die Nächste Abfahrt herunter und dann durch mehrere Städte. Das Blaulicht ist eingeschaltet. Die Passanten bleiben stehen und schauen überrascht zu. Einige Schaulustige setzten sich mit ihren Autos hinter den Konvoi.
Auf der Landstraße fahren die Autos zur Seite, bei der Abfahrt zur Walderstraße gibt es ein Verkehrschaos durch die Kolonne. Sie verlassen die Straße Richtung Schwimmbad, fahren jedoch daran vorbei. In der Punkshausstraße sind schon viele Autos, und ein Schulhof, auf dem Autos parken können, doch dieser ist geräumt und abgesperrt. Eine Person steht an der Einfahrt zum Lehrerparkplatz und schaut sich ein Formular vom Beifahrer an. Dann nimmt er die Hütchen weg und lässt die Wagen passieren. Geordnet fahren sie auf den Schulhof und stellen sich dort wie abgesprochen auf.
Zweiter Akt
18:25 Aula des Gymnasiums: Der Raum ist brechend voll. In den ersten Reihen sitzen ein paar Reporter von den unterschiedlichsten Zeitungen und Radiosendern. An den Seiten stehen ein paar Fernsehkameras. Davor berichten die Korrespondenten die von den Ereignissen im Vorfeld. Drei Personen betreten den Saal. Sie tragen eine rote Hose und eine rote Jacke mit gelben Reflexstreifen an den Ärmeln, dem Brust und Rücken Bereich. Auf dem Klettschild am Rücken steht „TV-Team“ in gelb auf rotem Grund, ebenfalls gelb umrandet. Ihnen folgen zwei weitere Personen, ebenfalls in den roten Klamotten, jedoch mit grünen Westen. Ihr Rückenschild beschriftet sie mit Presse und Pressesprecher. Weiterhin strömen normale Besucher in die Aula und belegen die Stühle oder stehen am Rand, neben und zwischen den Personen aus der Kolonne. Gegen 18:33 wird es dunkel im Saal. Langsam ebben die Gespräche ab. Die Türen sind geschlossen und der Raum total dunkel. Niemand erkennt etwas. Leise und geräuschlos fährt der Vorhang zur Seite. Dahinter sieht man es blau zucken. Von rechts und links abwechselnd wird die Bühne für einen Bruchteil in blaues Licht getaucht, dann ist es dort wieder Dunkel. Ein Stuhl steht mitten auf der Bühne. Daneben ein Glas Wasser. Dann ist es wieder dunkel. Niemand sieht wie eine Person, eine junge Person, die Bühne betritt. Sie hat einen grauen Pulli an mit der großen Aufschrift „Wir retten ehrenamtlich“ Dann leuchtet ein Punktstrahler auf, verfolgt sie. Sie setzt sich auf den Stuhl.
„Eine wunderschönen guten Abend. Sehr verehrtes Publikum. Es freut mich, dass ihr so zahlreich erschienen seid. Ich danke.“
Sein Blick schweifte durch die Reihen.
„Es ist immer wieder sehr anstrengend.“, fing er an und Brach ab.
„Ich zitiere: Schwimmbäder weg hat keinen Zweck! Die Statistiken sind rückläufig gewesen, steigen jetzt wieder an. Dies ist so, da wir vor eine Flüchtlingswelle stehen, sie überwinden. Viele können von ihnen nicht schwimmen. Bis jetzt hatte ich Glück und der Kelch ging an mir vorüber, was einige ärgert wenn es ihnen eben so erfährt. Aber wir müssen rational denken. Wir sind da, wenn was passiert, aber wir sind keine besseren Helden, wenn wir jemanden retten. Wir sind da, weil wir da sind, nicht um ums in der Gesellschaft zu profilieren, angeben zu können. Leider gibt es einige, die gerne viel Action haben möchten, die auch jemanden retten wollen. Ich stehe deshalb manchmal in der Kritik, ich möge nur dazugehören, aber nichts machen. Nein, diesen Vorwurf weise ich entschieden zurück. Es gibt nie ein perfektes Sicherheitskonzept. – Ja. Auch wenn ich jetzt alle beunruhige, aber es gibt nicht das perfekte Sicherheitskonzept, weil man kann den Zufall nicht rational bändigen. Wir können mit einem Großaufgebot eine Veranstaltung beaufsichtigen, wir können mit mehr als zwanzig Mann einen kleinen Tümpel beaufsichtigen, doch wir werden immer einen zu wenig haben, wenn es hart auf hart kommt. Und deshalb kann ich nur an alle appellieren: Lernt Schwimmen! Schickt eure Kinder in den Schwimmkurs. Geht selber ins Schwimmbad, geht mit euren Kindern schwimmen! Steht auf! Nur so werden aus dreihundert keine hundert mehr.
Aber ihr seid nicht nur Schuld. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube ich habe heben unsere Bürgermeisterin erspäht und unseren Landrat. Versprechen Sie mir, dass Sie die Bäder nicht schließen. Kämpfen sie für ihre, für meine, für unsere Mitbürger. Bitte.“
Etwas Flehendes lag kurz in seinen Augen. Dann nimmt er das Glas, führte es zum Mund und trinkt einen kleinen Schluck.
„Die Engel tragen rot. Die Schutzengel tragen rot. Doch es gibt auch gefallene Engel. Heute vor genau drei Jahren sind die Engel gefallen. Die Meldung hat sich in Bergen umformuliert. Es ist einer gefallen und mit ihm die Engel. Wie konnte das passieren? Wie konnten die Taucher die Person finden? Warum die? Warum nicht die anderen. Warum nicht der Gast, oder der Schwimmer? Wieso wurden wir erst so spät nachalamiert als es um die Spezial Kräfte ging? Wo war die Schwimmweste? – Ich spreche nicht von einer Rettungsweste, ja ich meine eine Schwimmweste. All diese Fragen stellt sich die Politik. All diese Fragen stellt sich die Öffentlichkeit. Es wird nach der Schuld gefragt. Es wird der Zweckverband. Es wird die Feuerwehr. Es wird die Lebensrettungsgesellschaft – beschuldigt, angeklagt, verurteilt. Doch wer ist schuld? Wer ist mit schuld?“
Er holt tief Luft.
„Es ist schwer über einen geborgenen zu urteilen, weil eigentlich darf man nur positives sagen. Und daran erkennen Sie meine weiteren Worte, können meine Sätze mit ableiten. – Es ist ein Fakt: diese Person war Nichtschwimmer. Einer von vielen - einer von vielen Nichtschwimmern. Der Algenbewuchs ist sehr groß dort, ja, man kann sich darin verfangen. Zumindest beim Status quo. Ich kenn diesen Ort. Aber ich möchte mich allgemeiner fassen. Es geht darum, dass viele die ertrinken, nicht schwimmen können – gut einige sind in einer körperlichen Verfassung in denen sie es nicht schaffen, aber das ist ein anderes Kapitel. Fakt viele können nicht schwimmen, weil sie es nicht gelernt haben, weil sie nicht die Möglichkeiten dafür haben. Weil sie nicht die Ortschaften haben. Weil sie nicht das Angebot haben. Weil die Schwimmbäder geschlossen sind. Und die Finanzielle Lage oft auch keine andere Lösung zeigt.“
Er schaute kritisch in die Runde und sein Blick kreuzte sich mit einer Person. Sie war etwas dicklich und hatte nur noch einen grauen Kranz an Haaren.
Dritter Akt
„Schwimmbäder Weg! Hat keinen Zweck!“, schreit er. Die Zuhörer zucken zusammen.
„Schwimmbäder Weg! Hat keinen Zweck!“, wiederholt er sich. Seine Stimme ist laut und deutlich. Im leichten Befehlston, der keine Diskussion zulässt.
„Und es mangelt immer an einer Person!“, fügt er mit unheimlicher Stimme hinzu, so dass jeder eine Gänsehaut bekommt. Dann wird es dunkel auf der Bühne. Der Saal wird dunkel. Stille herrscht. Alle denken über das nach, was der so junge Redner, der Redner, von sich gegeben hatte. Niemand bekommt mit wie sich der Vorhang schließt. Niemand bekommt mit, wie eine dickliche Person mit einem grauen Haarkranz die Bühne betritt und dem Redner die Hand reicht.
„Und?“, fragt der Redner.
„Ich werde gleich noch mal telefonieren[2].“, sagte der Mann.
„Meine volle Achtung vor dir und deiner Arbeit. Ich kann mich nur verneigen.“, sagte der Redner, „Wenn ich dich irgendwohin fahren kann, sag bitte Bescheid.“
„Nein, die Öffentlichkeitsarbeit ist auch wichtig. Du weißt was du zu tun hast.“, ich zähle auf dich.
„Ich auf dich.“
Epilog
Sie verlassen die Bühne. Die Menschenmenge hat dieses Gespräch noch gehört. Wenn auch nicht genau, und jedes Wort verstanden. Sie hat jedoch so viel mitbekommen, dass sie weiß, dass es um etwas Wichtiges geht. Die Presse hat zum Glück schon die Kameras und die Tonaufnahmen abgeschlossen oder unterbrochen für ein abschließendes Statement, dem sich der Redner auch stellte. Dies tut er in solch einer Ausführlichkeit und bietet das offene Gespräch mit allen an, dass niemand mitbekommt wie die weißen Busse vom Hof fahren. Und doch wird die Zukunft zeigen, dass wieder nur noch eine Person fehlte.
1. Anspielung auf Freytags Dramentheorie
2. LRG= Lebensrettungsgesellschaft
3. Rot ist häufige einsatzklamottenfarbe der Rettungskräfte
4. Weiß-rote Farbkombinationen ist neben besch für private Rettungsorganisationen fast einheitlich
5. Man darf sich den Redner nicht vorstellen.
6. Viele Erfahrungen und bezüge aus dem persönlichen Leben wurden gestrichen um den Text zu verallgemeinern.
7. Der Prolog ist eins von vielen "ähnlichen" Beispielen für das Problem, welches übergeordnet ist, und welches sich nicht eindeutig und gut projezieren lässt.
[1] http://m.rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/obduktion-13-jaehriger-ist-ertrunken-aid-1.3523861 (Aufgerufen am 10.9.17)
[2] Telefongespräche mit dem Krieseninterventionsteam für Einsatzbetreuung und Nachbereitung. Ein Angebot der DLRG (LV Nordrhein vor allem), um eine belastende Situation zu bewältigen und eine Konstruktive Auseinandersetzung mit einer Lösungsfindung zu gewährleisten. [Quelle DLRG Landesverband Nordrhein e.V.]