Das Einhorn flog den Hang mit halsbrecherischer Geschwindigkeit herunter. Das Leuchten an der Spitze von Cirdrims Stab war das einzige Licht in der Dunkelheit. Kat klammerte sich an den schweren Samtmantel ihres Mentors, während sie hinter sich den Jagdruf der Vampire hörte. Es war ein hohes Kreischen, das ihr durch Mark und Bein ging. Die Meute hatte die Jagd aufgenommen.
„Halte dich fest!“, warnte Cirdrim. Kaithryn presste die Beine an den Leib des Einhorns. Im nächsten Moment machte das weiße Pferd einen kräftigen Satz nach vorne und oben, um auf irgendeinem unsichtbaren Hindernis zu landen.
Cirdrim drehte sich nach hinten – Kat wäre beinahe vom Einhorn gerutscht, als auch der Mantel sich verschob, an den sie sich klammerte.
Cirdrim zügelte das Einhorn und das weiße Pferd blieb neben einem hohen Felsen stehen.
„Sie folgen uns nicht. Sieht aus, als müssten wir schwerere Geschütze auffahren. Kletter nach vorne.“
„Was hast du vor?“, fragte Kaithryn.
„Ich zwinge sie, uns zu folgen. Jetzt mach schon, rasch, oder wir kommen zu spät.“
Der Felsen, neben dem sie gehalten hatten, war etwas niedriger als der Pferderücken. Kaithryn konnte darauf steigen, nach vorne gehen und sich vor Yrsa Cirdrim in den Sattel setzen.
„Nimm die Zügel“, befahl ihr Meister. Plötzlich hielt er einen kleinen Dolch in den dunklen Händen, das Metall schimmerte kalt.
Kaithryn ergriff die Zügel und drehte sich wieder um. „Meister, was -?“
Sie stockte mitten im Satz. Cirdrim zog den Dolch mit einer kräftigen Bewegung über seine Handfläche. Blut trat aus der Wunde aus.
In Kats Ohren kitzelte es plötzlich, als die Vampire einen zweiten Jagdschrei ausstießen, zu hoch diesmal, als dass menschliche Ohren ihn hören konnte.
„Vorwärts!“, brüllte Cirdrim gleich darauf und Kat schlug die Fersen in die Seiten des Einhorns. Das weiße Tier sprang mit einem protestierenden Wiehern vorwärts. Die Felsen flogen zu beiden Seiten davon, doch in der Dunkelheit wirkte die Geschwindigkeit unwirklich. Kat hörte den Wind in den Ohren und spürte die Bewegungen des Pferdes unter sich, doch alles kam ihr wie ein böser Traum vor. Sie fragte sich, ob sie bei diesem Tempo ein Hindernis sehen würden, bevor sie hinein ritten. Und ob sie sterben könnten, wenn sie in vollem Galopp in eine Felswand rannten.
„Reite nach unten!“, wies Cirdrim sie an und Kat zerrte an den Zügeln. Das Einhorn schnaubte und riss den Kopf hin und her, folgte Kats Anweisungen aber.
„Schneller!“, spornte sie das weiße Tier an. „Schneller!“
Sie warf einen Blick nach hinten. Cirdrims Stab tauchte die Berge in geisterhaftes Licht, doch sie konnte übermenschlich schnelle Schatten sehen, die sie einzuholen drohten. Niedere Vampire, die primitivsten ihrer Art, doch deshalb nicht weniger gefährlich. Eine ganze Horde folgte ihnen nah am Boden, weitere waren in der Luft über ihnen. Doch Vampire waren am Boden schneller, also wurden die im Himmel zusehends weniger.
Gestalt gewordene Schwärze bebte am Boden, Klauenhände mit langen Krallen schälten sich aus der rabenschwarzen Wolke und griffen nach den Fesseln des Einhorns. Der Geruch nach frischem Blut hatte die Vampire rasend gemacht.
„Jetzt nach oben, schnell!“, brüllte Cirdrim.
Kat riss an den Zügeln. Das Einhorn rutschte einige Sekunden auf dem Schotter, dann sprengte es einen steilen Weg hinauf. Das Tier gab kein Geräusch von sich, doch Kat spürte, dass das Einhorn an seine Grenzen ging.
Plötzlich schoss etwas von der Seite heran. Kat sah nur einen dunklen Schemen, dann spürte sie einen Windzug im Rücken.
Wenig später hörte sie ihren Lehrmeister schreien.
„Meister Cirdrim!“, rief sie und wandte den Kopf. Der Zauberer schlug ihr mit der Faust gegen das Kinn und zwang sie, die Augen wieder auf den Weg zu richten. Das Licht des Zauberstabs glühte hell auf wie eine kleine Sonne. In seinem Schein sah Kat einen tiefen, schwarzen Streifen, der sich vor ihnen quer über den Weg legte und von keinem Licht erfasst wurde. Eine Schlucht!
Sie schrie und zerrte an den Zügeln, um das Einhorn aufzuhalten, doch das weiße Tier senkte den gehörnten Kopf und wurde noch schneller. Dann sprang es ab.
Kaithryn beugte sich dicht über die volle, weiße Mähne. Ihr Kinn schmerzte von dem Schlag. Die blonden Haare fielen ihr in die Augen und ihr Brustpanzer und das Schwert ihres Vaters fühlten sich in diesen wenigen Sekunden der Schwerelosigkeit wie bleierne Gewichte an, die sie unweigerlich in die Tiefe zerren mussten.
Das Einhorn neigte sich im Sturz und die Kante der Schlucht rückte näher. Könnten sie es schaffen?
Ein harter Ruck ging durch das weiße Tier und Kat wurde aus dem Sattel geworfen. Sie flog durch die Luft, schlug mit der Schulter hart auf dem Boden auf und rollte dann weiter über spitzen Kies, bis sie endlich zum Liegen kam.
Stöhnend richtete sie sich auf die Ellbogen auf. Sie fühlte sich zerschlagen. Im Fallen hatte sie sich auf die Lippe gebissen. Dabei hatte Cirdrim sie immer wieder ermahnt, in Stresssituationen nicht auf ihrer Lippe zu kauen.
Cirdrim! Wo war er?
Das Licht war erloschen und Kat war sich nicht sicher, ob sie nicht für eine Weile ohnmächtig gewesen war.
„Meister?“, rief sie leise. Wo waren die Vampire? Sie tastete nach ihrem Schwert und fühlte den vertrauten, kalten Griff, etwas zu groß für ihre Hände. Sie zückte die Waffe und stand unsicher auf.
„Meister Cirdrim?“
Ein schwaches Licht leuchtete auf, doch es stammte nicht von ihrem Meister. Das Einhorn kämpfte sich gerade schnaubend auf die Hufe, das Licht strömte aus dem weißen Horn des Tieres. Einen Moment warf das Tier Kat einen hochmütigen Blick zu, dann wandte es ihr den Rücken zu und trottete an den Rand der Schlucht. Das schwache Licht schälte die Vampire aus der Dunkelheit, eine totenstille Reihe schwarzer Gestalten. Nur ihre Haare und Mäntel bewegten sich im Wind. Kaithryn zitterte vor Kälte. Warum griffen die Vampire nicht an? Die Schlucht vermochte sie wohl kaum aufzuhalten!
Das Einhorn schnaubte, stieg auf die Hinterbeine und stieß das Horn in den Himmel, dessen Licht noch heller strahlte. Einige Vampire machten einen Schritt nach hinten.
Dann sprang das Einhorn nach vorne. Das Leuchten explodierte. Ein heller Blitz blendete Kat und eine Druckwelle warf sie wieder auf den Rücken. Sie stöhnte, als ihre malträtierten Knochen wieder geprellt wurden. Doch auf der anderen Seite der Schlucht erklangen schreckliche Schreie.
Kat warf sich herum, aber alles Licht war erloschen. Das Einhorn konnte diesen zweiten Sprung niemals überlebt haben, nicht ohne Anlauf. Doch sie erinnerte sich, im Licht einen schmalen Gegenstand auf dem Boden liegen gesehen zu haben. Blind, nur auf ihre Erinnerung vertrauend, kroch Kat darauf zu. Ihre tastenden Finger trafen auf Widerstand. Was war mit den Vampiren, fragte sie sich, während sie die Fackel zu sich heran zog. Waren sie tot?
Das Holz der Fackel war kalt, aber trocken. Kaithryn hielt sie vor sich und versuchte, ihren panischen Atem zu beruhigen. Sie umklammerte das Holzstück mit beiden Händen und konzentrierte sich auf den warmen Strom im Inneren.
Mit einem leisen Seufzen ging die Fackel an und Kaithryn atmete so erleichtert aus, dass sie ihre Lichtquelle um ein Haar ausgepustet hätte.
Wieder stand sie auf, diesmal leuchtete sie zur Schlucht. Auf der anderen Seite war nichts zu sehen, kein Vampir, selbst der Schotter war von einer unsichtbaren Macht zur Seite geblasen worden.
„Meister Cirdrim?“, rief sie wieder und sah sich suchend um.
„Hier … Kind“, erklang eine schwache Stimme aus dem Dunkel hinter ihr.
Kat wirbelte herum und stolperte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
Ihr Meister lehnte mit dem Rücken an einem großen Felsen. Die beiden dünnen Streifen seines Schnauzbartes waren mit Blut verklebt, und Blut sickerte auch aus einer Platzwunde an seiner Schläfe, rann über sein Gesicht und den Hals herab, um im Kragen des schwarzen Oberteils zu verschwinden. Das Gewand war am Bauch zerrissen und mehr Blut lief über die dünnen Finger des Zauberers, der versuchte, die Wunde irgendwie geschlossen zu halten. Etwas hatte ihm eine tiefe Schnittwunde zugefügt.
„Meister!“, stammelte Kaithryn und fiel neben ihm auf die Knie, die Fackel ließ sie auf den Boden fallen. „Oh, ihr Götter!“
Sie streckte die zitternden Finger nach der Wunde aus, zog sie dann zurück, als hätte sie sich verbrannt. Ein überwältigendes Gefühl der Hilflosigkeit überkam sie.
Cirdrim lächelte schwach. Seine Zähne waren rot verfärbt. „Das war … eine gute Ablenkung!“
„Meister!“ Kaithryn sah sich suchend um. „Das Einhorn, es kann dich heilen, wo ist das Einhorn?“
„Fort“, sprach Cirdrim schwerfällig. „Ich denke, es … fiel in den Fluss … am Grund der Schlucht … es … kehrt zum Meer zurück.“
„Aber … nein!“ Tränen stiegen Kat in die Augen und liefen unkontrolliert über ihre Wangen. Der Fluss!, erkannte ein Teil von ihr, der sich von dem Geschehen abgekapselt hatte und offenbar seiner eigenen Wege ging: Am Grund der Schlucht fließt ein Fluss, deswegen konnten die Vampire nicht herüber. Und das Einhorn hatte sie vollends vernichtet.
„Yodda! Sie wird wissen, was zu tun ist! Ich muss nur Yodda holen -“ Kat wollte aufspringen, doch Cirdrim packte ihre Hand und hielt sie mit erstaunlicher Kraft fest.
„Still, Kaithryn. Beruhige dich. Es gibt nichts mehr, dass du noch tun kannst.“
„Nein! Ich … ich werde -“
„Still, habe ich gesagt.“ Cirdrim verzog vor Schmerz das Gesicht. „Es tut mir leid, Kaithryn. Du musst … mir jetzt zuhören.“
Kat atmete zitternd durch und nickte. In ihrem Hals steckte ein Kloß, der es ihr unmöglich machte, noch etwas zu sagen. Unmöglich, schrie etwas in ihr. Cirdrim war ein unsterblicher Elb, der mächtigste Magier aller Zeit. Er konnte jetzt nicht einfach … Gleich würde er einen Trick aus dem Ärmel schütteln, ihr sagen, wie sie ihn retten konnte.
Cirdrim griff in seinen Kragen und zog mit einiger Mühe eine Kette hervor. Daran hing ein Anhänger in Gestalt eines stilisierten, fliegenden Vogels, geschnitzt aus einem einzigen Stück eines violetten Specksteins. „Mein Amulett …“, sagte Cirdrim langsam. „Nimm es und … such dir einen neuen Meister. Du kannst … ihn damit bezahlen.“
Schwach zog Cirdrim an der Kette. Kaithryn sah einen Moment zu, dann riss sie sich zusammen und streckte die Hände aus. Liebevoll löste sie den Verschluss der Kette und nahm das Amulett an sich. Sie strich über den glatten Stein.
„Ich hätte … dich gerne … weiter ausgebildet.“ Cirdrim kämpfte um jedes einzelne Wort. Doch seine Augen blickten scharf wie immer. Er hob eine Hand und legte sie sanft an Kat Wange. „Weine nicht … um einen alten Elb.“
Diese Worte, die Endgültigkeit von ihnen, brachen den Damm in Kats Innerem und sie schluchzte auf. Das konnte nicht wahr sein, durfte nicht wahr sein …
Dann griff er mit seinen großen Händen Kaithryns und umschloss das Amulett mit ihnen. „Gib es nur jemandem, der seiner würdig ist. Einem großen Magier, weise und gut. Es ist ein mächtiges Amulett, Kaithryn.“
Cirdrims Augenlider flackerten, dann richtete er den Blick wieder auf sie: „Versprich mir … versprich mir, dass du auf das Amulett aufpasst. Gibt es nicht an … an jemanden … an jemanden, der damit Böses tut. Versprichst du mir das?“
„Ich … ich verspreche es, Meister!“ Kaithryn brach nun vollends in Tränen aus. Sie fasste den Mantel ihres Lehrmeisters und presste das Gesicht an seine Brust. „Geh nicht! Bitte, lass mich nicht allein!“
Yrsa Cirdrim hob die Hand und strich ihr über die kurzen Haare, seine Hand kam auf ihrem Kopf zum Stillstand. „Du bist nicht … allein. Kaithryn.“
Sie sah zu ihm auf, als die Hand kraftlos nach unten sank. Dann fielen seine Augen zu und es war, als würde ein Licht in seinem dunklen Gesicht erlöschen. Die Fackel flackerte, ihr Schein ließ die tiefen Falten in Cirdrims hagerem Antlitz hervortreten. Die dürre Hand des Magiers fiel kraftlos auf den Boden.
„Nein!“, heulte Kaithryn auf. Sie packte ihren Meister an den knochigen Schultern und rüttelte ihn. „Nein, Meister Cirdrim! Yrsa! Bitte, verlass mich nicht!“
Doch sie sollte keine Antwort erhalten.
~ ⁂ ~
Aidalos trabte flott über die Ebene. Umringt von den Bergen lag ein großes, flaches Tal, einer der bestgeschützten Orte der Welt. Der Boden war gerade unnatürlich flach, mit Stellen von grünem Gras und nackter, festgetrampelter Erde, die sich bis zu den Hängen der Berge erstreckte.
Nylian hatte keinen Blick für die Schönheit. Während Yodda und Colum in der Zeltstadt versorgt wurden, hatte er sich in Aidalos' Sattel geschwungen und ritt nun zurück zu den Bergen. Mit verengten Augen spähte er über die Ebene.
Dort! Eine einsame Gestalt, selbst für Elfenaugen kaum zu erkennen, stolperte über das Grasland.
„Los, mein Freund!“, flüsterte Nylian und beugte sich nach vorne. Der tapfere Aidalos fiel in einen raschen Galopp. Das Licht der untergehenden Sonne spiegelte sich in dem Brustpanzer, den die Gestalt trug. Es war tatsächlich Kaithryn. Sie hob den Blick, als sie den Hufschlag hörte.
„Kat!“, rief Nylian.
Sie antwortete nicht, sondern fiel auf die Knie. Nylian ritt zu ihr und glitt aus dem Sattel, um sie in seine Arme zu ziehen. Das Mädchen sah furchtbar aus. Ihre Kleidung war schmutzstarrend und blutbefleckt, die blonden Haare zerzaust und tiefe Schatten lagen unter ihren goldbraunen Augen. Sie hatte geweint und war nun, da Nylian sie gefunden hatte, erneut den Tränen nah.
„Was ist passiert?“, fragte er entsetzt.
„Cirdrim, er … er ist tot“, hauchte Kat. Sie zitterte bei der Erinnerung an die letzte Nacht. „Die Vampire … und das Einhorn ist auch fort.“
Nylian wusste nicht, was er sagen sollte. Yrsa Cirdrim tot? Das war, als würde ein Berg plötzlich verschwinden. Der Magier war uralt gewesen!
„Komm.“ Er zog Kat vorsichtig auf die Beine. „Es ist nicht mehr weit bis zum Lager. Dort gibt es eine Strohmatratze und Wasser und Essen.“
Kat ließ sich willenlos zum Pferd führen und kletterte steifbeinig auf Aidalos' Rücken. Bald trabte der Hengst der Zeltstadt entgegen, mit hoch erhobenem Kopf, als könnte er das frische Stroh schon riechen.
Nylian hielt Kaithryn im Arm wie ein Kind. Sie starrte trübsinnig nach vorne und spielte mit einem Gegenstand, den sie in den Händen hielt.
Nylian schluckte, als er Yrsa Cirdrims Kette erkannte. Er drückte Kat fester an sich.